SARS-CoV-2-Präventionsmassnahmen bei Schulbeginn nach den Sommerferien, 06.08.2020

Stellungnahme der Ad-hoc-Kommission SARS-CoV-2 der Gesellschaft für Virologie:

In den vergangenen Wochen erfolgte ein Anstieg der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2. Da in einigen Bundesländern bald die Ferien enden bzw. gerade zu Ende gingen, mehren sich die Sorgen um die beschlossenen Öffnungen des Schulbetriebs. Nach heutigem Wissensstand verlaufen Infektionen mit SARS-CoV-2 bei Kindern in der überwiegenden Mehrheit mild, mit deutlich geringeren Raten an Hospitalisierung, Komplikationen und Todesfällen als bei Erwachsenen. 

Wir befürworten jede Maßnahme, die dem Zweck dient, die Schulen und Bildungseinrichtungen in der kommenden Wintersaison offen zu halten. Nicht nur die Entlastung für berufstätige Eltern, sondern auch das Wohlergehen der Kinder sind unabdingbar an einen funktionierenden Schulbetrieb gebunden. Der Schulbetrieb muss jedoch an pragmatische Konzepte gekoppelt sein, die das Risiko der Infektionsausbreitung an Schulen eliminieren oder zumindest deutlich reduzieren können. Für eine wirksame Unterdrückung der Virusausbreitung in der Gesamtgesellschaft bleibt es auch weiterhin eine Grundvoraussetzung, die Viruszirkulation in den Schulen niedrig zu halten. Gleichzeitig ist eine effektive Kontrolle der Neuinfektionen in der Umgebung der Schulen, also dem privaten Umfeld von Schülern und Lehrkräften, die beste Prävention für die Eintragung des Virus in die Schulen. 

Wir warnen vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und in der Übertragung spielen. Solche Vorstellungen stehen nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Fehlende Präventions- und Kontrollmaßnahmen könnten in kurzer Zeit zu Ausbrüchen führen, die dann erneute Schulschließungen erzwingen. Eine Unterschätzung der Übertragungsgefahren an Schulen wäre kontraproduktiv für das kindliche Wohlergeben und die Erholung der Wirtschaft.

Infektionsraten bei Kindern und deren Rolle in der Pandemie sind bisher nur unvollständig durch wissenschaftliche Studien erfasst. Neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen und konkrete Beobachtungen in einigen Ländern deuten darauf hin, dass die initial teilweise angenommene, minimale Rolle von Kindern in Frage gestellt werden muss. Die Mehrheit der frühen Studien wurden unter den (Ausnahme-)Bedingungen weitgreifender kontaktreduzierender Regelungen (sogenannter „Lockdown“) mit Schulschließungen oder in der Zeit der niedrigen Grundinzidenz unmittelbar nach dem Lockdown in Deutschland durchgeführt. Sie haben somit als Entscheidungsgrundlage nur einen eingeschränkten Aussagewert für die in naher Zukunft zu erwartende Situation in Deutschland. Unter bestimmten Umständen kann es sein, dass Kinder einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Infektionen mit SARS-CoV-2 ausmachen. Inzwischen liegt der prozentuale Anteil von Kindern an der Gesamtzahl der Neuinfektionen in Deutschland in einer Größenordnung, die dem Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung entspricht.1

Die bekannte Inzidenz der SARS-CoV-2 Infektion zeigt das tatsächliche Infektionsgeschehen in der Bevölkerung nur mit Verzögerung an. Kontrollmaßnahmen gegen ein dynamisches Infektionsgeschehen unterliegen grundsätzlich einer Latenz. Wir neigen daher zu einer vorsichtigen Grundhaltung bei der Interpretation der wissenschaftlichen Datenlage. Fälle bei Kindern könnten in der Anfangsphase der Epidemie übersehen worden sein, da vor allem bei Symptomatik getestet wurde und die Symptome bei Kindern allgemein geringer ausgeprägt sind. Es hat sich zwischenzeitlich herausgestellt, dass sich die Viruslast bei Kindern hinsichtlich der nachweisbaren RNA-Konzentrationen in Abstrichtupfern nicht (oder nicht in klinisch relevantem Maß) von der Viruslast Erwachsener unterscheidet.2-5 Belege der Aussagekraft der Viruslastmessung für den Nachweis von tatsächlich infektiösem Virusmaterial liegen inzwischen vor.6-8 Schwierig ist weiterhin die Interpretation der Daten zur eigentlichen Übertragungshäufigkeit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen. Ergebnisse aus einigen sorgfältig durchgeführten Haushaltsstudien zeigten, dass Kinder etwa gleich häufig infiziert waren wie Erwachsene.9,10 Unklar bleibt die Häufigkeit einer von Kindern ausgehenden Übertragung. Eine neue umfassende Beobachtungsstudie aus Italien legt nahe, dass von Kindern in erhöhtem Maße Infektionen ausgehen, was die Autoren auf deren intensiveres Kontaktverhalten zurückführen.11 Eine Studie von Zhang et al. konnte zeigen, dass Kinder, trotz höherer angenommener Kontaktraten, eine etwa gleich hohe Infektionshäufigkeit wie Erwachsene hatten, woraus eine geringere Empfänglichkeit von Kindern abgeleitet wurde.10 Eine Modellierungsstudie aus Israel schätzt anhand statistischer Rekonstruktionen von wahrscheinlichen Übertragungsverläufen, dass Kinder etwa halb so empfänglich für die Infektion wie Erwachsene sind.12 Während diese Studien auf Haushaltsbeobachtungen basieren, gibt es allerdings nur wenige Daten aus der tatsächlichen Schulsituation. In einer neueren Studie aus Südkorea wurde für Schüler im Altersbereich der weiterführenden Schulen (10-19 Jahre) eine vergleichbare Übertragungshäufigkeit wie bei Erwachsenen nachgewiesen, auch wenn meist nur geringe oder keine Symptome auftraten.13 Eine Studie aus Australien untersuchte 12 Kinder und 15 Erwachsene, die jeweils während ihrer infektiösen Phase (gezählt ab Tag 2 vor Symptombeginn) am Schul- und Kitabetrieb teilgenommen hatten. Bei 633 im Labor getesteten Kontaktpersonen fanden sich 18 Folgeübertragungen. Diese Zahl ist nicht als gering zu bewerten, weil bei Bekanntwerden jedes einzelnen primären Falls eine sofortige Heimquarantäne des gesamten Klassen-/Gruppenverbands und eine sofortige ca. zweitägige Schließung der gesamten Einrichtung erfolgte, und die Schulen ohnehin nur während der Hälfte der Studienperiode im Präsenzbetrieb waren.14
Beispiele von tatsächlichen SARS-CoV-2-Clustern an Schulen in Israel und Australien untermauern das gegebene Risiko von Ausbruchsgeschehen im Bildungsbereich, insbesondere bei einem verstärkten Gesamt-Infektionsgeschehen in der Bevölkerung.15,16 

Eine der wichtigen neuen Erkenntnisse zu SARS-CoV-2, die bei der Schulöffnung bedacht werden müssen, betrifft die inzwischen anerkannte Möglichkeit der Aerosolübertragung, also die Übertragung durch die Luft, insbesondere in Innenräumen bei unzureichender Luftzirkulation17. Je mehr Personen sich in einem geschlossenen Raum befinden und je länger die dort verbrachte Zeitspanne ist, desto grösser ist das Risiko einer Übertragung.
Bezogen auf die Schulöffnung im Herbst bedeutet dies, dass zusätzliche Maßnahmen getroffen werden sollten, um Übertragungsrisiken in Schulen zu minimieren. Dazu gehört beispielsweise, die Klassengrößen abhängig von der Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren, räumliche Ressourcen auszuschöpfen und pragmatische Lösungen für einen verbesserten Luftaustausch in öffentlichen Gebäuden wie Schulen zu finden. Die Umsetzung technischer Maßnahmen zur Sicherstellung eines ausreichenden Raumluftwechsels liegt nicht im Kompetenzbereich der Infektionswissenschaften. Hierzu ist die Einbindung technischer Fachexpertise dringend erforderlich.   
In Bezug auf den Klassenverband sollten aus virologischer Sicht feste Kleingruppen inkl. Lehrpersonal definiert werden mit möglichst geringer Durchmischung der Gruppen im Schulalltag. Unterrichtseinheiten könnten möglichst breit per Kleingruppe über verschiedene Tageszeiten und Wochentage verteilt werden. Digitale Lösungen mit einem Mix aus Präsenzunterricht und Heimarbeitseinheiten könnten weitere Möglichkeiten bieten, räumliche Kapazitäten zu entlasten.
Sollte es gegen Jahresende zu einem kritischen Anstieg der Neuinfektionen mit regelmäßiger Beteiligung von Bildungseinrichtungen kommen, sollte eine Ausdehnung der Weihnachtsferien diskutiert werden, um die Zeiten mit höchster Infektionsaktivität zu verringern. Insbesondere eine Ausdehnung in das neue Jahr erscheint sinnvoll, vor allem auch, weil es über Weihnachten durch feiertagsbedingte Reisetätigkeit und Familienfeiern vermutlich zu einer weiteren Zunahme der Infektionsrisiken kommen kann.

Die Evidenz zur Schutzwirkung bei konsequentem und korrektem Einsatz von Alltagsmasken hat in der Zwischenzeit zugenommen.18, 19 Im Hinblick auf die reale Gefahr der Übertragung zwischen Schülern, die zum Zeitpunkt der Infektiosität (noch) keine Krankheitssymptome haben, sprechen wir uns aus alleiniger virologischer Sicht daher für das konsequente Tragen von Alltagsmasken in allen Schuljahrgängen auch während des Unterrichts aus. Dies sollte begleitet werden durch eine altersgerechte Einführung der Kinder in die Notwendigkeit und den Umfang von Präventionsmaßnahmen. Selbstverständlich sollte eine konsequente Händehygiene beibehalten werden, auch wenn die Übertragung durch Oberflächen wahrscheinlich initial überschätzt und die aerogene Übertragung unterschätzt wurde. Hier sollten die Empfehlungen der ersten Jahreshälfte nachgearbeitet werden. Maßnahmen in den Bereichen Tröpfchen-, Aerosol- und Kontaktübertragung sind nicht gegeneinander austauschbar. 

Schüler mit einer akuten Atemwegsinfektion sollten auch bei milden Symptomen labordiagnostisch abgeklärt werden, wenn dies möglich ist, weil sie als Anzeiger von Übertragungsherden (Clustern) eine unverzichtbare Rolle in der Früherkennung von Schulausbrüchen spielen. Bis zum Testergebnis sollten sie dem Schulbetrieb fernbleiben. Eine labordiagnostische Abklärung könnte durch niedergelassene Ärzte oder speziell eingerichtete Teststellen erfolgen. Eine besonders niedrigschwellige Testung sollte für das Lehrpersonal sichergestellt sein. Das organisatorische Ziel bei der Testung von Schülern und insbesondere Lehrpersonal sollte eine Befundübermittlung innerhalb von 24h nach Probennahme sein. 

Positiv getestete Schüler und Lehrer sind Indikatorfälle für Übertragungscluster. Für die Behandlung von Übertragungsclustern könnte eine generelle und sofortige Kurzzeitquarantäne in Betracht gezogen werden. Die sofortige Isolierung von Clustern hat sich in Japan in der Eindämmung der ersten Welle bewährt.20,21 Sie ist auch durch die Empfehlungen des RKI vorgesehen, jedoch ist die Umsetzung in der Praxis oft durch den Wunsch nach einstweiliger diagnostischer Abklärung des Ausmaßes einer Clusterübertragung verzögert. Zur Prävention größerer Schulausbrüche ist aber eine sofortige zumindest kurzzeitige Quarantäne des gesamten Sozialverbands erforderlich.  Am Ende einer Kurzzeitquarantäne könnte eine „Freitestung“ der Mitglieder des Clusters erfolgen, d. h. eine weitere Quarantäne wäre dann nicht mehr nötig. Wichtig ist hierzu die Schaffung kontinuierlicher, sich nicht überschneidender Sozialgruppen (i.d.R. Klassenverbände) im Schulbetrieb. Die Notwendigkeit einer Kurzquarantäne bei Nachweis einer Infektion im Klassenverband sollte im gesamten Schulbetrieb bekannt sein und durch die jeweilige Schulleitung in sofortiger Abstimmung mit dem zuständigen Gesundheitsamt umgesetzt werden. 

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Duft

Die zweite Blüte der roten Kletterrose hat einen schweren süßen Duft, heute mit einer deutlichen Note von Gulasch Wiener Art. Wunderbar!

Corona-Demos : Nicht schon wieder zuhören

Von David Hugendick

Wenn ein paar Tausend Verschwörungstheoretiker durch Berliner Straßen ziehen, soll eine Öffentlichkeit wieder "endlich zuhören". Es ist allerdings völlig unklar, warum.

Ein kurzes fiktives Beispiel: Im Literarischen Quartett haben drei Leute einen aktuellen Familienroman gelesen und diskutieren kontrovers darüber. Ein Vierter kennt das Buch nicht und ruft unentwegt "Hanuta!" oder "Ich bin ein Habicht!" dazwischen, bis ihn die anderen fragen, ob er den Roman denn gelesen habe, woraufhin er sich beschwert, seine geäußerte Meinung zum Roman werde von einer Geheimregierung unterdrückt. Sonst passiert ihm eigentlich nichts. Er wird nur nicht wieder eingeladen, und der Abend ist dann auch endlich vorbei.

Nun zu etwas Ähnlichem: Durch Berlin liefen am vergangenen Samstag 17.000 bis 20.000 Menschen – so genau kann man das nicht sagen –, die offenbar unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung sind, wobei man das auch nicht so genau sagen kann. Allerdings kann man sagen, dass 17.000 oder 20.000 Menschen weniger sind als im Normalfall zu einem Fußballspiel von, sagen wir, Werder Bremen kommen. Dies nur zur Größenordnung.

Die Bilder von der Demonstration beschäftigen seither dennoch sowohl politische Kommentatoren und etliche Nutzer sozialer Medien. Einerseits weil viele diese schutzmaskenfreie Versammlung für rücksichtslos und gesundheitlich bedenklich hielten; andererseits wegen ihres kuriosen Schauwerts, da dort rechtsextreme Reichsbürger, AfD-Mitglieder, selbst ernannte Querdenker und Verschwörungstheoretikerinnen neben ökobewegten Impfgegnern, Hebammenaktivistinnen und Menschen mit ProAsyl-Rucksäcken und Regenbogenfahnen zu sehen waren. 

Angesichts dieses Symbolsalats rieben sich vor allem manche die Augen, die seit Jahren mit gewisser Theatralik eine in irgendwie rechts und irgendwie links gespaltene Gesellschaft beschwören, als funktioniere jene so eindeutig wie die Dramaturgie der West Side Story. Wollte man das verbindende Element dieser Gruppen ausmachen, so wäre es wohl Wissenschaftsfeindlichkeit in unterschiedlichen Ausprägungen: von betulich esoterisch oder zweifelnd bis hin zum stark vertretenen weinerlich brutalen Extrem, das der rechtsradikale Meinungssuperspreader Attila Hildmann so öffentlichkeitswirksam vorlebt, dass ihm manche Journalisten mittlerweile einfühlsame Psychogramme widmen.

Seit Pegida ein etabliertes Reaktionsmuster

Nach der Berliner Demonstration hieß es nun öfter, man dürfe die Teilnehmer nicht aus der Debatte ausgrenzen; selbst wenn einige von denen unter den notorischen "Lügenpresse"-Rufen herumliefen, manche Plakate hielten, auf denen sie die Schutzmaske mit dem Judenstern der Nazizeit gleichsetzten, und sonst noch lebhaft mitteilten, was in ihren Telegram-Gruppen so an Aberglauben zu finden ist. In einem Kommentar forderte zum Beispiel die Berliner Zeitung jedenfalls: "Hört zu, statt zu verbieten!" Spätestens seit den rechtsextremen Dresdener Pegida-Demonstrationen hat sich dieses Reaktionsmuster etabliert. Es ist die politische und journalistische Formel der vergangenen Jahre.  

Nun kann man diesen Satz ("Hört zu!") zunächst in seiner koketten Unbestimmtheit befragen: Wem denn? Wer soll denn? Und wie lange überhaupt? Und haben die Demonstranten nicht genau deshalb bereits ihr Demonstrationsrecht genutzt, damit alle anderen die Sätze hören und lesen, die sie rufen und auf Plakate geschrieben haben?  

Offenbar genügte das nicht, da es hier wohl um das Tiefenmanagement von Emotionen geht. Dafür war früher einmal ausschließlich die Psychotherapie zuständig. Heute sind es wohl vorrangig Politikerinnen und Zeitungen, die sich vor allem dann um den Seelenhaushalt der Mitbürger sorgen, wenn diese sich zu größtenteils reaktionären oder zumindest regressiven Anlässen versammeln wie in Berlin oder kommenden Samstag wohl in Stuttgart. Nach Demos gegen Neonazis, Bankenrettungen, Atomkraft oder G20 hat man dieses dringende Verstehenwollen (oder dessen markttaugliche Simulation) jedenfalls selten gehört.

Starke Gefühle gegen wissenschaftliche Fakten

Annika Leister, die Autorin des Kommentars in der Berliner Zeitung, schreibt: "'Rausgedrängt', 'mundtot gemacht' – so fühlten sich alle meiner Gesprächspartner, ob Sozialhilfe-Empfänger, Einzelhandelskauffrau oder Psychotherapeutin. Sie empfinden dieses Gefühl so stark, dass sie bereit sind, neben Rechtsextremen und Corona-Leugnern zu laufen, ihnen auf Telegram zu folgen, ihnen mehr zu glauben als den Öffentlichen-Rechtlichen und den Tageszeitungen."

Abgesehen davon, dass rechtsextreme Einzelhandelskauffrauen durchaus denkbar sind, ist es eigenartig, dass nun eine nachträgliche Differenzierungsleistung eingeklagt wird, derer sich die Demonstranten von vornherein selbst verweigert haben: Wer sich freiwillig neben die Dominanz der Lügenpresse-Rufer und Verschwörungstheoriegläubigen stellt, hat zumindest kein großes Problem damit, öffentlich als ihre Verbündeten wahrgenommen zu werden. 

Aber es genügt offenbar, ein "Gefühl" so "stark" zu empfinden, um sich dennoch dringend für ein weiterführendes Gespräch zu qualifizieren. Denn in der Forderung des "Mehr Zuhörens" steckt letztlich die Annahme, man (Politik, Wissenschaft, Journalisten) hätte zuvor zu wenig zugehört, beziehungsweise nicht "gut genug kommuniziert", eine Floskel aus dem Bereich moderner Unternehmensführung, wo "Kommunikation" als Allheilmittel fetischisiert wird. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutete dies die naive Vorstellung, dass sich alle Friktionen und Konflikte von selbst auflösten, am Ende Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander identisch würden, wenn man nur richtig miteinander rede. Ein Glaube, der sich in den vergangenen Jahren verfestigte, je aussichtsloser es erschien, einen harmonischen Zustand wiederzuerlangen, den es historisch gesehen ohnehin nie gegeben hat.     

Und es gehört zu dieser Rhetorik ("Mehr Zuhören!", "Sorgen und Ängste ernst nehmen" und so weiter), jede Abweichung, jede Irritation, jeden Konflikt einer Gesellschaft lediglich zum Produkt verfehlter oder ausgebliebener Kommunikationsprozesse zu erklären, dem man nun mit noch mehr Reden oder noch mehr Zuhören beikommen könne, als seien Menschen nicht auch ein wenig selbst dafür verantwortlich, was sie so denken und von sich geben. Im Fall von Corona könnte man sagen, dass es wohl weniger ein Versagen von Aufklärung ist, als vielmehr ein Erfolg der Gegenaufklärung, die dankbar auf schon vorhandene Ressentiments gefallen ist.

Zuhören als paternalistische Geste

Je pompöser dieses Zuhören nun eingefordert wird, desto unklarer wird ohnehin, was aus diesem Vorgang überhaupt erfolgen soll: Entweder das Zuhören ist eine symbolische, paternalistische Geste, die letzthin die Demonstranten zu emotional verwirrten, launenhaften Kindern verniedlicht, die nach etwas mehr Anerkennung ihrer Sorgeberechtigten rufen. Oder das Zuhören wird zum relativistischen Wahrheitsprinzip selbst erhoben, an dessen Ende alles nur noch in "Meinungen" aufgeht und im Zweifel die Ansicht eines Virologen gleichberechtigt neben der des Mannes steht, der glaubt, Angela Merkel sei von Echsenmenschen gesteuert oder womöglich selbst einer. 

Oder, als dritte, aus der jüngeren Geschichte heraus eher unwahrscheinliche Möglichkeit, entsteht tatsächlich etwas, was man möglicherweise Diskurs nennen könnte. Der setzte allerdings voraus, gewisse wissenschaftliche Fakten anzuerkennen, und auch die Einsicht, dass "starke Gefühle", so wenig sie vielleicht wegrationalisiert werden können, als erkenntnistheoretische Begründung selten etwas taugen. Wer diese basalen Vereinbarungen nicht einhält, sollte sich indessen nicht wundern, wenn man ihn nicht mehr ernst nimmt in einem Gespräch, zu dem er ja offensichtlich nichts Substanzielles beizutragen hat oder es gar nicht will.

Und wenn übrigens Wolfgang Kubicki nach den Berliner Protesten sagt, die Politik habe versäumt, den Menschen genau zu erklären, was eigentlich das Ziel der gesamten Maßnahmen sei, dann ließe sich fragen, wer denn die ganzen vergangenen Monate eigentlich besser hätte zuhören müssen. 

Oder wie überträgt sich noch mal dieses Virus?

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Ein großer Name und eine zweifelhafte Idee — Zweite Corona-Welle: Ein Plan für den Herbst

Christian Drosten, 5. August 2020

Als die Covid-19-Epidemie Deutschland erreichte, hat das Land schnell und gut reagiert. In kaum einer anderen großen Industrienation sind so wenige Menschen an der Krankheit gestorben. Diese erste Welle haben wir besser als viele andere kontrollieren können, weil wir früh testen konnten und zwischen Gesellschaft, Politik und den Infektionswissenschaften größeres Vertrauen herrschte als anderswo. Unser früher und kurzer Lockdown hat der Wirtschaft viel Schaden erspart. Nicht nur in den USA kann man beobachten, was zu frühe und dann wieder zurückgenommene Lockerungen für die Wirtschaft bedeuten. 

Jetzt aber laufen wir Gefahr, unseren Erfolg zu verspielen. Das hat vor allem einen Grund: Wir lernen sehr viel Neues über das Virus, setzen dies aber nur zögerlich um. Wir müssen uns ein paar Fragen stellen: Welche Konsequenzen ziehen wir aus der Erkenntnis, dass sich das Virus vor allem über die Luft überträgt – also nicht nur über die klassische Tröpfcheninfektion, sondern auch über Aerosole? Was bedeutet das im Herbst und Winter für öffentliche Gebäude, für Kitas und Schulen, für Ämter und Behörden, für Krankenhäuser und Pflegeheime? Wann werden wir konsequent unsere Maske tragen, und zwar auch auf der Nase, nicht nur darunter? Welche technischen und pragmatischen Lösungen gibt es für einen hinreichenden Luftaustausch – in einem Land der Ingenieure, nicht der Bedenkenträger? Und wie stellen wir uns den Einsatz der sicherlich im nächsten Jahr verfügbaren Impfstoffe vor? Selbst wenn sie keinen vollständigen Schutz böten, würden sie die Verbreitung des Virus deutlich verlangsamen und die Krankheit weniger schwer verlaufen lassen. Das sollten wir nicht zerreden. 

Die Herausforderung besteht darin, unseren Handlungsspielraum zu kennen für die Ausnahmezeit, die bis zur Verfügbarkeit der Impfung vergeht. Ein unsauber abgesteckter Durchseuchungskurs könnte unsere bisherigen Erfolge zunichtemachen, die medizinischen wie die ökonomischen.

Wer eine sinnvolle Handlungsempfehlung für den Herbst schreiben will, muss zunächst einmal die Unterschiede zwischen erster und zweiter Welle verstehen. Die erste Welle entstand bei uns, als das Virus eingeschleppt wurde, durch Skifahrerund andere Reisende, die es zunächst vor allem in ihrer eigenen Altersgruppe verbreitet haben. Es folgte die Ausbreitung bei den Alten, insbesondere in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Dann gelang es schon, die exponentielle Verbreitung des Virus zu kontrollieren und damit die erste Welle zu stoppen, ohne dass es sich breit verteilt hätte. Auf diesem Erfolg dürfen wir uns nicht ausruhen. Wir müssen mit der Zunahme unseres Wissens über den Erreger unsere Konzepte überarbeiten. Und wir müssen uns vor allem darauf einstellen, dass die zweite Welle eine ganz andere Dynamik haben wird. 

Während das Virus mit der ersten Welle in die Bevölkerung eingedrungen ist, wird es sich mit der zweiten Welle aus der Bevölkerung heraus verbreiten. Denn in der Zwischenzeit hat es sich immer gleichmäßiger verteilt, über die sozialen Schichten und die Alterskohorten hinweg. Und nach der Urlaubssaison werden wir beobachten, dass sich die Neuansteckungen auch in geografischer Hinsicht gleichmäßiger verteilen werden als bisher.

Das alles hat Konsequenzen für die Verfolgung: Waren bisher die meisten Infektionsketten nachvollziehbar, können neue Fälle bald überall gleichzeitig auftreten, in allen Landkreisen, in allen Altersgruppen. Dann sind die personell schlecht ausgestatteten Gesundheitsämter endgültig damit überfordert, die Quarantäne jeder einzelnen Kontaktperson zu regeln. Viele von ihnen haben schon in der ersten Welle vor dieser Aufgabe kapituliert. 

Aber sind wir der zweiten Welle deshalb schutzlos ausgeliefert? Nein. Denn die Verbreitung ist bei genauem Hinsehen nicht homogen, und das kann man sich zunutze machen. Infektionswissenschaftler beobachten eine überraschend ungleiche Verteilung der Infektionshäufigkeit pro Patient. Die Reproduktionszahl R bildet dabei nur einen Durchschnitt ab. Nehmen wir einen R-Wert von zwei als Beispiel, dann infiziert jeder Patient zwei weitere. Allerdings nur im Mittel. In unserem Beispiel stecken neun von zehn Patienten jeweils nur einen anderen an, aber einer der zehn infiziert gleich elf weitere. In der Summe haben dann zehn Patienten zwanzig Folgefälle verursacht.

Stellen wir uns die zehn Infizierten nicht gleichzeitig vor, sondern nacheinander, dann haben wir eine Infektionskette. Neun der zehn Fälle in dieser Kette sind Einzelüberträger, sie spielen für die exponentielle Ausbreitung des Erregers keine Rolle. Bei einem der zehn kommt es zu einer Mehrfachübertragung, zu einem Cluster. Während bei Einzelübertragungen die Kette mitunter abreißt, können aus einem Cluster mehrere neue Ketten starten. Das bedeutet exponentielles Wachstum. 

Aerosole und Corona - Wo Atmen zum Risiko wird Nicht nur Niesen und Husten können gefährlich sein: Sars-CoV-2 überträgt sich auch über die Luft. Was Aerosolpartikel so tückisch macht und wie Sie sich schützen können.

Es kommt also auf die Cluster an. Sie treiben die Epidemie. Auf sie müssen die Behörden ihre Kräfte konzentrieren, wenn die zweite Welle an vielen Stellen gleichzeitig beginnt. Wie funktioniert das?

Es hilft ein Blick nach Japan. Das Land warnte seine Bürger frühzeitig vor großen Menschenansammlungen, geschlossenen Räumen und engem Kontakt. Wie anderswo in Asien sind Masken weit akzeptiert. Statt viel und ungezielt zu testen, hat Japan früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. Dazu hat das Land offizielle Listen von typischen sozialen Situationen erstellt, in denen Übertragungscluster entstehen, und sie öffentlich bekannt gemacht. Die Gesundheitsbehörden suchen in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken. 

Die gezielte Eindämmung von Clustern ist anscheinend wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung. Japan gelang es, die erste Welle trotz einer erheblichen Zahl importierter Infektionen ohne einen Lockdown zu beherrschen. 

Ich plädiere nun dafür, im Fall der Überlastung nur (oder zumindest vor allem) dann mit behördlichen Maßnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Clustermitglied stammt. Die vielen Tests, die die Politik derzeit vorbereitet, werden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter dann überfordern – schließlich kann man das Virus ja nicht wegtesten, man muss auf positive Tests auch reagieren. 

Hier gilt: Der Blick zurück ist wichtiger als der Blick nach vorn. Denn Infektionsfälle werden meist erst mehrere Tage nach dem Auftreten von Symptomen erkannt. Der Patient bekommt Fieber, schläft eine Nacht darüber und geht dann zum Arzt. Erst am Tag darauf erhält er sein Testergebnis. Häufig geht ein weiterer Tag verloren, weil der Patient zögert, der Hausarzt abwiegelt oder das Labor die Proben an einen Subunternehmer weiterschickt. Meist sind also vier oder mehr Tage vergangen, seit der Patient die ersten Symptome verspürte. Zu diesem Zeitpunkt ist er aber kaum noch infektiös. Denn wir wissen inzwischen, dass die infektiöse Phase etwa eine Woche dauert, die ersten zwei Tage liegen dabei vor dem Symptombeginn. Immer noch isolieren manche Gesundheitsämter den erkannten Fall als Erstes, um ihn daran zu hindern, andere zu infizieren. Das ist nicht falsch, es könnte aber genauso gut der Hausarzt übernehmen, der den Patienten begleitet. 

Effizienz durch Clusterkontrolle

Eindämmung vieler Infektionen durch wenige Amtshandlungen

© ZEIT-Grafik/​Vorlage: Christian Drosten

Das Gesundheitsamt muss zurückblicken: War der Patient in einem Großraumbüro tätig, feierte er mit Verwandten, während er wirklich infektiös war, also etwa seit Tag zwei vor Symptombeginn? Noch wichtiger: Wo könnte sich der Patient eine Woche vor dem Auftreten der Symptome infiziert haben – könnte das in einem Cluster geschehen sein? Jeder Bürger sollte in diesem Winter ein Kontakt-Tagebuch führen. Durch die Fokussierung auf die Infektionsquelle wird der neu diagnostizierte Patient nämlich zum Anzeiger eines unerkannten Quellclusters, das in der Zwischenzeit gewachsen ist. Die Mitglieder eines Quellclusters müssen sofort in Heimisolierung. Viele davon könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen. Für Tests fehlt die Zeit. Politik, Arbeitgeber und Bürger müssen dies erklärt bekommen. 

Amtsärzte kennen diese Zusammenhänge bereits und versuchen, danach zu handeln. Sie stehen aber im Falle eines Ausbruchs unter einem enormen Druck – etwa zunächst zu testen, bevor sie für größere Cluster eine Quarantäne verhängen. Darum brauchen sie verbindliche Vorgaben, auf die sie sich berufen können. Welche Alltagssituationen, welche Gruppengrößen sind besonders risikobehaftet? Ein Quellcluster kann zum Beispiel ein Großraumbüro sein, eine Fußballmannschaft oder ein Volkshochschulkurs. 

Auch eine Schulklasse kann ein Cluster sein, darauf muss man besonders im Herbst gefasst sein. Weil es gerade bei jüngeren Schülern nur einen kleinen Anteil symptomatischer Fälle gibt, kann jeder Fall eines symptomatischen Schülers einen Quellcluster anzeigen. Die japanische Strategie könnte helfen, die Schulen länger offen zu halten, indem Cluster in Klassen gestoppt werden, bevor ganze Schulen geschlossen werden müssen. Die Voraussetzung dafür ist klar: Im Schulalltag müssen Klassen voneinander getrennt werden, um geschlossene epidemiologische Einheiten zu erhalten. 

Aber wenn nun in der Dynamik der zweiten Welle überall Cluster erkannt werden, würde man dann nicht im Endeffekt doch wieder einen flächendeckenden Lockdown verhängen? Müsste man dann nicht überall Menschen in Quarantäne schicken? Und würde das nicht zu Widerständen führen?

Vielleicht nicht, wenn man die Strategie klug einsetzt. Zunächst: Schaut man sich neuere Daten zur Ausscheidung des Virus an, reicht eine Isolierung der Clustermitglieder von fünf Tagen, dabei darf das Wochenende mitgezählt werden. Ich würde diese Mischung aus Quarantäne und Isolierung "Abklingzeit" nennen, um die Begrifflichkeiten nicht zu verwässern. Am Ende dieser fünf Tage (und nicht vorher) testet man die Mitglieder des Clusters. Solch eine pauschale Regelung für Cluster ist zu verkraften und allemal besser als ein ungezielter Lockdown.

Zusätzlich brauchen wir eine weitere entscheidende Änderung unserer Strategie: eine Testung auf Infektiosität statt auf Infektion. Die Information dafür liefern die gängigen PCR-Tests schon in Form der Viruslast. Eine niedrige Viruslast bedeutet, dass ein Patient nicht mehr ansteckend ist. Würden wir uns zutrauen, aus den inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Daten eine Toleranzschwelle der Viruslast abzuleiten, könnten Amtsärzte diejenigen sofort aus der Abklingzeit entlassen, deren Viruslast bereits unter die Schwelle gesunken ist. Es würden wohl die allermeisten sein. 

Selbst eine Beendigung der Abklingzeit ohne Test wäre in Krisenzeiten denkbar, denn die Clusterstrategie arbeitet ohnehin mit Restrisiken. Alle Beteiligten müssen akzeptieren, dass man in Krisenzeiten nicht jede Infektion verhindern kann. Die wenigsten Amtsärzte würden aber die Verantwortung allein tragen wollen. Im Zweifelsfall müssen ihre Entscheidungen nämlich gerichtsfest sein. Deswegen kann ein Amtsarzt oft gar nicht anders, als an externen Vorgaben festzuhalten, etwa an den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI). Diese zielen auf eine korrekte und vollständige Fallverfolgung. Wenn in der zweiten Welle die Gesundheitsämter hierdurch überfordert sind, droht aber ein Lockdown. 

Die Erfahrung aus anderen Ländern lehrt uns schon jetzt, dass eine vollkommene Unterbrechung der Einzelübertragungen unmöglich ist. Wir müssen also den Gesundheitsämtern in schweren Zeiten erlauben, über das Restrisiko hinwegzusehen. Sie müssen das wenige Personal dort einsetzen, wo es drauf ankommt: bei den Clustern. 

Die bestehenden Empfehlungen des RKI sind präzise und richtig, aber die Ämter bräuchten einen zusätzlichen Krisenmodus. Dazu gehört eine vereinfachte Überwachung der Einzelkontakte, eine Festlegung von Clustersituationen, die sofort und pauschal quarantänepflichtig sind, sowie eine kurze Cluster-Abklingzeit mit Zulassen einer Restviruslast. Hierüber muss Einigkeit herrschen. 

Gesundheitsämter und RKI waren in dieser Pandemie sehr erfolgreich und verdienen dafür den höchsten Respekt. Die zweite Welle erfordert nun aber das Mitdenken der gesamten Bevölkerung, der Arbeitgeber und der Politik. Nehmen die Neuinfektionen plötzlich stark zu, brauchen wir einen pragmatischen Weg zum Stopp des Clusterwachstums: ohne Lockdown, dafür mit Restrisiko. Diesen Weg müssen alle verstehen und mittragen, auch durch Befolgen allgemeiner Maßnahmen wie Maskenpflicht und Beschränkung privater Feiern. Der Zeitpunkt für den Krisenmodus kann regional variieren. 

Im besten Fall brauchen wir ihn nicht. 

Die Quellen zum Text finden Sie hier.

Quelle


Anmerkung:

Ich habe nachgedacht, ob es gut ist so etwas weiter zu verbreiten:

Der Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein wirtschaftlicher, also fachfremder. Unter der Annahme, der Mensch sei gut, führt die Handlungsempfehlung direkt ohne Lockdown zur schnellen Lösung — unter Wegsehen beim dann in Kauf zu nehmenden Restrisiko. 

Möge das „Restrisiko“ deinen, nicht meinen Namen tragen?

2. Anmerkung:

Vielleicht ist der Text vor den Demoereignissen in Berlin am letzten Wochenende geschrieben und damit in Teilen obsolet.

M S 


Hasskampagne der Springerpresse: »Das Ganze ist aber auch ein Geschäftsmodell«

Kolumne von Welt-Autor Rainer Meyer löst im Internet Hasskampagne gegen österreichische Autorin aus. 

Ein Gespräch mit Natascha Strobl

Interview: Christof Mackinger, Wien

Sie standen jüngst im Zentrum einer umfangreichen rechten Hasskampagne im Internet. Wie kam es dazu?

Ich wurde von der Redaktion des TV-Magazins »Panorama« angefragt, einen Sachverhalt zu beurteilen, der die »Identitäre Bewegung« betrifft, nämlich Postings auf Instagram. Als mich die Redaktion befragte, ob ich es problematisch fände, wenn ein hoher Angestellter der Bundeswehr so etwas liken würde, habe ich das bejaht, weil das ein politischer Akt ist. Der Beitrag wurde ausgestrahlt, der Beschuldigte hat das Problem eingesehen und dies auch so verlautbart. Für mich war die Sache erledigt.

Dann hat sich aber Rainer Meyer, ein Journalist, der unter dem Pseudonym Don Alphonso für die Welt schreibt, mit dem Soldaten solidarisiert. Er hat einen Artikel veröffentlicht, der neben Wahrem auch Halbwahrheiten und Falschinformationen über mich enthält. Er stellte es so dar, als hätte ich eine persönliche Kampagne gegen diesen Soldaten geführt. Dabei wurde ich nur als Expertin hinzugezogen. Ich wurde zur Hauptschuldigen auserkoren. Don Alphonso markierte mich persönlich, und seitdem bekomme ich den ganzen Hass des Onlinemobs ab. Es war alles sehr anstrengend und belastend, weil das Ganze sehr in den persönlichen Bereich ging. Ich habe aber auch viel Solidarität erfahren!

Was steckt hinter dem Artikel über Sie?

Er verfolgt auch eine Ablenkungsstrategie. Ein eigentlich abgeschlossenes Thema wird neu geframed und neu angeheizt. Damit tritt das eigentliche Thema »Rechtsextremismus, Bundeswehr und Abgrenzung« in den Hintergrund, und statt dessen wird von persönlichen Kampagnen phantasiert. Das ist schade, da das eigentliche Thema sehr wichtig ist und am besten strukturell und systemisch diskutiert wird.

Anfeindungen von rechts sind nichts Neues für Sie. Worin lag die neue Qualität des virtuellen Hasses nach Meyers Beitrag?

Das schlimmste war, dass sie das Onlinekondolenzbuch meines kürzlich verstorbenen Vaters gefunden und wirklich grausame Dinge reingeschrieben haben.

Eine zentrale Aussage des Kolumnisten war der Satz: »Die wollen nicht mich mit ihren Drohungen in die Unterwerfung peitschen, sondern euch … Ich bin ihnen dabei nur im Weg. « Was lässt sich hier über den rechten Diskurs ablesen?

Das ist ein Satz, den rechtsextreme Politiker schon oft verwendet haben, zuletzt Trump. Das ist eine sagenhafte Selbsterhöhung, ein Pathos, der mahnt, als wäre man im Krieg, den es zu gewinnen gilt. Man kann eine Märtyrerrolle herauslesen: »Ich stelle mich in den Weg, ich beschütze euch, und wenn ich weg bin, kommen sie direkt an euch. «

Es geht ganz klar um ein »Wir« gegen »die«. Das hat überhaupt nichts mehr mit der Realität zu tun, das ist wahnhaft und dient dazu, die Menge aufzupeitschen. Das ist die Untergangsrhetorik der extremen Rechten. »Wenn wir es nicht jetzt schaffen, die Macht an uns zu reißen, dann ist es zu spät. Wir sind die letzte Generation. «

Welche Lehre lässt sich aus dem Ganzen ziehen?

Das Ganze ist eine Strategie. Es ist sicher eine persönliche Abneigung Don Alphonsos, aber eben auch ein Geschäftsmodell. Gerade Springers Welt hat ein großes Problem, die ist nicht rentabel. Sie versucht ihre Existenzberechtigung über den Onlineauftritt herzustellen – und was zählt da? Viele Klicks. Und die versucht man, mit einer Prangersituation zu erzielen und der Kalkulation, dass das von vielen Leuten aus dem rechten Mob geteilt wird. Jede seriöse Zeitung muss sich überlegen, ob sie so ein Geschäftsmodell möchte.

Das wichtigste ist zu erkennen, dass ich nicht die erste bin, der so etwas widerfährt, und auch nicht die letzte sein werde. Diese Art des Psychoterrors exponiert einen unglaublich, da will man sich am liebsten zurückziehen. Das wäre aber falsch! Wichtig ist, zusammenzustehen und Betroffenen Bestätigung zu geben und klarzumachen, dass man so etwas nicht zulässt. Deshalb müssen wir allen Betroffenen beistehen, auch wenn sie weniger Öffentlichkeit haben. Dieser Solidaritätsgedanke ist wichtig. In einem zweiten Schritt muss man klar aufzeigen, wer von so einem Geschäftsmodell profitiert und wer dahintersteht.

Quelle