Von David Hugendick
Wenn ein paar Tausend Verschwörungstheoretiker durch Berliner Straßen ziehen, soll eine Öffentlichkeit wieder "endlich zuhören". Es ist allerdings völlig unklar, warum.
Ein kurzes fiktives Beispiel: Im Literarischen Quartett haben drei Leute einen aktuellen Familienroman gelesen und diskutieren kontrovers darüber. Ein Vierter kennt das Buch nicht und ruft unentwegt "Hanuta!" oder "Ich bin ein Habicht!" dazwischen, bis ihn die anderen fragen, ob er den Roman denn gelesen habe, woraufhin er sich beschwert, seine geäußerte Meinung zum Roman werde von einer Geheimregierung unterdrückt. Sonst passiert ihm eigentlich nichts. Er wird nur nicht wieder eingeladen, und der Abend ist dann auch endlich vorbei.
Nun zu etwas Ähnlichem: Durch Berlin liefen am vergangenen Samstag 17.000 bis 20.000 Menschen – so genau kann man das nicht sagen –, die offenbar unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung sind, wobei man das auch nicht so genau sagen kann. Allerdings kann man sagen, dass 17.000 oder 20.000 Menschen weniger sind als im Normalfall zu einem Fußballspiel von, sagen wir, Werder Bremen kommen. Dies nur zur Größenordnung.
Die Bilder von der Demonstration beschäftigen seither dennoch sowohl politische Kommentatoren und etliche Nutzer sozialer Medien. Einerseits weil viele diese schutzmaskenfreie Versammlung für rücksichtslos und gesundheitlich bedenklich hielten; andererseits wegen ihres kuriosen Schauwerts, da dort rechtsextreme Reichsbürger, AfD-Mitglieder, selbst ernannte Querdenker und Verschwörungstheoretikerinnen neben ökobewegten Impfgegnern, Hebammenaktivistinnen und Menschen mit ProAsyl-Rucksäcken und Regenbogenfahnen zu sehen waren.
Angesichts dieses Symbolsalats rieben sich vor allem manche die Augen, die seit Jahren mit gewisser Theatralik eine in irgendwie rechts und irgendwie links gespaltene Gesellschaft beschwören, als funktioniere jene so eindeutig wie die Dramaturgie der West Side Story. Wollte man das verbindende Element dieser Gruppen ausmachen, so wäre es wohl Wissenschaftsfeindlichkeit in unterschiedlichen Ausprägungen: von betulich esoterisch oder zweifelnd bis hin zum stark vertretenen weinerlich brutalen Extrem, das der rechtsradikale Meinungssuperspreader Attila Hildmann so öffentlichkeitswirksam vorlebt, dass ihm manche Journalisten mittlerweile einfühlsame Psychogramme widmen.
Seit Pegida ein etabliertes Reaktionsmuster
Nach der Berliner Demonstration hieß es nun öfter, man dürfe die Teilnehmer nicht aus der Debatte ausgrenzen; selbst wenn einige von denen unter den notorischen "Lügenpresse"-Rufen herumliefen, manche Plakate hielten, auf denen sie die Schutzmaske mit dem Judenstern der Nazizeit gleichsetzten, und sonst noch lebhaft mitteilten, was in ihren Telegram-Gruppen so an Aberglauben zu finden ist. In einem Kommentar forderte zum Beispiel die Berliner Zeitung jedenfalls: "Hört zu, statt zu verbieten!" Spätestens seit den rechtsextremen Dresdener Pegida-Demonstrationen hat sich dieses Reaktionsmuster etabliert. Es ist die politische und journalistische Formel der vergangenen Jahre.
Nun kann man diesen Satz ("Hört zu!") zunächst in seiner koketten Unbestimmtheit befragen: Wem denn? Wer soll denn? Und wie lange überhaupt? Und haben die Demonstranten nicht genau deshalb bereits ihr Demonstrationsrecht genutzt, damit alle anderen die Sätze hören und lesen, die sie rufen und auf Plakate geschrieben haben?
Offenbar genügte das nicht, da es hier wohl um das Tiefenmanagement von Emotionen geht. Dafür war früher einmal ausschließlich die Psychotherapie zuständig. Heute sind es wohl vorrangig Politikerinnen und Zeitungen, die sich vor allem dann um den Seelenhaushalt der Mitbürger sorgen, wenn diese sich zu größtenteils reaktionären oder zumindest regressiven Anlässen versammeln wie in Berlin oder kommenden Samstag wohl in Stuttgart. Nach Demos gegen Neonazis, Bankenrettungen, Atomkraft oder G20 hat man dieses dringende Verstehenwollen (oder dessen markttaugliche Simulation) jedenfalls selten gehört.
Starke Gefühle gegen wissenschaftliche Fakten
Annika Leister, die Autorin des Kommentars in der Berliner Zeitung, schreibt: "'Rausgedrängt', 'mundtot gemacht' – so fühlten sich alle meiner Gesprächspartner, ob Sozialhilfe-Empfänger, Einzelhandelskauffrau oder Psychotherapeutin. Sie empfinden dieses Gefühl so stark, dass sie bereit sind, neben Rechtsextremen und Corona-Leugnern zu laufen, ihnen auf Telegram zu folgen, ihnen mehr zu glauben als den Öffentlichen-Rechtlichen und den Tageszeitungen."
Abgesehen davon, dass rechtsextreme Einzelhandelskauffrauen durchaus denkbar sind, ist es eigenartig, dass nun eine nachträgliche Differenzierungsleistung eingeklagt wird, derer sich die Demonstranten von vornherein selbst verweigert haben: Wer sich freiwillig neben die Dominanz der Lügenpresse-Rufer und Verschwörungstheoriegläubigen stellt, hat zumindest kein großes Problem damit, öffentlich als ihre Verbündeten wahrgenommen zu werden.
Aber es genügt offenbar, ein "Gefühl" so "stark" zu empfinden, um sich dennoch dringend für ein weiterführendes Gespräch zu qualifizieren. Denn in der Forderung des "Mehr Zuhörens" steckt letztlich die Annahme, man (Politik, Wissenschaft, Journalisten) hätte zuvor zu wenig zugehört, beziehungsweise nicht "gut genug kommuniziert", eine Floskel aus dem Bereich moderner Unternehmensführung, wo "Kommunikation" als Allheilmittel fetischisiert wird. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutete dies die naive Vorstellung, dass sich alle Friktionen und Konflikte von selbst auflösten, am Ende Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander identisch würden, wenn man nur richtig miteinander rede. Ein Glaube, der sich in den vergangenen Jahren verfestigte, je aussichtsloser es erschien, einen harmonischen Zustand wiederzuerlangen, den es historisch gesehen ohnehin nie gegeben hat.
Und es gehört zu dieser Rhetorik ("Mehr Zuhören!", "Sorgen und Ängste ernst nehmen" und so weiter), jede Abweichung, jede Irritation, jeden Konflikt einer Gesellschaft lediglich zum Produkt verfehlter oder ausgebliebener Kommunikationsprozesse zu erklären, dem man nun mit noch mehr Reden oder noch mehr Zuhören beikommen könne, als seien Menschen nicht auch ein wenig selbst dafür verantwortlich, was sie so denken und von sich geben. Im Fall von Corona könnte man sagen, dass es wohl weniger ein Versagen von Aufklärung ist, als vielmehr ein Erfolg der Gegenaufklärung, die dankbar auf schon vorhandene Ressentiments gefallen ist.
Zuhören als paternalistische Geste
Je pompöser dieses Zuhören nun eingefordert wird, desto unklarer wird ohnehin, was aus diesem Vorgang überhaupt erfolgen soll: Entweder das Zuhören ist eine symbolische, paternalistische Geste, die letzthin die Demonstranten zu emotional verwirrten, launenhaften Kindern verniedlicht, die nach etwas mehr Anerkennung ihrer Sorgeberechtigten rufen. Oder das Zuhören wird zum relativistischen Wahrheitsprinzip selbst erhoben, an dessen Ende alles nur noch in "Meinungen" aufgeht und im Zweifel die Ansicht eines Virologen gleichberechtigt neben der des Mannes steht, der glaubt, Angela Merkel sei von Echsenmenschen gesteuert oder womöglich selbst einer.
Oder, als dritte, aus der jüngeren Geschichte heraus eher unwahrscheinliche Möglichkeit, entsteht tatsächlich etwas, was man möglicherweise Diskurs nennen könnte. Der setzte allerdings voraus, gewisse wissenschaftliche Fakten anzuerkennen, und auch die Einsicht, dass "starke Gefühle", so wenig sie vielleicht wegrationalisiert werden können, als erkenntnistheoretische Begründung selten etwas taugen. Wer diese basalen Vereinbarungen nicht einhält, sollte sich indessen nicht wundern, wenn man ihn nicht mehr ernst nimmt in einem Gespräch, zu dem er ja offensichtlich nichts Substanzielles beizutragen hat oder es gar nicht will.
Und wenn übrigens Wolfgang Kubicki nach den Berliner Protesten sagt, die Politik habe versäumt, den Menschen genau zu erklären, was eigentlich das Ziel der gesamten Maßnahmen sei, dann ließe sich fragen, wer denn die ganzen vergangenen Monate eigentlich besser hätte zuhören müssen.
Oder wie überträgt sich noch mal dieses Virus?
Quelle