Neun Tage nach dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, also gewissermaßen direkt nach dem ersten Schrecken, hat die Rheinische Post eine Position entwickelt, die Sie auf Seite 2 darbietet:
„Anna Netrebko, Clemens Tönnies und Joe Kaeser haben vermutlich nicht besonders viel gemeinsam. Das ist auch nicht verwunderlich bei einer Operndiva, dem Aufsichtsratschef des FC Schalke 04 und dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens. Eins aber verbindet die drei: Sie geben sich einer Lebenslüge hin.
Netrebko, Tönnies und Kaeser verkörpern die Illusion, Kultur, Sport und Wirtschaft könnten angesichts von Krieg und Völkerrechtsbruch unpolitisch sein. Sie stehen für die Stars und Sternchen, die sich zwielichtigen Machthabern anbiedern; für die Sportfunktionäre, die vom Kungeln mit Potentaten nicht lassen wollen; für Wirtschaftsbosse, die die Welt nur durch die Brille von Soll und Haben sehen.
Bei Netrebko, bei Tönnies und Kaeser ist das 2014 im Zuge der Russland-Krise auf besonders peinliche Weise deutlich geworden. Die Opernsängerin posierte mit einem ukrainischen Rebellenführer einschließlich Separatistenflagge, beteuerte aber hernach, sie habe nur Geld für notleidende Künstler an der Donezker Oper gesammelt. Ja, der Krieg dort sei schlimm - aber: "Das ist Politik, und ich habe nichts mit Politik zu tun." Tönnies ersann im Frühjahr den Plan, mit seinem FC Schalke zu Wladimir Putin zu reisen - schließlich ist der russische Staatskonzern Gazprom Trikotsponsor. Erst nach massiven politischen Protesten sagte Schalke ab. Tönnies' Kommentar: Die Krise dauere ja nicht ewig. Und: "Wir sind Sportsleute und keine Weltpolitiker. Die Politik ist nicht unser Spielfeld." Schließlich Kaeser - er traf sich im März mit Putin. Die Ukraine-Krise? "Kurzfristige Turbulenzen". Die Reise? "Ein Besuch bei einem Kunden".
Die Krise zwischen Russland, Europa und Amerika leistet im Westen offenbar der Sehnsucht Vorschub, sich abzukoppeln von den Fährnissen der Politik, nach dem Motto: Führt ihr eure Kriege, aber lasst uns damit in Ruhe. Zumindest mit einem Bein im Westen steht auch die Russin Netrebko - die Primadonna mit österreichischem Pass wohnt den größeren Teil des Jahres in Wien und New York.
Eine solche Einstellung fußt auf dem grundlegenden Missverständnis, Politik sei in einem modernen Gemeinwesen eine Sphäre wie alle anderen. Seit 1945 aber gilt es nicht mehr, sich für unpolitisch zu erklären wie einst Thomas Mann - das Politische ist zu wichtig geworden. Denn es geht seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur um die Frage, wie man politischen Massenmördern in den Arm fallen kann, sondern schlicht auch darum, das Überleben der nuklear hochgerüsteten Menschheit zu sichern. Seit der Planet im Zuge von Massenkommunikation zum globalen Dorf geschrumpft ist, gewinnt das Problem an Brisanz.
Politik ist überall, in allem. Für diese Erkenntnis muss man nicht in die Tiefen der (Sprach-)Geschichte herabsteigen, wonach Politik einmal die Sache der Polis war, des griechischen Stadtstaats, mithin die Gesamtheit der Angelegenheiten, um die sich der mündige Bürger vor 2500 Jahren zu kümmern hatte, weil sein Mini-Staat sonst untergegangen wäre. Man kann auch im 20. Jahrhundert ansetzen und bei den Sozialwissenschaftlern nachfragen.
Die Systemtheoretiker etwa sind als Kronzeugen unverdächtig - sie begreifen die menschliche Gesellschaft als Ansammlung von Teilbereichen, eben Systemen, die zwar Beziehungen unterhalten, aber grundsätzlich eigenständig sind. Sie könnten also Anwälte der völligen Trennung der Kultur, der Wirtschaft, des Sports von der Politik sein - und trotzdem kommen selbst die Systemtheoretiker an der Sonderrolle der Politik nicht vorbei. David Easton zum Beispiel, einer der Väter der systemtheoretischen Politikwissenschaft, definierte schon 1965 Politik als "diejenigen Interaktionen, durch die in einer Gesellschaft Werte verbindlich zugeordnet werden" - die Entscheidung, wer richtig und wer falsch handelt, ist politisch. Easton stellte zudem fest, Kennzeichen des Politischen sei die Durchdringung aller anderen Teilbereiche. Keine funktionierende Gesellschaft ohne Politik, könnte man auch sagen.
Hinter solchen Sätzen mag auch eine historische Erfahrung stehen: Der Versuch, "die Gesellschaft" gegen Diktatur und Unrecht abzukapseln, ist oft erbärmlich gescheitert. Olympia 1936 in Berlin und 2008 in Peking waren auch Propaganda-Feste. Und im einstigen Vorzeigestaat Simbabwe hat Machthaber Robert Mugabe eine skrupellose Landreform ins Werk gesetzt, indem er in einer Art umgekehrter Apartheid die weißen Farmer aus dem Land jagte.
Aber ist es nicht geradezu Kennzeichen der Moderne, unpolitisch zu sein? Heißt es nicht immer, die Gesellschaft differenziere sich - ist dann eine Trennung der Sphären nicht geradezu zwangsläufig? Eine Errungenschaft? Es stimmt ja: Für Ludwig XIV. war Frankreichs Ökonomie selbstverständlich Mittel zum (Kriegs-)Zweck, und Geistesgrößen wie Goethe, Schiller und Hegel sollten vor allem einen Landesherrn wie den kunstsinnigen Weimarer Herzog Karl August schmücken. Lange vorbei. Trotzdem ist es im 21. Jahrhundert zu kurz gesprungen, als Sportler, Künstler, Manager ein Recht aufs Unpolitischsein zu reklamieren und dafür höhere historische Einsicht vorzuschieben. Unpolitischsein im Jahr 2014 ist keine Autonomie, sondern verrät entweder Denkfaulheit oder Skrupellosigkeit, manchmal beides gleichzeitig.
Politik ist nicht einfach ein Teil der Gesellschaft, der momentan zufällig Sport, Wirtschaft oder Kultur dominiert. Politik ist der Schutzschirm, unter dem Sport, Wirtschaft und Kultur sich entfalten sollen. Wie robust dieser Schirm ist, hängt von der Akzeptanz der Werte ab, die die Politik aushandelt und durchsetzt. Und für diese Akzeptanz gibt es bisher keine bessere Gewähr als unsere westliche Demokratie, die auf die Beteiligung und den Wert jedes Einzelnen setzt. Politik geht uns alle an, immer - das ist heute so wie vor 2500 Jahren in Griechenland.“
Daneben ist noch die „Chronologie 2014“ abgedruckt, die mit den Worten beginnt: „Februar: nachdem der pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch vom Parlament abgesetzt wird…“
Würg!
Die gute Nachricht: Die Kündigung des Abos geht noch vor Weihnachten raus.