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«Deutschland ist ein "digitally failed state".»

„Ein gespenstisches Szenario der umfassenden digitalen Hilflosigkeit, und das ist noch die freundlichere Interpretation. Die leider realistischere ist, dass Abhilfe gar nicht erwünscht ist, dass der digital gescheiterte Staat politisch in Kauf genommen wird. Die Verfassungsgüter der eigenen Bürger werden als Tauschware auf dem internationalen Überwachungsmarkt angesehen.

Es handelt sich damit um eine kalkulierte Nichtdurchsetzung von Grundrechten in der digitalen Sphäre. Das Internet ist damit politisch gewollt zum vormals berüchtigten rechtsfreien Raum verkommen.“

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Kurzreplik

Tiefer schürfen

tl;dr

Internetdebatte: Auch für die Netzpolitik gelten die Maßgaben des Klassenkampfs.

Junge Welt 25.1.2014

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Tiefer schürfen

von Thomas Wagner

Eine Antwort auf Sascha Lobo und Evgeny Morozov

Was ist bloß aus der Internetbegeisterung geworden? Die Leidenschaft der Netzenthusiasten für die angeblich demokratischste Erfindung des Computerzeitalters scheint spätestens nach Edward Snowdens Enthüllungen der Überwachungsaktivitäten der NSA merklich abgekühlt. Während US-Präsident Barack Obama sich dazu genötigt sah, die Tätigkeit seines Geheimdienstes in einer Rede am 17.1.2014 vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen, übte sich in Deutschland ein prominentes Mitglied der rNetzgemeindel demonstrativ in Selbstkritik. »Das Internet ist kaputt«, lautet die Diagnose, die Sascha Lobo den Lesern der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS vom 12.1.2014) unter der Überschrift »Die digitale Kränkung des Menschen« ein paar Tage vor Obamas Rede unterbreitet hatte. »Wir haben uns geirrt, unser Bild vom Internet entspricht nicht der Realität, denn die heißt Totalüberwachung« (ebd.).

Andere formulieren es nicht weniger drastisch. Die Idee vom angeblich freien Internet verdecke, wie das Netz als »Maschine für taktische Überwachung« fungiere, zitiert die FAZ (3.1.2014) den Bürgerrechtsaktivisten Jacob Appelbaum. Der als Snowdens publizistisches Sprachrohr international bekannt gewordene Journalist Glenn Greenwald will nicht ausschließen, daß sich das Internet zum »schlimmsten Werkzeug der Repression in der Menschheitsgeschichte« (ebd.) entwickelt. Wenn der unstillbare Datenhunger der NSA einst dem Schutz vor Terror gedient haben sollte, so die US-Ökonomin Shoshana Zuboff, sei diese Zeit nun vorbei. »Jetzt ist die NSA nahe dran, selbst der Terror zu sein. (...) Wir sind frei, aber nur wenn wir einwilligen, nackt zu sein und ständig im Licht zu stehen.« (FAZ vom 17.1.2014)

Illusionen geschürt

Auch in Deutschland gehen mittlerweile einige der eifrigsten Propagandisten der Netzkultur von der Fahne. Beispielsweise wird über Christopher Lauer berichtet, er frage sich hinsichtlich des Internet, ob »der gesamtgesellschaftliche Schaden nicht größer ist als der Nutzen« (FAZ vom 3.1.2014). Was ist von all dem zu halten? Handelt es sich tatsächlich um ein radikales Umdenken oder nur um einen Sturm im Wasserglas? Geht es den selbsterklärten Wortführern der Netzaktivisten vielleicht nur darum, ihren finanziell einträglichen, nun aber angekratzten Status als Internetexperten zu verteidigen? Was Sascha Lobo betrifft, gilt es daran zu erinnern, daß sein gegenwärtiger Status nicht auf kritischen Zeitdiagnosen, sondern auf der Umwandlung fortschrittlicher Ideen in Werbeslogans gründet. Auf dem Klappentext seines 2006 gemeinsam mit Holm Friebe publizierten Buchs »Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung« heißt es, er habe »als freier Werbetexter mit den Schwerpunkten Internet, Markenstrategie und ungewöhnliche Kommunikation« bereits »für ein Drittel der DAX-Unternehmen gearbeitet«.

Das Buch verhieß all jenen, die sich als kreative Ich-Unternehmer ausprobierten, eine glückliche Zukunft. Mit der sozialen Wirklichkeit der meisten Freiberufler hatte das nichts zu tun. Durch die Banalisierung von sozialen Errungenschaften wie bezahlter Urlaub oder Krankenversicherung spielte das Buch den Interessen jener Konzernen in die Hände, gegen deren Festanstellungskultur Holm und Lobo heftig polemisierten. Damals erklärten sie, daß »man mit den Grundregeln und Einrichtungen des Kapitalismus oft weiter kommt als gegen sie« (Wir nennen es Arbeit, S. 131) Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß Lobo heute auch die IT-Konzerne mit seiner Kritik nur wenig behelligt. Zwar steht in der Unterzeile seiner Überschrift etwas von »Kontrollwahl der Konzerne«, in seiner Darstellung treten diese aber weniger als Akteure und Nutznießer, denn als Opfer von Spionageaktivitäten in Erscheinung. »Geheimdienste«, empört er sich, »betreiben entgegen vieler Beteuerungen gezielte Wirtschaftsspionage.« (FAS vom 12.1.2014)

Sollte ihm entgangen sein, wie sehr die großen IT-Konzerne der USA, namentlich Google, Facebook und Amazon, mit den Geheimdiensten und dem Militär gerade im Bereich der Forschung und Technologie verflochten sind? Nehmen wir das Beispiel Google. Der Konzern entwickelte Software für die NSA und für In-Q-Tel, einem Unternehmen der CIA. »Wirtschaft und Staat kooperieren eng«, betonte der ehemalige Sicherheitsberater und Science-Fiction-Autor Daniel Suarez im Gespräch mit der taz (18./19.1.2014): »Seit den Anschlägen vom 11. September sind 70 Prozent der Aufgaben der NSA outgesourct worden.«

Nahezu alle technischen Innovationen, mit denen Google und Co. in den vergangenen Monaten das Interesse der Kunden zu erregen versuchten, eignen sich vorzüglich für Spionagezwecke. Das betrifft die digitalen Thermostate und Rauchmelder ebenso wie Mikrophone und Kameras in vernetzter Unterhaltungselektronik und Mobilfunkgeräten, die Google-Brille, das selbstfahrende Auto, die Digitalisierung des Bibliothekswesens und vieles mehr. Eifrig geforscht wird an Superrechnern und der Bewaffnung intelligenter Roboter. Sascha Lobo blendet all das aus. Die Verflechtung des militärisch-informationstechnologischen Komplexes mit einer ständig neue Ungleichheit erzeugenden kapitalistischen Ökonomie scheint ihn wenig zu interessieren. Statt dessen zeigt er sich besorgt, daß die »hiesige Wirtschaft im Netz den Anschluß« verpaßt (FAS vom 12.1.2014). Am Ende seiner Ausführungen heißt es: »Das große Ausspähen ist nicht vorbei. Und wird es vielleicht niemals sein.« (ebd.) Gleichwohl fordert er seine Leser dazu auf, einen neuen »Internetoptimismus« (ebd.) zu entwickeln: »Eine positive Digitalerzählung, die auch unter erschwerten Bedingungen in feindlicher Umgebung funktioniert.« Offensichtlich beherzigt er die Grundregel aller im Beratungsgewerbe tätigen Freiberufler: Halte dich nicht allzu lange mit der Analyse komplexer gesellschaftlicher Probleme auf und gebe dich am Ende stets zuversichtlich. Die dahinter stehende opportunistische Haltung verträgt sich gut mit der Idee unbegrenzter technologischer Machbarkeit, die von den Wortführern des Silicon Valley unablässig gepredigt wird.

Nebel gelichtet

Der in den USA forschende Internetexperte Evgeny Morozov, derzeit der international wohl profilierteste Netzkritiker, scheint von Sascha Lobos zweifelhaften Verdiensten um die Erneuerung neoliberaler Ideologie nichts zu wissen. In seiner am 15.1.2014 in der FAZ unter dem Titel »Mehr Politik!« veröffentlichten Replik auf Lobos Selbstkritik, kommt er jedoch zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Autor dieser Zeilen. Er entlarvt Lobos Argumentation als oberflächlich und bescheinigt ihm, auf halber Strecke stehen geblieben zu sein. Das zeige sich an dessen Gebrauch des Wortes Internet. Bei der Vokabel, so wie sie im herrschenden Diskurs verwendet wird, handelt es sich in Morozovs Augen nämlich um einen Begriff, mit dem Machtverhältnisse verschleiert werden. Wer darüber diskutiere, ob »das Netz« gute oder schlechte Eigenschaften habe, trage mit dazu bei, die hinter erreichten technologischen Standards liegenden Kämpfe und Kompromisse zu verdecken. Die möglicherweise zufälligen und noch offenen Ergebnisse dieser Kämpfe blieben verborgen, »weil Unternehmen heute mächtiger als Bürger sind.« (FAZ vom 15.1.2014)

Lobo bleibt einem ideologischen Denkzusammenhang verhaftet, den Morozov Internetzentrismus nennt. Verbunden damit sei die »die Vorstellung, daß allem, was im digitalen Bereich geschieht, eine kohärente Logik zugrunde liege (...) und daß wir diese Logik akzeptieren müssen, weil sie wie die Logik der Märkte zu komplex sei, als daß wir Menschen sie verstehen könnten« (ebd.).

Begriffe wie Internet oder Cyberspace werden so sehr von den an der Expansion ihrer Konzerne interessierten Wortführern des Silicon Valley geprägt, daß die dahinter liegenden Interessen unsichtbar bleiben. Wenn Google beispielsweise hinausposaunt, künftig »alle Informationen der Welt zu organisieren und sie weltweit zugänglich und nutzbar zu machen« dann wird, wie Morozov in einem anderen Artikel (FAZ vom 10.11.2013) feststellte, der Herrschaftsanspruch dahinter kaum noch wahrgenommen. Aber, so fragt er: »Wenn wir zulassen, daß Google alle Informationen der Welt organisiert: Ist das nicht genauso sinnvoll, wie wenn wir zuließen, daß Halliburton das gesamte Erdöl der Welt organisiert?« (ebd.).

Eine wichtige Funktion des technologisch-ökonomischen Apparates, der gemeinhin Internet genannt werde, bestehe darin, seine Geschichte zu verwischen. Die Art und Weise, wie die auf die Kontrolle von Wissen ausgerichtete Infrastruktur derzeit organisiert ist, soll als die einzig mögliche erscheinen. Technologieunternehmen, die ihre Ziele ebenso skrupellos verfolgten, wie Milliardenzocker an der Wall Street, erscheinen »als wohlwollende Engel« (FAZ vom 15.1.2014), »die nichts anderes wollten, als die Welt Klick für Klick zu verbessern« (ebd.). Diese Denkweise macht er dafür verantwortlich, »daß man in weiten Teilen der westlichen Welt jede aktive Wirtschaftspolitik vor allem im Blick auf die wesentliche Informationsinfrastruktur aufgegeben hat, weil allzu viele von uns der Annahme erliegen, das Internet werde schon - ähnlich dem Markt - alles richten, während es die Welt miteinander verbindet. Aber diese Verbindung erfolgt nicht in neutraler Weise« (ebd.).

Statt in einer Debatte Partei zu ergreifen, die das »Internet« als fixes, kohärentes Medium begreife, seien Netztheoretiker wie Sascha Lobo besser beraten, das »Internet« als eine Ideologie zu begreifen, mit der versucht wird, Fragen nach der richtigen Wirtschaftspolitik zu entpolitisieren.

Linkes Versagen

Auch bei dem auf diesem Gebiet tätigen Spitzenpersonal der Partei Die Linke hat sich die Einsicht, daß es sich beim Internet um eine ideologische Vokabel handelt, mit der ökonomische Herrschaftsinteressen zugleich verschleiert und durchgesetzt werden, noch nicht herumgesprochen. Bodo Ramelow, dem Vorsitzenden der Linksfraktion im Landtag von Thüringen, kommt es vor allem darauf an, daß der »Informationsfluß im Netz« nicht durch »staatliche Repression« oder »wirtschaftliche Übermacht« behindert werde (Bodo Ramelow/Petra Sitte/Halina Wawzyniak/Christoph Nitz: It's the Internet, stupid. Die Linken und die »Schienennetze« des 21. Jahrhunderts. Hamburg 2011, S. 125). Daß es große, auf die Ausdehnung ihrer eigenen Macht bedachte Konzerne und der militärisch-technologische Apparat sind, in deren Händen das Internet heute liegt, spielt in seinen Überlegungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Um nicht den Anschluß zu verlieren, scheinen ausgerechnet die mit der Netzpolitik befaßten Genossen eben jenem Internetzentrismus aufzusitzen, den Morozov als Vernebelungstrategie der Konzerne enttarnt hat. Symptomatisch für das gefährlich naive Bild, daß sie sich vom Internet machen, ist ein Slogan, den Ramelows Parteifreundin Halina Wawzyniak ersann. Statt »Enteignet Springer« soll es nun heißen: »Lernt mit dem Internet umzugehen!« (ebd.: S. 32).

Das Internet, wie Ramelow es vorschlägt, den »Händen der Zivilgesellschaft« anzuvertrauen, ist schon deswegen keine fortschrittliche Position, weil dieser Begriff keinen Handlungsträger, sondern ein gesellschaftliches Kampffeld bezeichnet, auf dem im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse die Interessen der Konzerne dominieren. Abhängig Beschäftigte, die gegen deren geballte, auch medial gestützte Macht ihre eigenen Interessen zur Geltung bringen wollen, müssen sich zusammenschließen, ein Bewußtsein ihrer gemeinsamen Klassenlage bilden, um dann eine Gegenmacht zu organisieren. Je mehr ihnen das gelingt, desto weniger dominieren die Interessen der Kapitaleigner.

Es mag ein wenig retro klingen, aber: schlagkräftige Gewerkschaften und Parteien sind, insofern sie den Klassenkampf nicht aufgegeben haben, die besten Garanten für einen demokratischen Pluralismus, wie er Ramelow vorzuschweben scheint.

»Während manche Mitarbeiter mit Twitter und Facebook fremdelten«, so Ramelow gegenüber junge Welt (16.1.2014) über den Prozeß des Umdenkens, der seit 2009 in der thüringischen Landtagsfraktion stattgefunden habe, »sind wir uns heute alle einig, daß man im noch so abgelegenen Winkel unseres Landes über W-LAN verfügen sollte und das Internet somit überall nutzen können muß.« Wenn er in der, zweifellos notwendigen, Bereitstellung technologischer Infrastruktur die zentrale netzpolitische Aufgabe einer linken Partei versteht, bleibt Ramelow weit unter dem Niveau, das Morozov in seiner Kritik an Sascha Lobo erreicht hat.

Was zu tun ist

Wer das Feld der Auseinandersetzung um die technologische Entwicklung mit einer fortschrittlichen Position besetzen will, ist gut beraten, im Anschluß an die Anregungen Morozovs tiefer zu schürfen und sich dafür an den folgenden Maßgaben zu orientieren. Eine progressive Netzpolitik gründet erstens auf dem Nachweis, daß der derzeitige Stand technologischer Entwicklung nicht das Ergebnis eines zwangsläufig so und nicht anders verlaufenden Naturprozesses, sondern das Ergebnis von Auseinandersetzungen ist, für deren Beschreibung Marxisten den Begriff des Klassenkampfes nützlich finden. Notwendig sind materialistische Untersuchungen, die zeigen, wie die ökonomisch-technologisch-ideologische Konstellation, die wir Internet nennen, entstanden ist. Dadurch würde kenntlich, daß die Vernetzung auch einen anderen Verlauf hätte nehmen können.

Zweitens müssen die Alternativen, die es zur jeweils durchgesetzten Position oder zum erreichten Kompromiß gegeben hat, herausgearbeitet werden.

Auf diese Weise kann drittens ein Bewußtsein dafür entstehen, daß auch die Richtung der künftigen technologischen Entwicklung nicht notwendig eine lineare Verlängerung der heute vorherrschenden Tendenzen sein muß. Es gab und es gibt, darauf weist Morozov zu Recht hin, »verschiedene Möglichkeiten, die Welt zu vernetzen« (ebd.). Die technologische Entwicklung ist nicht, wie die Ideologen des Silicon Valley unablässig suggerieren, eine autonome, der sich die Menschen nur überlassen müssen, um ein gutes Leben zu führen. Wer diesen Eindruck erwecken will, hat selbst ein Interesse daran, daß die Machtverhältnisse so bleiben wie sie sind. 

Herauszuarbeiten, im Interesse welcher Konzerne er das tut, welcher Mittel er sich dabei bedient und was er damit erreicht, ist daher die vierte Aufgabe linker Netzpolitik, die Formulierung konkreter Utopien die fünfte.

Mit reaktionärer Maschinenstürmerei hat das, wie manche Verteidiger des Status quo gerne behaupten, nichts zu tun. Vielmehr geht es um erste Schritte in Richtung der Überwindung eines ökonomischen Systems, das ständig neue Ungleichheit erzeugt. Nur so kann das Potenzial für die Entwicklung einer wirklich demokratischen Zivilisation zur Geltung gebracht werden, das in den Maschinen derzeit noch schlummert. Oder, schlimmer noch: in Gestalt von Kriegs- und Überwachungswerkzeugen auf mörderische Weise gegen die Menschen verwandt wird.

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Thomas Wagner, geb. 1967, ist Publizist und Literaturredakteur im Feuilleton der jungen Welt. Am 29./30.6.2013 erschien von ihm an dieser Stelle ein Essay zur Diskussion um das trans​atlantische Freihandelsabkommen: »Keine Entwarnung. Warum der Kampf um die rkulturelle Ausnahmel weiter geführt werden muß.«

Wagners aktuelle Buchveröffentlichung heißt: »Die Mitmachfalle. Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument.« Papyrossa Verlag, Köln 2013, 12.90 Euro (auch im jW-Shop erhältlich)