Trumpismus: The Sound of Silence

Die letzten Tage des Donald Trump und die kommenden der »schweigenden Mehrheit« 

Von Felix Bartels 

Das Stück ist aus, aber es läuft noch. Ein Puppenspiel, dessen Hauptakteur König, Kasper und Krokodil in einem ist, kann nicht einfach wie andere aufhören. Es dehnt sich vor geleerten Rängen in einem quälenden Epilog, während die Kritiker längst daheim sitzen und ihre Verrisse in die Tasten hämmern. Donald Trump hat eine Entscheidung getroffen: Er will sich die Wahl nicht von den Wählern wegnehmen lassen. Das wäre durchaus zum Lachen, wenn es bloß den Wahnsinn eines Irrsinnigen bezeigte, doch der Wahnsinn hat hier nicht Methode, er ist die Methode. Intuitiv scheint Trump verstanden zu haben, was Demokratie ausmacht. Das reale Votum bleibt ein Gespenst, es zählt allein das Verfahren seiner Ermittlung. 

Wer glaubt, Demokratie sei ein schönes Ideal, das nur leider nicht funktioniere, übersieht, dass gerade in jenem beständigen Nichtfunktionieren der Grund liegt, aus dem sie noch existiert. Das betrifft jedes Land, worin Demokratie wütet, in den USA scheint das bloß alles ein wenig offensichtlicher. Hier konserviert das Electoral College eine Verzerrung zugunsten der ländlichen, weniger gebildeten Bevölkerung, die traditionell republikanisch wählt. Im Senat wird die Ungerechtigkeit noch größer, indem jeder Staat – er heiße Montana oder New York – zwei Senatoren stellt, wodurch die zahlenmäßig überlegenen, doch dünner besiedelten »roten« Staaten in Vorteil kommen. Auch das Winner-takes-it-all-Prinzip missachtet den Wählerwillen, indem es nach ihm keinen Unterschied macht, ob ein Staat mit 40 oder einem Prozent Vorsprung gewonnen wurde. Wenn Trump nun zwischen legalen und illegalen Stimmen unterscheidet, erklärt er zwar die Gesetzgebung des Staates Pennsylvania, dernach alle rechtzeitig abgegebenen Stimmen ausgezählt werden müssen, für illegal und sein persönliches Empfinden für legal, gleichwohl tut er nichts anderes, als der Prämisse des Systems zu folgen. Der gemäß interessiert gar nicht, wie tatsächlich abgestimmt wurde – die Auszählung (wir erinnern an Florida 2000) ist alles. 

Während geschätzte zehn von zehn Kommentatoren darüber sinnieren, wie das nun alles ausgehen und ob der abgewählte Präsident gar noch zum weltberühmtesten Hausbesetzer werde, scheint der eigentliche Zweck der juristischen Manöver des Trump-Lagers woanders zu liegen. Es geht, denke ich, schon gar nicht mehr um 2020, es geht um 2024. 

Das Theater dieser Wochen vor der Wahl eintrainierten Beschuldigungen ohne Evidenz und Beweise soll für die kommende Wahl ein initiales Narrativ bereitstellen, das der trumpistischen Kernbewegung, die unbesehen glaubt, was immer »The Donald« behauptet, den Schwung, die Einheit und – am wichtigsten – das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, verschafft. Einen zentralen Glaubenssatz, der lange genug mobilisieren kann. Mit einem Wort, der für 2024 das wird, was die Birther-Bewegung¹ für 2016 war. Donald Trump wird nicht der letzte Trumpist gewesen sein, doch welche Narrengestalt immer in vier Jahren antritt – sie mag Ivanka Trump heißen oder Jared Kushner, Sarah Palin oder gleich Sean Hannity –, die Legende von der gestohlenen Wahl des Jahres 2020 dürfte im Zentrum des Kampfs um die Stimmen stehen. 

Überall Feinde

Ich möchte heute gern zwei Dinge tun. Zum einen den alten gegen den kommenden Präsidenten halten, anreißen, was die Differenzen sind, was sie bedeuten und was beide schließlich doch eint. Und zum anderen auf eine seltsam konstante Wirkung Donald Trumps hinweisen, auf die wir 2016 nicht vorbereitet waren, mit der umzugehen wir aber werden lernen müssen. Nicht, weil irgendwer von uns Einfluss auf das Geschehen in den USA hätte, sondern weil das, was dort geschieht, uns beeinflusst. Und, wie gesagt: Auch wenn Trump fort ist – der Trumpismus wird vorerst bleiben. 

Was ist Trumpismus, was treibt ihn an? Seit Richard Nixon im Grunde und definitiv seit Ronald Reagan – also seit von jener »Grand Old Party« (GOP), die die Sklaverei beseitigt hat und lange Zeit für das etwas weniger reaktionäre Amerika stand, beim besten Willen nicht mehr zu reden geht – plagen die Republikaner sich mit der Frage, wie man eine Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung machen und zugleich deren Mehrheit gewinnen kann. Die Antwort hierauf ist eine Ideologie, die jedem Anflug von Solidarität und sozialer Staatlichkeit hysterisch begegnet. Diese Ideologie hat viel mit der Gründung und dem Werden der Vereinigten Staaten zu tun, aber sie wurde speziell in den letzten vierzig Jahren, eben seit Reagan, enorm forciert und propagiert und schließlich in ihrem Ablauf vollends von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgelöst. Da diese Wirklichkeit aber mit ihren kulturellen, juristischen und klassenbedingten Gegensätzen nicht aufhörte zu existieren, musste der ideelle Stau sich irgendwann entladen. Wie eine Gewitterwolke bis zum Rand angefüllt mit Wasser und elektrischer Spannung, hat sich die GOP mit Ideologemen aufgepumpt von Subsidiarität only über den zweiten Verfassungszusatz zum Recht auf Waffen, allzeit bereitem Antikommunismus und verkappt antisemitischer Rhetorik gegen Ostküsteneliten bis hin zu Xenophobie und Schwulenhass, Wissenschaftsfeindlichkeit und Misogynie, die sämtlich dem Zweck dienen, einer breiten Bevölkerungsschicht, die unter dem real existierenden Kapitalismus leidet, alternative Feindbilder zu verschaffen, an denen der grinsende Milliardär, der schuftende Stahlwerker und der rotnackige Farmer sich gemeinsam abarbeiten sollen. Das Geschäftsprinzip der Republikaner besteht darin, die natürlichen Feinde innerhalb des Kapitalismus unter dem Schirm der herrschenden Klasse zu versöhnen, durch ständiges Beschwören heraufziehender Bedrohungen – von innen, von außen. Hand hoch, wem hier historische Analogien einfallen. 

Der Trumpismus ist heute der stärkste Strom des republikanischen Delta, und er folgt diesem Muster. Wo in Deutschland drei Parteien vor sich hin gären – Union, FDP, AfD –, müssen in den USA Konservative, Liberale und neuere Rechte in einer Partei miteinander auskommen. Die Trumpisten unterscheidet von den anderen Strömungen der Republikaner ihr besonders angespanntes Verhältnis zur Wirklichkeit, ihre besondere Impulsivität und ihr besonderer Destruktivismus. Sie sind nicht grundsätzlich anders, nur enthemmt. Und treiben eine Politik, die restlos auf Affekten beruht. Was in anderen Strömungen lediglich ein Moment der Realisierung ausmacht – Populismus, meint das, als gezielt benutztes Mittel –, wird hier zum alleinigen, alles beherrschenden Element. Zur Lebensweise. Der Blitz war in der Wolke schon lange enthalten, die Entladung passierte an dem Punkt, da aus der Angst vor der Niederlage die Gewissheit der Niederlage wurde. Und das in zweifacher Hinsicht. 

Zum einen greift die resignative Einsicht um sich, dass die US-amerikanische Nation im wirtschaftlichen Kampf gegen das aufsteigende China auf lange Sicht ohne Chance sei. Und damit auch die Angst, kulturell, militärisch und politisch die weltweite Dominanz zu verlieren. Dass diese Angst nicht eingebildet ist, zeigen die Wachstumszahlen in nahezu allen Bereichen. Bei Kennziffern wie Bruttoinlandsprodukt, Export, Schwerindustrie, Hightech, Patentwirtschaft, Digitalisierung und anderem hat China die USA überholt oder ist dabei, sie zu überholen. 

Die andere Angst der Republikaner bezieht sich auf ihre Bewegung selbst. Der vielbesprochene demographische Wandel des Landes, die Spaltung in ein helles, liberales, tolerantes Amerika und eines, in dem Angst und Wut gegen Randgruppen und soziale Verlierer das Denken regieren, die Verschiebung des Mengenverhältnisses zugunsten der Liberals, hat eine hysterische Version der republikanischen Bewegung hervorgebracht. Gerade dass sie spüren, in einem diversen, offenen Land keine Rolle mehr zu spielen, weil ihnen die letzte Gewissheit genommen ist, als alte weiße Männer mit Waffe im Nachtschrank die Majorität des Landes zu stellen, macht den Grund für ihr besonderes Geschrei. In der Tradition Nixons sehen sie sich als schweigende Mehrheit, tatsächlich sind sie weder das eine noch das andere. Sie sind die schreiende Minderheit. 

Ist es möglich, nicht von Faschismus zu sprechen? Die augenfälligen Parallelen – rassistische Repression, Ermächtigung gegen bestehendes Gesetz, Internierung und Separation von Familien in Lagern – einmal beiseite, liegt dem Trumpismus mit der Angst, überholt zu werden, derselbe Komplex wie dem Faschismus zugrunde. Wie damals fürchtet eine imperialistische Großmacht den Verlust ihres militärisch-politischen Rangs in der Welt, und wie damals bilden die durch den Kapitalismus domestizierten Teile der Arbeiterklasse mit Teilen des Kleinbürgertums aufgrund ihrer Angst, kulturell, sozial und ökonomisch verdrängt zu werden, unter der Führung von Großkapitalisten (den Koch-Brüdern und eben Trumps zum Beispiel) eine Art Volksgemeinschaft, die nur einen penibel bestimmten Teil der Bevölkerung als genuines Volk anerkennt, wobei die Kriterien der Elision diesmal, anders als bei den Nazis, nicht ausschließlich biologische sind. Das Merkmal, das hier zum Faschismus noch fehlt, das wäre der Umbau der Verfassung. Doch auch sehr optimistische Zeitgenossen werden zugeben müssen, dass ein Präsident, der sich weigert, ein Wahlergebnis anzuerkennen, und bestehendes Recht als illegal bezeichnet, erste Anflüge in diese Richtung zeigt. 

Zweierlei Übel

Es fällt schwer, jener populären Rede zuzustimmen, derzufolge zwischen Biden und Trump recht eigentlich kein Unterschied liege. Von der Meinung, Biden sei gar schlimmer als Trump, gleich ganz zu schweigen. Natürlich ist Biden das kleinere Übel, was zunächst mal noch gar nicht bedeutet, dass man ihn aktiv unterstützen müsse. Biden wird uns die nächsten vier Jahre jede Menge Gründe und Gelegenheiten geben, gegen ihn und seine Politik Stellung zu beziehen. Doch wie eine Linke oder wie Kommunisten von heute sich zu inner­imperialistischen Konkurrenzkämpfen positionieren sollten, ist eine andere Frage und für heute nicht meine. Dieser Frage vorausgehen muss die Kenntnisnahme der sittlichen Substanz, die im Konflikt zwischen Blau und Rot seit der Neuaufstellung der politischen Landschaft in der Reagan-Ära liegt. 

Die ideologische Grundlage des politischen Handelns bei Trump ist ein Antietatismus, der ausgeprägter und aggressiver eigentlich nur noch bei Leuten der Marke Ron Paul zu finden wäre. Hier liegt eine maßgebliche Differenz zu Biden und der demokratischen Partei mitsamt Satelliten wie etwa dem linken Sozialdemokraten Bernie Sanders. Wo der Staat verworfen wird, wo die zynische Rede von der Eigenverantwortung umgeht wie seinerzeit das Gespenst in Europa, ist jener sittliche Restbestand verloren, der bis dato in der bürgerlichen Gesellschaft noch geruht haben mag. Donald Trump agiert als Architekt eines reinen Kapitalismus, in dem Formation und Produktionsverhältnis einfach zusammenfallen. Das zeigt sich im Konkreten: in der Ablehnung einer gesetzlichen Pflichtversicherung im Gesundheitsbereich, in Steuersenkungen und dem Abbau von Sozialleistungen, der Leugnung des industriell verursachten Klimawandels, der Behinderung von Umweltschutz, der unverhohlenen Deckung rassistischer Gruppen sowie der Waffenindustrie, im Kampf gegen alle Formen der Emanzipation und Liberalisierung, in der unmenschlichen Politik gegen Zuwanderung mitsamt gewaltsamer Trennung von Eltern und Kindern, einer seltsamen Verknüpfung von Deregulierung und Protektionismus (die man vielleicht als »Neoliberalismus in einem Land« bezeichnen kann) und endlich in der sogenannten Bekämpfung der Pandemie mit mehr als zehn Millionen bestätigten Infektionen und 250.000 Toten seit dem Frühjahr, von denen es einen Großteil ohne Trumps Economy-first-Direktive nicht gegeben hätte. Es sagt sich von Europa aus leicht dahin, dass Trump und Biden sich nichts nehmen. Für die Menschen in den USA macht es einen großen Unterschied, ob sie an Seuchen sterben, bis auf den Grund verarmen, von Rassisten in Uniform erschossen werden – oder eben nicht. 

Biden sei, sagte ich, das kleinere Übel. Mit Betonung aber auf Übel. Gewiss steht auch er für den kaum gebremsten Kapitalismus, zudem für die bekannte Unterwerfung seiner Partei vor der Wall Street (während die Republikaner es traditionell eher mit dem als ehrlich verklärten Kapital der Produktionssphäre halten). Dem Kandidaten gelang, eine breite Allianz gegen das blonde Scheusal zu gründen, die Arbeiterklasse wird wieder das erste Opfer dieser Allianz sein, sobald Biden sicher im Oval Office sitzt. Während Trump als Präsident seiner Wähler auftritt, gerierte Biden sich im Wahlkampf als der große Vereiniger der Nation. Er werde der Präsident aller Amerikaner sein, sagte er in der Wahlnacht. Die joviale Geste erweist sich mit Rücksicht auf die Realität der bürgerlichen Gesellschaft, die immer schon in Klassen gespalten ist, zwischen denen nicht bloß muntere Konkurrenz herrscht, sondern asymmetrische, veritable Unterdrückungsverhältnisse Bestand haben, als zynischer Hohn. Die Geste der nationalen Versöhnung verdeckt die Realität des Klassenkampfs. Auch Trump verdeckt diese Realität, aber nicht durch Versöhnung, er kreiert alternative Spaltungen. Derselbe Zweck auf entgegengesetzten Wegen. Mit Rücksicht darauf, dass auch in linken Kreisen fast ausschließlich über die Gegensätzlichkeit der beiden Kandidaten geredet wurde, erweist sich, dass die beiden im Spiel gegen- und miteinander sogar noch mehr jenen Zweck des Verdeckens erfüllen als jeweils allein. Es ist nicht möglich, einen Begriff vom politisch-ökonomischen Komplex der USA zu erlangen, wenn man diese beiden Verfahren, die Trump-Masche und die Biden-Masche, nicht als Seiten desselben Prozesses sieht. 

In den vergangenen vier Jahren wurde öfter auf Trumps Außenpolitik verwiesen, seinen fehlenden Interventionismus. Das passt zunächst zu einer Politik, die sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht (als Protektionismus) nach innen richtet. Doch Trumps Rhetorik gegen den NATO-Verbund, die wenig mit Friedensliebe und viel mit der Unlust zu tun hat, Geld ans Ausland abzudrücken, sowie das Fehlen eines vorzeigbaren Angriffskriegs in seiner Amtsperiode darf nicht blind machen dafür, dass auch unter Trump bereits bestehende Okkupationen von Ländern außerhalb des NATO-Bündnisgebiets fortgesetzt wurden und, wie schon unter Obama, die Kriegführung durch Drohnen das Hauptmittel der militärischen Bemühungen war. Der Drohnenkrieg wird weniger wahrgenommen, geschieht zum Teil ohne Kenntnis der Öffentlichkeit, doch er kostet nicht unbedingt weniger Menschenleben. Desgleichen erwies sich Trumps kalte Kriegführung als außerordentlich aggressiv, wie die wirtschaftlichen Attacken auf den Außenhandel Chinas, die diplomatischen gegen Russlands »Nord Stream 2« oder die gezielte Provokation terroristischer Vergeltung durch den Mordanschlag auf den iranischen General Kassem Soleimani zeigen. Das sollte berücksichtigen, wer, wie jetzt oft zu hören, davon redet, dass die Vereinigten Staaten unter Biden zu einer aktiven Kriegspolitik »zurückkehren« werden. 

Masken des Kapitals

Es bleibt Imperialismus. Und es war Imperialismus. Das kann nicht anders sein, weil die Gründe dafür kaum im Charakter des jeweiligen Oberbefehlshabers liegen. Nicht immer in den vergangenen vier Jahren ließ sich eine strategische Linie erkennen. Unter Obama gab es eine, unter Bush eine andere, und John Bolton hätte unter Trump gern eine installiert. Dessen impulsive, sprunghafte, kaum auszurechnende Art, die Dinge anzupacken, seine Unfähigkeit, zwischen persönlichen und politischen Belangen zu trennen, haben den Systemcharakter der US-amerikanischen Politik oftmals verdeckt. Aber nur für das Auge. Ein Fußballtrainer kann eine Mannschaft ohne taktische Orientierung auf den Platz schicken, das bedeutet nicht, dass sie nicht versuchen wird, ein Tor zu schießen. Bislang hatte es zwei Spielarten des Imperialismus gegeben, eine der Falken, eine der Tauben. Seit Trump gibt es eine dritte: den unorganisierten Imperialismus. 

Wenn man alle Bereiche der Politik durchgeht, fällt eine Konstante auf. Dieser Präsident hat uns alle dümmer gemacht. Wie Biden ist auch Trump eine Charaktermaske des Kapitals, doch schneidet die sehr viel mehr Grimassen. Er scheint oft selbst nicht gewusst zu haben, was er als nächstes tut. Das hat in den vier Jahren einiges angerichtet, manchmal aus Versehen Schlimmeres verhindert, meistens den Schaden noch vergrößert. Im Fall der Pandemie hat es Hunderttausende das Leben gekostet. So verwirrt der Mann war, verwirrt hat er vor allem uns. Mit »uns« meine ich nicht die bürgerliche Mitte, nicht den Moderator beim ZDF, die ambitionierte Biographin auf dem blauen Sofa oder das Mitglied der Zeitungsredaktion, das jeden Tag den neuesten Tweet des Präsidenten spöttisch zu kommentieren hatte. Die denken ohnehin immer nur im Plauderton. Ich meine uns, die wir gewohnt sind, geopolitische Zusammenhänge mit den Mitteln des historischen Materialismus zu analysieren. 

Es lag gewiss nicht allein an uns, das Phänomen war neu, und wir mussten lernen, damit umzugehen. Und sicher auch befand sich Trump nicht in der Position, in der man ihn einfach reden lassen kann. Doch möglicherweise haben wir uns zu oft, selbst getrieben von einer narzisstischen Kränkung, an der Rohheit und Dummheit dieses Narzissten abgearbeitet. Gestochene Pointen, moralische Dignität, intellektuelle Distinktion waren gegen ihn leicht zu haben. Darauf, dass dieser infantile Clown indiskutabel sei, konnten sich alle einigen. Das war selbstgefällig und enthielt die Gefahr, andere notwendige Kämpfe aus den Augen zu verlieren. 

Worin unsere Kränkung bestand? Zunächst mal tatsächlich darin, dass wir vier Jahre lang drölfmal täglich erinnert wurden, dass es diese aggressive Dummheit gibt und dass sie in der Trump-Bewegung zum kollektiven Bewusstsein, zur Kenntnis mithin ihrer Macht gekommen ist. Auf diese dauerhafte Erinnerung haben wir selbst impulsiv, aggressiv und nicht immer klug reagiert. Der tägliche Twitter-Takt, die Briefings im Weißen Haus, die Wahlveranstaltungen und internationalen Gipfel waren gnadenlos. Ständig wurde man auf die Kabarettebene heruntergezogen. Kaum je ging es um die Sache dahinter, immer um Entgleisung und Wortwahl und Affront und Dummheit. Nie zuvor wurde soviel über Politik geredet und nie so unpolitisch. 

Das ist der Trick, mit dem der Trumpismus – sein jeweiliger Kopf, seine Entourage, seine Propagandamaschine – in den kommenden Jahrzehnten arbeiten wird. Das ist der Trick, den abzuwehren wir lernen müssen. Vielleicht wird der Betrieb des West Wing nicht noch einmal so dumm, dreist und chaotisch sein, aber auch der Trumpismus als Richtung, von seinem Begründer gelöst, bedeutet die Vorherrschaft des Nebensächlichen. Auch die kommende Figur wird das irrationale, hermetische, affektiv aufgeladene Weltbild der Bewegung gezielt beliefern müssen, weil das das einzige ist, was diese Kundschaft bestellt. 

Anmerkung 

1 Der Verschwörungsmythos der »Birther« besagt, Barack Obama sei kein gebürtiger US-Amerikaner und habe deshalb nicht als Präsident kandidieren dürfen. 

 Junge Welt



Zum Tage: Stolpersteine

Diese sechs Stolpersteine befinden sich auf dem Gehweg im Zentrum von Hamminkeln an der Brüner Straße Nr. 8, neben Elektro Nickel und erinnern an die Mitglieder der jüdischen Familie Marchand

Hier lebte früher der Metzger Siegmund Marchand, geboren 1857, mit seiner Familie bis zum Naziterror 1939. Die Kinder von Siegmund und Judith Sophia Marchand besuchten in Hamminkeln die evangelische Schule und den christlichen Gottesdienst. Als Pfarrer Heitmeyer 1913 als Nachbar das Pfarrhaus bezog, reimte Siegmund Marchand: „Bin ich auch ein Israelit, so grüß' ich doch den Pfarrer mit.“ 

Im April 1939 zog das Ehepaar zur Tochter nach Moers. Zwei Jahre später brachte die Tochter die alten Marchands in einem jüdischen Altersheim in Mönchengladbach unter, in dem Glauben, dass ihre  Eltern dort sicher seien. Jedoch  wurde das Heim am 25. Juli 1942 aufgelöst und alle Bewohner mit einem Sammeltransport von Düsseldorf aus in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Das Ehepaar Marchand starb 1942 in Theresienstadt. 

Auch seine vier Kinder überlebten die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nicht. Tochter Rosa wurde in Lodz, Tochter Henny am 10.12.1941 in Riga und Tochter Erna in Stuffhof ermordet.

Kurt Marchand wanderte im September 1936 nach Argentinien aus und arbeitete in Buenos Aires als Krankenpfleger. Er wurde mit dem Leben nicht mehr fertig, aus Heimweh nahm er sich das Leben. Auf dem Stolperstein steht: „Flucht in den Tod“.

Quelle