Betreuter Terror

03_Breitscheidplatz_Berlin_foto_Emilio_Esbardo.jpg

V-Mann des LKA Nordrhein-Westfalen soll Gruppe um Weihnachtsmarkt-Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz angestachelt haben

Von Claudia Wangerin

Für zwölf Tote, 55 Verletzte und noch mehr Traumatisierte, die den Lkw-Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember überlebt haben, könnten staatliche Akteure weit mehr Verantwortung tragen, als bisher durch Berichte über »Pannen« der Ermittler bekannt wurde. Nach Zeugenaussagen hat ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA) die Islamistengruppe um Anis Amri zu Terroranschlägen angestachelt. »Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er nicht Informationen weitergegeben, sondern Sachverhalte geschaffen hat, die berichtenswert waren«, sagt Rechtsanwalt Ali Aydin aus Frankfurt am Main am Freitag im Gespräch mit junge Welt. »Sozusagen eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme«, fügte der Strafverteidiger hinzu. Aydins Mandant ist mit weiteren Personen im Verfahren gegen mutmaßliche Anhänger der Abu-Walaa-Gruppe angeklagt. Von den Mandanten seiner Kollegen wird der V-Mann »Murat« alias »VP-01« erheblich belastet.

Dies hatten der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und die Onlineausgabe der Berliner Morgenpost bereits am Donnerstag abend berichtet. Sie beriefen sich dabei auch auf Behördenpapiere. Ein früherer Islamist soll im Dezember 2016 mehrfach vor dem V-Mann gewarnt haben – dieser sei sogar »der radikalste« in der Gruppe gewesen. Er habe gesagt, man brauche »gute Männer, die in der Lage sind, Anschläge zu verüben«. Die meisten anderen Islamisten hätten nicht über Attentate in Deutschland gesprochen, da sie nach Syrien zum Kämpfen ausreisen wollten. Ausgerechnet die Honorarkraft des LKA soll aber mehrmals zu anderen Gruppenmitgliedern gesagt haben: »Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag.« In einem internen Bericht des Verfassungsschutzes in NRW hieß es, der V-Mann habe »nach einem zuverlässigen Mann für einen Anschlag mit einem Lkw« gesucht. Soweit bekannt, hatte der Tunesier Anis Amri am 19. Dezember 2016 einen Lastwagen gekapert, den polnischen Fahrer umgebracht und anschließend das Fahrzeug benutzt, um auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz Menschen zu töten.

»Nicht alles Zufälle« Das LKA Nordrhein-Westfalen soll die Aussagen des Aussteigers, der vor dem Provokateur »Murat« alias »VP-01« gewarnt hatte, als »wenig glaubwürdig« eingestuft haben – dabei habe es sich aber ausgerechnet auf die Einschätzung des V-Mannes selbst gestützt, hieß es. »Das Problem ist, dass das LKA jetzt aufklären soll, was es verbockt hat«, so Ali Aydin. Nach eigenen Angaben recherchierte der Strafverteidiger im Umfeld einer Hildesheimer Moschee. Auch dort hätten zwei Personen den V-Mann mit Sätzen zitiert, die jeweils als Aufforderung zu schweren Straftaten gelten müssen: »Lasst uns Handgranaten besorgen« und »Lasst uns Leute mit Messern abstechen«. Belastende Aussagen müssten natürlich immer kritisch begutachtet werden, so Aydin am Freitag gegenüber jW – »aber das können nicht alles Zufälle sein«. Zumal nicht alle dieser Zeugen zum Zeitpunkt ihrer Angaben gewusst hätten, dass es sich um einen V-Mann handelte.

Im Landtag von NRW befasst sich seit Freitag ein neuer Untersuchungsausschuss mit dem Fall Amri. Dessen Vorsitzender Jörg Geerlings (CDU) stellte gleich zu Beginn in Aussicht, das Gremium werde sich auch mit der Rolle des V-Mannes bei dem Anschlag in Berlin befassen. Vor dem mutmaßlichen Attentäter selbst soll ein syrischer Asylbewerber zweimal vergeblich gewarnt haben, wie das ZDF-Magazin »Frontal 21« diese Woche berichtete. Demnach hatte der Mann bereits im Herbst 2015 einem Sozialarbeiter seiner Unterkunft Amri als gefährlichen Islamisten mit Kontakten zur Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) geschildert. Im Sommer 2016 wiederholte der Syrer dies gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Andere »Pannen« waren schon wenige Tage nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt bekanntgeworden: In einem »Brennpunkt« am 23. Dezember zitierte die ARD aus Aktenvermerken, eine »Vertrauensperson« des LKA Nordrhein-Westfalen habe bereits Monate vor dem Anschlag von Amri erfahren, dass dieser »mittels Kriegswaffen (AK 47, Sprengstoff)« Anschläge in Deutschland begehen wolle. Codename der Quelle: »VP-01«. Soviel zum Stichwort »Arbeitsbeschaffungsnahme«. Zwischen Februar und März 2016 soll Amri von einem »geheimen Informanten des Verfassungsschutzes« von Dortmund nach Berlin gefahren worden sein. Auch diesem gegenüber war er offenbar gesprächig und machte »Angaben dazu, dass es sein Auftrag sei, im Sinne von Allah zu töten«, wie es im Originalvermerk heiß, der im »Brennpunkt« gezeigt wurde. Warnungen gab es also genug – wenn auch in einem Fall von einer Person, die den Attentäter womöglich selbst angestachelt hat.

Dauerthema im GTAZ So war Amri zwischen Februar und November 2016 Thema von sieben Besprechungen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern in Berlin. Im April 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Duisburg ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs gegen Amri eröffnet, weil er Sozialleistungen mehrfach bezogen hatte. Die Behörden wussten also, dass er mehrere Identitäten nutzte. Angeblich sahen sie dennoch keine Möglichkeit, den islamistischen »Gefährder« festzusetzen. Im Mai 2017 wurden nachträgliche Aktenmanipulationen bekannt: Die Kriminalpolizei hatte Amri in einem Vermerk vom 1. November 2016 als aktiven und gewerbsmäßigen Drogenhändler eingestuft. Das wäre ein Grund für einen Haftbefehl gewesen. Im Januar war jedoch ein neues Dokument aufgetaucht: Amri hatte demnach nur »möglicherweise Kleinsthandel« mit Drogen betrieben. Nach dem Anschlag soll er auf der Flucht in Italien von der Polizei erschossen worden sein.

Junge Welt