Zur Kenntlichkeit entstellt: Nachrufe auf Fidel Castro

Die traurige Entwicklung der TAZ – sichtbar auch an einem Kommentar zu Fidel Castro. Hier die notwendige Gegenrede.

NachDenkSeiten – Die kritische Website (Albrecht Müller) - 29.11.16, 17:03

Die NachDenkSeiten hatten in den gestrigen Hinweisen auf einen Kommentar in der TAZ hingewiesen. Protestiert hatte nur einer unserer Leser, Thomas Hillebrand. Ihn, der Kuba gut kennt und die Geschichte des Landes verfolgt hat, bat ich um eine andere Würdigung des verstorbenen Präsidenten und Revolutionsführers. Albrecht Müller.

Dass die NachDenkSeiten auf den erstaunlich oberflächlichen und ideologisch gefärbten Kommentar der TAZ hingewiesen haben und dies ohne Kommentar geschehen ist, ist ein Versehen. Das kann passieren, wenn man, wie Jens Berger gestern früh, die Hinweise unter Zeitdruck zusammenstellt.

Wie notwendig ein Kommentar unsererseits gewesen wäre, können Sie sicher ermessen, wenn Sie den Kommentar in der TAZ nachlesen.

Nun der Text des NachDenkSeiten-Lesers Hillebrand und am Ende noch eine kurze Anmerkung von mir:

Eine Würdigung von Fidel Castro und Kuba. Von Thomas Hillebrand.

Das Bild, das Carlos Manuel Álvarez, – noch – gänzlich unbekannter kubanischer Jung-Autor und Gründungsmitglied des in diesem Jahr erst gegründeten Onlinemagazins „El Estornudo – Alergías crónicas“ (Das Niesen – Chronische Allergien“) von Fidel Castro in der TAZ entwirft, ist von einer derart dreist-dümmlich-naiven Sicht, dass es unfreiwillig eher wie das Trauma-Tagebuch eines verhinderten Freud’schen (Urgroß-)Vater-Mörders denn als eine halbwegs ernst zu nehmende politische Einordnung wirkt. Dass solch ein Artikel aber in der „taz“ steht und Álvarez dort quasi als natives Testimonial für irgendeinen fantasierten Zustand Kubas und Castros verkauft werden soll, wundert natürlich nicht; dass er jedoch in die NDS ohne Anmerkung übernommen wurde, schon eher. 

Nun, dass sich jeder Nicht-Kubaner, der heute den Tod Fidel Castros bedauert und in diesem Mann vor allem den Gründer und Jahrzehnte langen Garanten für das Überleben der weltweit bisher einzigen funktionierenden sozialistischen und ja: natürlich demokratischen Gesellschaft erkennt, der linken Revolutions-Romantik schuldig macht, ist normal. Hätte es die kubanische Revolution, hätte es Castro nicht gegeben, wäre Kuba wohl heute ein von der Mafia, US-Oligarchen und jedem erdenklichen weiteren, vom schnellen Dollar angezogenen Gesindel beherrschtes Las Vegas mit Meerblick und das kubanische Volk dessen Diener und Bordell-Nachwuchslieferant. Und Folterer und Staatschef Fulgencio Batista und sein persönlicher Berater, der berüchtigte Mafioso Meyer Lanski würden Seit’ an Seit’ vereint in ihren Ehrengräbern unter schattigem Palmenidyll ruhen…

US-Embargo und CIA-Anschläge

Was dieser Fidel Alejandro Castro Ruz in der von einer radikalen Kommunismus-Phobie dominierten zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts seit 1959 für die Verwirklichung des kubanischen Sozialismus geleistet hat, ist schier unglaublich. 49 (neunundvierzig!) Jahre unter dem drakonischen US-Embargo und Blockade und dem der gesamten kapitalistischen Welt zu überleben (freilich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion), hunderte von CIA-Anschläge und 19 US-Präsidenten gleich mit dazu, das wirkt geradezu übermenschlich. Jedenfalls ist es jeden Respekt wert.

Unser junger, etwas verwirrter Freund Álvarez schreibt in seinem Artikel:

„Das Land, das uns Fidel Castro hinterlässt, ist zutiefst reaktionär, verwurzelt in dem unsinnigen Glauben, dass man nicht alles haben kann, dass man nicht einmal darauf hoffen kann, alles zu erreichen, sondern dass man auf eine Reihe von elementaren Dingen – die bürgerlichen und politischen Rechte, zum Beispiel – eben verzichten müsse, um andere zu erhalten, etwa das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung, auch wenn diese immer prekärer werden.“

Die ersten Punkte kann man aus Sicht eines jungen Menschen nachvollziehen, selbstverständlich. Es ist nicht zu verlangen, dass jeder Kubaner mit der tiefen Sehnsucht nach lebenslanger revolutionärer Solidarität geboren wird und den kapitalistischen, konsumistischen Herausforderungen die kalte Schulter zeigt. Bei den politischen Rechten wäre ich vorsichtiger. Hier zeigt der Kritiker vor allem seine fatale Ausblendung über die Folgen der drastischen US-Sanktionen.

Demokratie – wie geht das? Nach dem Muster der USA? Nach dem Muster Kubas?

Diese Ausblendung zieht er dann auch konsequent den ganzen Artikel durch. Zum anderen, viel schlimmer, kommt auch in ihm die sich geradezu global ausgebreitet habende Verachtung oder zumindest Geringschätzung sozialer Rechte zum Vorschein, oder er hält sie für schlicht selbstverständlich: Fidel Castro hinterlässt nämlich ein Land, in dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf eine Gesundheitsvorsorge und ärztliche Behandlung nach den jeweils höchsten therapeutischen Standards, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben, der Schutz von Familien, Schwangeren, Müttern und Kindern und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard sowie angemessener, gesunder Lebensmittel Verfassungsrang besitzt. Kuba ist ein Land, in dem Gerechtigkeit herrscht! Und es gibt keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in Kuba. Das sind zwei Sätze, die nicht wirklich spektakulär klingen, in Wahrheit aber einem Erdbeben gleichkommt. Oskar Lafontaine komprimiert ja immer wieder das einzig mögliche Kriterium, was denn eine Demokratie ausmacht, auf die simple Formel: die Interessen der Mehrheit des Volkes durchzusetzen. An dieser Stelle spätestens wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, Kuba sei keine Demokratie – und beispielhaft auf die USA oder Deutschland zeigen. Die Witzbolde, die das natürlich tun, wird es freilich nicht beeindrucken. Ein Mehrparteiensystem, in dem Großkonzerne das Sagen haben und diese dann noch in der jeweiligen Austausch-Regierung an Gesetzen mitschreiben oder gern auch vorformulieren dürfen, ein Mehrparteiensystem, in dem schlicht die Interessen der Wenigen vor denen der Vielen durchgesetzt werden, dort kann die theoretische Lotto-Chance, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen nicht zwingend als demokratisch gefeiert werden.

Kuba fühlt sich geradezu exemplarisch dem Weltfrieden verpflichtet, unterhält in jeder Hinsicht faire und konstruktive Beziehungen zu allen Ländern, mit denen es diplomatische verbunden ist. Im Rahmen der Hilfe für andere Länder des globalen Südens hat Kuba Vorbildliches geleistet, andere beuten diesen nur aus. In Kuba fehlt jeder widerliche Chauvinismus anderen Staaten und Völkern gegenüber, so wie wir ihn in Deutschland kennen. Und in Kuba gibt es keinen Rassismus. Alles das ist zutiefst mit der Figur Fidel Castro verbunden. Diese Liste wäre problemlos noch ellenlang fortzusetzen.

Aber die Freiheit!?! –
donnert es wuchtig drohend aus den engen Himmeln des Neoliberalismus. Huahh! Das ist der Moment für – natürlich Joachim Gauck, unseren Freiheits-Präsidenten. Der weiß das. Es ist die Freiheit des Neoliberalismus gemeint: eine breite, tiefgreifende Entsolidarisierung, das „Recht des Stärkeren“, die als alternativlos geadelte Ideologisierung des überall katastrophal gescheiterten „freien Marktes“, die Schleifung sozialer Errungenschaften und die Beteiligung an geopolitisch motivierten Angriffskriegen, um nur schnell das Nötigste zu nennen. Dies subsumiert sich unter die Begriffe der Verantwortung des Einzelnen für sich selbst und der Verantwortung des kapitalistischen Staates, der Ausbeutung anderer Staaten einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Selten oder nie hat dieses Land eine pervertiertere Begriffs-Umdeutung von der offizielen Spitze des Staates erfahren wie die Begriffe Freiheit und Verantwortung. 

Menschenrechte.

Vorab: wenn westliche Staaten, ehemalige Kolonisten, wenn NATO-Staaten zumal das Wort Menschenrechte in den Mund nehmen, dann tanzen die Magennerven Tango. Menschenrechte?! Bitte, bitte, haltet ihr alle euer großes, überhebliches Maul! Das ist ja nicht zu ertragen! Köstlich auch, wenn Kuba Zensur und staatliche Medienkontrolle vorgeworfen werden (nicht vom Autor)! Das ist natürlich echte Realsatire angesichts unserer servilen öffentlich-rechtlichen Staatsmedien.

Ein zumindest umstrittener Punkt ist die Verletzung einiger politischen Menschenrechte, also die mögliche Inhaftierung aus politischen Gründen, die Todesstrafe (seit 2003 nicht mehr vollstreckt) und die Einschränkung der Reisefreiheit in Kuba. Als klarer Gegner der Todesstrafe hoffe ich, dass sie in Kuba ganz abgeschafft wird. Aber ich bin ehrlich: seit der Annäherung der USA an Kuba (unser Autor ist ein Fan dieser Annäherung, klar) fürchte ich, dass die Öffnung Kubas in Richtung der kapitalistischen Welt kein gutes Ende nehmen wird. Die Propaganda-Instrumente des Westens, vor allem aber die bis ins letzte Teil ausgeklügelten Instrumentarien der Subversion werden Kuba durchdringen und diesen beispiellosen Sozialismus entkernen und schließlich zerstören. Der kubanische Sozialismus wäre jedenfalls ohne die genannten demokratischen Defizite niemals über diese über 50 Jahre möglich gewesen! Niemals! Die Macht des Imperiums hätte bei jeder noch so kleinen Öffnung die ganze Tür eingetreten und sie wird es jetzt auch tun. Jedenfalls musste Kuba so handeln wie es handelte. Es ist Fidel Castro selbst, der vor dieser gefährlichen Entwicklung warnte und seinen Bruder Raúl zu überzeugen suchte. Dieser sah es anders, wie wir wissen.

Fazit:

Kuba ist das Land, in dem ich wie nirgendwo die Würde des Menschen derart beeindruckend verwirklicht erlebt habe. Kuba wird sich erneuern müssen, keine Frage! Und selbstverständlich ist mit Castros Tod auch der Weg frei für – behutsame! – Veränderungen. Wie gesagt, ich sehe trotzdem mit großem Pessimismus in die Zukunft dieses Landes. Wenn „Intellektuelle“ wie Carlos Álvarez an Einfluss gewännen, sähe ich allerdings noch schwärzer für die Errungenschaften der Revolution als sonst schon.
Die Kraft und der politische Instinkt Fidel Castros werden Kuba und auch der Welt fehlen! 

Dieser Kommentar ist die private Meinung eines politisch interessierten Beobachters. Sie speist sich aus vielen Reisen in das Land. Th.H.


Anmerkung Albrecht Müller:

Die Einschätzung von Thomas Hillebrand teile ich über weite Strecken. Ich war allerdings anders als er nur zweimal in Kuba. Manches sehe ich etwas kritischer als unser Autor. Aber das sind Nuancen.

Leider muss ich seiner Prognose Recht geben. Es wird bergab gehen auch mit diesem Experiment. Nicht wegen seiner inneren Schwäche, sondern wegen der Atmosphäre weltumspannende Feindseligkeit, in der ein solches Experiment nicht weiter gedeihen kann. Das ist schade, denn die Menschheit bräuchte solche Versuche, wie sie von Fidel Castro begonnen worden waren.

An den Kommentaren und Berichten zum Tod von Fidel Castro kann man sehen, dass bei uns eine öffentliche Debatte in einer gelassenen Atmosphäre des Abwägens und mit dem Versuch einem Mann wie Fidel Castro einigermaßen gerecht zu werden, nicht mehr möglich ist. Sie ist geprägt vom ideologischen Grabenkampf, vom Austausch von Schlagworten und immer noch von einem offensichtlich sehr tief sitzenden Antikommunismus.

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