Was noch zur sexuellen Orientierung gesagt werden muss

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Gene oder Umwelt, Störung oder Normalität? Gedanken fürs 21. Jahrhundert

Am 30. August erschien eine neue Forschungsarbeit über die Genetik der sexuellen Orientierung [1] sowie mein begleitender Kommentar (Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären [2]). Kurz gesagt ergab die Untersuchung von rund einer halben Million Briten und US-Amerikanern, dass Gene nur einen moderaten Einfluss darauf haben, ob wir ausschließlich mit anders- oder auch mit gleichgeschlechtlichen Partnern Sex haben.

Das geht viel weiter als die Widerlegung der Idee eines spezifischen "Schwulen-" oder "Lesbengens", die seit den 1990ern in unserer Kultur herumgeistert. Denn selbst wenn man die Effekte aller von den Forschern gefundenen Genabschnitte - es waren zwei für Frauen und Männer, zwei nur für Männer und einer nur für Frauen - zusammennimmt, erklärt die Genetik nur einen kleinen Teil.

Der genetische Forschungsansatz

Wie zu erwarten war, sangen Verfechter des verhaltensgenetischen Ansatzes das alte Lied von der Gruppengröße: Man brauche eben die Daten von noch mehr Menschen, um das Phänomen genetisch zu erklären. Das setzt aber erstens voraus, dass eine starke genetische Erklärung wahrscheinlich ist. Dem widersprechen andere Daten, auf die ich noch eingehen werde. Und auch bei anderen Fragestellungen hat die Verhaltensgenetik nicht halten können, was vor und seit dem Humangenomprojekt versprochen wurde und wofür seit Jahrzehnten Milliardengelder fließen.

Zweitens werden noch größere Versuchsgruppen vor allem zum Fund immer kleinerer Effekte führen. Das ist schlicht Mathematik. Das heißt, die Liste der Genabschnitte, die man mit dem Sexualverhalten in Zusammenhang bringt, würde dann zwar immer länger. Diese neuen Funde würden aber für sich genommen immer weniger erklären. Dass die heute verbreiteten Verfahren zum Durchbruch führen, ist daher so gut wie ausgeschlossen. Deshalb bezeichnete ich diesen Forschungsansatz als widerlegt.

Fragen von Leserinnen und Lesern

Ich war dann aber doch über manche Fragen überrascht, die in der Diskussion des Artikels aufkamen: Ist Homosexualität nun angeboren oder nicht? Ist die gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung vielleicht doch eine Störung? Bedeuten die Forschungsdaten nicht, dass Homosexualität therapierbar ist? Und was besagen biologische Erklärungen im Vergleich zur Pädophilie?

Diese Fragen sind wichtig, weil auch im 21. Jahrhundert die Diskussion über Toleranz und Regulierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen (Stichwort: "Homo-Ehe") noch nicht vom Tisch ist. Die gute Nachricht: Auf die meisten genannten Fragen gibt es zwar keine genetischen, wohl aber philosophische, psychologische oder soziologische Antworten - oder zumindest vielversprechende Ansätze zur Beantwortung. Eigens für diesen Artikel habe ich mir die neuesten Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahre noch einmal näher angeschaut.

Warum Homosexualität keine psychische Störung ist

Am einfachsten lässt sich begründen, dass Homosexualität keine psychische Störung ist. Bis in die 1970er Jahre dachte man in Psychologie und Psychiatrie darüber noch anders. Zusammen mit der Einführung der Begriffe Hetero- und Homosexualität pathologisierten überhaupt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Mediziner die gleichgeschlechtliche Liebe. Entkriminalisiert wurde sie darum aber nicht.

Aus Gründen, deren Erklärung hier zu weit führen würde, halte ich selbst nicht so viel von der Unterteilung der Menschen in die Kategorien homo-, bi- oder heterosexuell (Vom Nachteil, "Homosexuell" zu sein [3]). Dem Verständnis halber will ich sie hier aber verwenden. Außerdem passt es zu unserem Zeitgeist, allem einen Stempel aufzudrücken. (Zu nennen wären dann noch: a-, metro-, pan-, sapio- oder wasauchimmersexuell.)

Unter dem Druck von Aktivisten überdachten führende Psychiater in den 1970ern ihre Ansichten. Eine neue Definition von "psychische Störung" sah in den USA zunächst - und bis heute - vor, dass subjektives Leiden oder ein eingeschränktes Funktionieren hierfür wesentlich sind (Die "amtliche" Fassung [4]). Im nächsten Schritt musste man dann einräumen, dass dort, wo Homo- oder Bisexuelle leiden oder eingeschränkt sind, das an der Ausgrenzung durch die Gesellschaft lag.

So entschied [5] die Führungsriege der American Psychiatric Association im November/Dezember 1973, Homosexualität nicht länger als psychische Störung anzusehen. Ein Mitgliederentscheid im Mai des Folgejahres bestätigte dies mehrheitlich. Es gab jedoch auch inneren Widerstand, zumal einige Psychiater mit Therapieversuchen viel Geld verdienten.

Menschengemachte Kategorien

Allgemeiner muss man sagen, dass sich naturwissenschaftlich überhaupt keine Grenze zwischen "gesund" und "krank" oder "normal" und "abnormal" ziehen lässt. Diese Unterscheidung treffen nur Menschen. Selbst wenn man die Frage rein statistisch beantworten will, muss man erst Normen setzen.

Dementsprechend weiß man, dass Steuergelder verschwendet werden, wenn es in einer Wissenschaftsmeldung heißt: "DFG fördert Neuroforschung im UKE: Was ist 'krank', was 'gesund'?" [6] Die Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die hier 1,9 Millionen bekommen haben, können im Gehirn gar keine Antwort auf diese Frage finden.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn man schon weiß, was "krank" ist, dann kann man im Körper nach entsprechenden Merkmalen suchen. Bei psychischen Störungen seit über 170 Jahren übrigens ohne durchschlagenden Erfolg (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral [7]).

Doch ich schweife ab. Wichtig ist noch die Feststellung, dass für die Frage, ob Hetero-, Homo- oder Wasauchimmersexualität eine Krankheit oder eine psychische Störung ist, der genetische Befund irrelevant ist. Das heißt: Ob es nun "Schwulengene" gibt oder nicht, ändert nichts an der Antwort auf die Frage.

Oder schauen Sie einmal in den Spiegel. Was für eine Augenfarbe sehen Sie da? Die ist wahrscheinlich stark genetisch determiniert. Trotzdem sind blaue, braune oder wasauchimmer Augen keine Krankheit.

Kann man Homosexualität nun therapieren?

Auf den Befund, dass es keine "Schwulengene" gibt, reagieren manche mit der Frage: Heißt das nicht, dass man Homosexualität nun doch therapieren kann?

Zunächst sei noch einmal daran erinnert, dass die neue Studie gar nicht spezifisch Homosexualität untersucht hat. Es ging schlicht darum, ob die Teilnehmer mindestens einmal im Leben gleichgeschlechtlichen Sex gehabt hatten. Diese Personen nannten die Forscher dann etwas umständlich "nicht-heterosexuell".

Man kann Laien dieses Missverständnis aber kaum verübeln, wenn gar Nature News titelte "Kein 'Schwulengen': Mega-Studie nähert sich der genetischen Basis menschlicher Sexualität" [8]. Oder Forbes: "Das 'Schwulengen' ist ein Mythos, aber schwul sein ist 'natürlich', berichten Forscher" [9]. Oder BBC News, immerhin etwas weniger peinlich: "Kein Gen für sich hängt damit zusammen, schwul zu sein" [10].

Aus einer Studie, die nicht einmal Homosexualität untersucht hat, lässt sich prinzipiell nichts über "Homosexualitätsgene" herausfinden. Lang lebe der Wissenschaftsjournalismus! Dass ein einzelnes Gen keinen Effekt hat, stimmt so auch nicht. Für den Abschnitt rs34730029-11q12.1 errechneten die Forscher beispielsweise, dass eine von zwei Ausprägungen die Wahrscheinlichkeit für gleichgeschlechtliche Kontakte (allerdings nur bei den Männern) von 3,6% auf 4,0% erhöhte.

Das "Hetero-Gen"

Zudem übersehen viele, dass die Redeweise vom "Schwulengen" genauso ein "Hetero-Gen" impliziert. Bleiben wir beim Beispiel rs347… Bei der Ausprägung Guanin/Thymin an diesem Ort waren gleichgeschlechtliche Kontakte etwas wahrscheinlicher. Komplementär dazu waren aber bei der alternativen Ausprägung Thymin/Thymin ausschließlich andersgeschlechtliche Kontakte wahrscheinlicher.

Dass man nur Pressemitteilungen über angebliche Schwulen-, aber keine Hetero-Gene las, hängt wohl damit zusammen, dass wir Homosexualität immer noch als das Andere ansehen. Damit transportieren aber die dem Anschein nach so toleranten Berichte auch die Botschaft, Homosexualität sei nicht normal. Dazu später mehr.

Stattdessen zurück zur Frage, ob man Homosexualität therapieren kann, wenn es dafür keine (starke) genetische Basis gibt. Gegenfrage: Warum sollte man sie therapieren? Warum therapieren wir nicht Heterosexualität? Weil es keine Störung ist? Richtig! Und Homosexualität ist auch keine. Also warum über Therapie reden?

Dem therapeutischen Fehlschluss liegt wohl die Überzeugung zugrunde, dass ein Phänomen, für das es keine (starke) genetische Basis gibt, veränderlicher ist. Das kann man so aber nicht sagen. Wir gehen heute doch von einer großen Plastizität des Gehirns aus und wissen ebenfalls um die Regulierung von Genaktivität durch Umwelteinflüsse, etwa über epigenetische Mechanismen. Oder mit anderen Worten: Wenn prinzipiell alles veränderlich ist, warum dann nicht die sexuelle Orientierung?

Der liberale Rechtsstaat

Das richtige Gegenargument gegen intolerante Kräfte, die einen nicht so akzeptieren, wie man ist, besteht meiner Meinung nach nicht darin, sich ein falsches Argument über genetische Determination aus den Fingern zu saugen. Die richtige Erwiderung kann und muss meiner Meinung nach nur sein:

Wir leben in einem liberalen Rechtsstaat, in dem erlaubt ist, was nicht verboten ist, und man zudem frei ist, das zu tun, was man will, sofern man nicht die Freiheit eines Anderen einschränkt. Ergänzend könnte man noch hinzufügen, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit ein Grundrecht und die Sexualität ein wesentlicher Teil davon ist. Insofern darf der Staat Bi-, Hetero- oder Homosexualität nicht nur nicht verbieten, sondern muss er sogar ermöglichen, dass Menschen diesen Neigungen nachgehen können.

Man hat das Argument von der biologischen oder genetischen Determination der Sexualität mitunter verwendet, um Konservative zur Zustimmung etwa zur "Homo-Ehe" zu bewegen. Der sensibelste Punkt ist dabei das Adoptionsrecht. Gemäß Befragungen [11] scheinen manche Konservative zu denken, dass Homosexualität weniger "ansteckend" ist, wenn sie von Geburt an festgelegt ist.

Dass diese biologische Rhetorik nach hinten losgehen kann, sehen wir jetzt, wo eine Studie die Vorstellung von "Schwulengenen" unterminiert. Man sollte ehrlich rechtsstaatlich und rechtsphilosophisch diskutieren, anstatt zu versuchen, seinen Diskussionsgegner mit konstruierten biologischen Argumenten zu überzeugen.

Ich bin jedoch optimistischer, dass sich der Gedanke, Homosexualität müsse man therapieren, therapieren lässt. Mitunter reicht das Verständnis eines guten Artikels zum Thema.

Ist Homosexualität nun angeboren?

Wir haben gesehen, dass der genetische Einfluss auf die sexuelle Orientierung beim heutigen Wissen moderat ist und es unwahrscheinlich ist, dass zukünftige Forschung der Verhaltensgenetik an dieser Einsicht rüttelt. Lässt sich damit die Frage beantworten, ob die geschlechtliche Auswahl unserer Sexpartner angeboren ist oder nicht?

"Genetisch" ist nicht dasselbe wie "angeboren". Letzteres bezieht sich auf das, was bei der Geburt feststeht. Und dafür können eben auch biopsychosoziale Einflüsse während der Schwangerschaft eine Rolle spielen: Denken wir etwa an ein Umweltgift, Stress oder Armut der Eltern.

Die meines Wissens bisher beste Untersuchung dieser Frage stammt von Niklas Långström vom schwedischen Karolinska Institut und Kollegen. Diese verwendeten die Daten von fast 4000 schwedischen Zwillingspaaren, die zwischen 1959 und 1985 geboren waren und in einen Online-Fragebogen Angaben über ihr Sexualleben machten. Die 2010 veröffentlichte Studie [12] ist eine der wenigen, die auf repräsentativen Daten beruht und Teilnehmer nicht etwa über Kontaktanzeigen warb, was die Ergebnisse oft verzerrt.

Umwelt hat größeren Einfluss

Auch für diese Untersuchung wurde kein komplexer Begriff von Homosexualität verwendet, sondern schlicht nach gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten gefragt. Diese bejahten 5,6% der Männer und 7,8% der Frauen. Allerdings hatten diese Männer im Mittel 12,9 und die Frauen 3,5 gleichgeschlechtliche Partner gehabt. Damit lässt sich vermuten, dass viele dieser Befragten nicht nur einmal mit jemandem vom gleichen Geschlecht experimentierten, sondern sich davon wirklich angezogen fühlten.

Von den 807 eineiigen männlichen Zwillingspaaren hatte bei 71 mindestens ein Zwilling schon einmal gleichgeschlechtlichen Sex gehabt. Nur bei sieben Paaren hatten jedoch beide Zwillinge dies bejaht. Bei den Frauen waren es 26 von 214. Mit anderen Worten: Nur 10% (Männer) beziehungsweise 12% (Frauen) der eineiigen Zwillingspaare mit gleichgeschlechtlichem Kontakt stimmten trotz der großen genetischen Ähnlichkeit in ihrem Sexualverhalten überein.

Zusammen mit den Daten für die zweieiigen Paare errechneten die Forscher schließlich, dass sich für die Männer 39% der Unterschiede im Sexualverhalten durch die Gene, doch 61% durch die Umwelt erklären ließen. Für die Frauen waren es 19% und 81%. Als die Forscher noch die Anzahl der gleichgeschlechtlichen Kontakte miteinbezogen, sank der geschätzte genetische Beitrag noch einmal etwas.

Wie Erblichkeitsschätzungen insgesamt sind auch diese Berechnungen von der konkreten Umwelt abhängig, in der die Personen - hier: die schwedischen Zwillinge - aufwuchsen. Passend zu der eingangs zitierten neuen Studie zeigen aber auch diese Daten, dass die Gene keinen so starken Einfluss auf das Sexualverhalten haben, wie einige (einschließlich einiger Homosexueller) denken.

Der Geburtsfolgeeffekt

Damit ist die Frage, ob Homosexualität (und damit auch Heterosexualität) angeboren ist, aber noch nicht beantwortet. Der meinen Recherchen nach stärkste Effekt auf die sexuelle Orientierung, jedenfalls bei Männern, den die Wissenschaft bisher identifizieren konnte, ist die Geburtsfolge von Brüdern. Das heißt, Schwule haben mit höherer Wahrscheinlichkeit mindestens einen älteren Bruder. Hierzu hat insbesondere der Psychiater Ray Blanchard von der Universität Toronto in Kanada seit mehr als 25 Jahren geforscht.

Für die erst 2018 erschienene Meta-Analyse [13] wertete er die Daten von fast 50.000 Hetero- und Homosexuellen aus 30 Einzelstudien aus. Mit nur einer Ausnahme stützten alle Einzelstudien die von ihm erwartete Hypothese. Im Mittelwert hatten die homosexuellen Männer 31% mehr ältere Brüder als die heterosexuellen.

Das kann freilich nicht die sexuelle Orientierung aller Schwulen erklären, schlicht schon aufgrund der Tatsache, dass manche gar keinen älteren Bruder haben. Blanchard schätzt, dass insgesamt rund 15-29% der homosexuellen Männer ihre Vorliebe für andere Männer auf diesen Effekt zurückführen können. Überraschend ist zudem das Ergebnis des Forschers, dass besonders feminine schwule Männer mehr ältere Brüder als andere Homosexuelle haben. In seinen eigenen Worten:

Die brüderliche Geburtsfolge ist mit Abstand der am besten belegte Faktor, der die sexuelle Orientierung von Männern beeinflusst. Die Personen, die zu dieser Meta-Analyse beitrugen, stammten von Kanada im Norden bis Brasilien im Süden, vom Iran im Osten bis Samoa im Westen. Sie sind in einer beinahe 150-jährigen Periode geboren, die 1861 begann.

Blanchard, 2018, S. 11; dt. Übers. S. Schleim

Der Forscher vermutet einen biologischen Mechanismus hinter dem Effekt: Zellen des männlichen Fötus drängten während der Schwangerschaft in den Körper der Mutter ein und würden dort vom eigenen Immunsystem bekämpft. So entstünden Antikörper gegen die männlichen Zellen.

Diese würden wiederum in den Körper folgender männlicher Föten derselben Mutter eindringen und dort zu Veränderungen des Nervensystems des heranwachsenden Jungen führen. Das wäre ein angeborener, jedoch nicht genetischer Effekt.

In einem begleitenden Kommentar [14] weisen der Evolutionsbiologe Sergey Gavrilets von der Universität Tennessee und Kollegen auf die Vorläufigkeit dieser Erklärung hin. Diese Autoren favorisieren selbst einen epigenetischen Mechanismus, der näher erforscht werden sollte. So oder so erklärt der Effekt der Geburtsfolge allenfalls bei einem Teil die sexuelle Orientierung.

Zudem relativiert die aus der schwedischen Studie zitierte geringe Übereinstimmung unter Zwillingen, seien sie ein- oder zweieiig, die sich ja die Umwelt im Mutterleib teilen, die Tragkraft dieser Erklärung. Ich wiederhole noch einmal: "Nur 10% (Männer) beziehungsweise 12% (Frauen) der eineiigen Zwillingspaare mit gleichgeschlechtlichem Kontakt stimmten trotz der großen genetischen Übereinstimmung in ihrem Sexualverhalten überein."

Soziale Erklärungsversuche

Der Sozialwissenschaftler Menelaos Apostolou von der Universität Nicosia auf Zypern diskutiert [15] den Effekt im Kontext innerfamiliärer Konflikte. Er erinnert daran, dass in vorindustriellen Zeiten Ehen von den Eltern arrangiert worden seien. Dabei hätten die Eltern der Frau vor allem auf das Vermögen des möglichen Bräutigams geachtet.

Gemäß der typischen Erbfolge erhielt der älteste Sohn den größten Teil des familiären Vermögens. Dadurch hatten die jüngeren Brüder schlechtere Chancen, eine gute Ehefrau zu finden. Apostolou diskutiert nun, dass die Homosexualität jüngerer Brüder den innerfamiliären Konflikt aufgelöst und so zum Fortpflanzungserfolg des Erstgeborenen beigetragen haben könne.

Unabhängig von der Frage, inwiefern diese Erklärung für die Vergangenheit zutrifft, ergibt sich das Problem, inwieweit sie sich auf die heutige Zeit übertragen lässt: Ehen werden in der Regel nicht mehr arrangiert. Und eine sexuelle Präferenz äußert sich wahrscheinlich schon lange vor der Hochzeit des ältesten Bruders. Außerdem gilt auch hier: Was, wenn der erstgeborene oder einzige Sohn homosexuelle Neigungen hat?

Ich kann auf diese Fragen keine abschließenden Antworten geben. Klar sollte aber nun geworden sein, dass die Gene nur einen kleinen Teil unserer sexuellen Orientierung erklären und darüber hinaus unklar ist, ob diese angeboren oder erst im Laufe des Lebens erworben ist. Die Zwillingsdaten sprechen eher für eine Festlegung nach der Geburt. Eine weitere soziale Erklärung werde ich im folgenden Abschnitt vorstellen.

Ist Homosexualität natürlich?

Eine andere beliebte Frage ist die, ob Homosexualität natürlich ist. Oder in einer Variante: Wie kann die Vorliebe fürs eigene Geschlecht im evolutionären Wettkampf um die meisten Nachkommen bestehen bleiben?

Zuerst einmal ein paar allgemeine Dinge: Sie sitzen aller Wahrscheinlichkeit nach gerade vor einem Computerbildschirm und starren auf dunkle Buchstaben auf einem hellen Hintergrund. Wie natürlich ist das?

Und wenn Fortpflanzungserfolg etwas über Natürlichkeit aussagt, dann wären also Länder wie Niger, Mali und Burundi mit durchschnittlich 6,6, 6,4 und 6,0 Kindern pro Frau die natürlichsten. Deutschland, Schweden oder die Niederlande mit nur 1,4, 1,9 oder 1,7 Kindern pro Frau wären hingegen eher unnatürlich.

Wenn man nun noch Natürlichkeit mit einem positiven Wert verbindet, dann würden die afrikanischen Länder ganz Europa in den Schatten stellen. Entweder schluckt man diese Kröte - und was ist dann eigentlich mit Sex, der nur zum Spaß dient? -, um Homosexualität als "unnatürlich" zu geißeln. Lasst uns also wie die Afrikaner leben! Oder man gibt zu, dass vieles in unserem "hochentwickelten" Leben nicht natürlich ist, dass das aber normal ist und man daher Homosexuellen auch keine Unnatürlichkeit vorwerfen kann.

Homosexualität in der Evolution

Zur Frage, wie Homosexualität in der Evolution entstehen kann, sei erst einmal angemerkt, dass man sich das bei Radios, Fernsehern, Computern und Mondraketen auch nicht unbedingt vorstellen könnte, es all diese Dinge aber trotzdem gibt. Der Mensch ist eben nicht nur ein Natur-, sondern auch ein Kulturwesen.

Für biologisch denkende Leser seien aber kurz zwei Hypothesen erwähnt: Die eine geht davon aus, dass Homosexuelle für ihre Neffen und Nichten sorgen, so deren Überlebenschancen erhöhen und damit auf familiärem Niveau zur Selektion geteilter Gene beitragen.

Der zweiten zufolge gibt es ein Gen auf dem X-Chromosom, das gleichzeitig Frauen fruchtbarer macht und Männer, die ja auch ein X-Chromosom haben, homosexuell werden lässt. Dann wäre der Fortpflanzungsnachteil der Schwulen im Mittel durch den Vorteil ihrer überdurchschnittlich fruchtbaren Schwestern kompensiert. Wenn es so ein Gen gäbe, dann hätte es aber wohl schon längst gefunden werden müssen, siehe oben.

Gleichgeschlechtlicher Sex im Tierreich

Eine Variante der Frage nach der Natürlichkeit von Homosexualität zielt nicht so sehr auf die Evolution, sondern vielmehr auf die Frage, ob es sie schon immer geben hat oder auch Tiere gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr haben. Letztere lässt sich eindeutig bejahen:

Der Evolutionsbiologe Julien Barthes von der Universität Montpellier in Frankreich und Kollegen führen an, dass in fast 450 Spezies gleichgeschlechtlicher Sex belegt ist [16]. Die Forscher betonen allerdings, dass das keine sexuelle Vorliebe in einem bedeutungsvolleren Sinn von "Homosexualität" beweist. Diese sei bisher nur beim Menschen beobachtet worden.

Homosexualität in der Geschichte

Die französischen Biologen haben auch angeblichen prähistorischen Belegen dafür, dass es menschliche Homosexualität schon immer gegeben habe, auf den Zahn gefühlt. Dabei ziehen sie das Fazit, dass die häufig angeführten Beispiele, meistens geht es um Höhlenmalereien, nicht schlüssig seien.

Oftmals sei das Geschlecht der abgebildeten Figuren nicht einmal eindeutig zuzuordnen. Ohne begleitenden Text sei zudem nicht entscheidbar, ob es schlicht um gleichgeschlechtlichen Sex oder wirklich eine homosexuelle Vorliebe ging. Für letztere stammten die ältesten Belege aus Ägypten (ca. 2400 v. Chr.).

Zudem habe es im antiken Griechenland, Rom und auch im alten China gleichgeschlechtliche Vorlieben in einem reicheren Sinne gegeben. Das nannte man aber noch nicht "Homosexualität", eine Bezeichnung, die, wie gesagt, erst im 19. Jahrhundert von Medizinern verbreitet wurde.

Auch im Interview mit dem Islamwissenschaftler Ali Ghandour wurde erst kürzlich besprochen, dass in islamischen Kulturen Liebe unter Männern durchaus als schicklich galt, auch wenn Analverkehr mitunter verpönt gewesen sei (Erotik im Islam: "Wir brauchen mehr Differenzierung" [17]). Die Homophobie, wie wir sie heute kennen, hätten vielmehr erst westliche Kolonialmächte in diese Länder exportiert.

Hierarchische Gesellschaften

Die französischen Evolutionsbiologen haben nun eine eigene, für den Laien vielleicht erst einmal ziemlich schräg klingende Erklärung dafür, wie Homosexualität in menschlichen Kulturen entstehen konnte: Sie vermuten, dass in Gesellschaften, die stärker in wohlhabende Ober- und ärmere Unterschichten unterteilt ("stratifiziert") seien, fruchtbare Frauen aus den unteren Schichten in die oberen heiraten und dort die Nachkommenzahl erhöhen würden. Das wiege den reproduktiven Nachteil Homosexueller auf.

Zur Überprüfung ihrer These untersuchten sie anthropologische Berichte über 107 Gesellschaften weltweit, die auf das Vorhandensein oder die Abwesenheit homosexueller Vorlieben schließen ließen. Das erste interessante Ergebnis ist, dass Homosexualität aller Wahrscheinlichkeit nach zwar über alle Regionen der Welt verbreitet ist, es aber auch Gesellschaften gibt, die das Phänomen gar nicht zu kennen scheinen.

Julien Barthes und Kollegen haben anthropologische Berichte über 107 Gesellschaften ausgewertet. Homosexualität gibt es höchstwahrscheinlich rund um den Globus (gefüllte Kreise). Es gibt allerdings auch Gesellschaften, in denen das Phänomen aller Wahrscheinlichkeit nach unbekannt ist (leere Kreise). Quelle: Barthes et al., 2015, PLoS1 [18]. Lizenz: CC BY 4.0 [19]

Ein aktuelles Beispiel stammt von den Aka, Jägern und Sammlern aus der Zentralafrikanischen Republik. Über diese heißt es:

Die Aka … hatten Schwierigkeiten damit, das Konzept und das Vorgehen gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen zu verstehen. Sie hatten dafür kein Wort und es war notwendig, den sexuellen Akt wiederholt zu beschreiben. Einige erwähnten, dass Kinder des gleichen Geschlechts (zwei Jungen oder zwei Mädchen) manchmal den Geschlechtsakt ihrer Eltern imitierten, während sie im Zeltlager spielten, und auch wir konnten diese spielerischen Interaktionen beobachten.

Hewlett & Hewlett, 2010, zit. n. Barthes et al., 2015; dt. Übers. S. Schleim

Gemäß der Analyse der Forscher ist Homosexualität in geschichteten Gesellschaften tatsächlich viel häufiger als in anderen Gesellschaften. Das legt nahe, dass die Vorliebe für das eigene Geschlecht auch von sozialen Faktoren abhängig ist.

Es sei auch noch einmal daran erinnert, dass gemäß der genetischen Studie mit der halben Million Teilnehmer die um 1970 geborenen rund vier- (Männer) bis zwölfmal (Frauen) so häufig gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen angegeben hatten als die um 1940 geborenen. Das ist ein immenser Anstieg in nur 30 Jahren, der sicher nicht genetisch zu erklären ist.

Fazit

Der Genetiker Khytam Dawood von der Pennsylvania State University und Kollegen kamen in einem Artikel [20] über genetische und Umwelteinflüsse auf die sexuelle Orientierung aus dem Jahr 2009 zu folgendem Ergebnis:

Während der letzten beiden Jahrzehnte wurden zunehmend Evidenzen gesammelt, dass sowohl familiäre als auch genetische Faktoren die sexuelle Orientierung von Männern und Frauen beeinflussen. … Zum jetzigen Zeitpunkt können über die genetischen oder umweltbedingten Determinanten der sexuellen Orientierung wenige Schlussfolgerungen mit Sicherheit gezogen werden.

Dawood et al., 2009, S. 277; dt. Übers. S. Schleim

Zu den "wenigen sicheren Schlussfolgerungen" würde ich aber diejenigen zählen, dass es, erstens, keine starke genetische Basis für die sexuelle Orientierung gibt (siehe die neue Studie mit der halben Million Teilnehmer), und sie, zweitens, auch nur eingeschränkt angeboren ist (siehe die große Studie mit den schwedischen Zwillingen). Zudem ist gleichgeschlechtlicher Sex in dem Sinne natürlich, dass er auch im Tierreich verbreitet ist, und sind homosexuelle Vorlieben in dem Sinne normal, dass es sie seit langer Zeit und in vielen verschiedenen Gesellschaften rund um die ganze Welt gibt.

Der in der Diskussion manchmal gezogene Vergleich mit der Pädophilie, die in diesem Sinne auch natürlich und normal sei, ist deplatziert: Wer seinen pädophilen Neigungen nachgeht oder Kinder schlicht sexuell missbraucht, um das Machtgefälle auszunutzen, schadet der Entwicklung dieser Menschen. Darum sind sexuelle Kontakte von Erwachsenen mit Kindern nachvollziehbarerweise verboten.

Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Kontakte oder Beziehungen unter Erwachsenen schaden aber niemanden und sind im Gegenteil für viele Menschen normaler und wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung. Als solche verdienen sie ebenso staatlichen Schutz, wie andere Formen menschlichen Zusammenseins. Die Frage nach der Therapie stellt sich erst gar nicht, da Homosexualität weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist.

Freie und tolerante Gesellschaft

Abschließend möchte ich erwähnen, dass ich an dem Thema kein anderes Interesse habe, als in einer toleranten, inklusiven, friedlichen und zivilen Gesellschaft zu leben. Wären die besten mir zur Verfügung stehenden Daten anders, dann wäre auch mein Artikel anders. Versuche, Opponenten aus dem konservativen Lager mit konstruierten biologischen Argumenten zu überzeugen, lehne ich nicht nur als unredlich ab, sondern auch, weil diese über kurz oder lang auf einen selbst zurückfallen.

Das Wissen, das die Medien und das Bildungswesen über das Thema sexuelle Orientierung verbreiten, finde ich enttäuschend. Was ich hier zusammengetragen habe, steht jedem Studenten über seine Universitätsbibliothek zur Verfügung. Für alle Internetnutzer auf der ganzen Welt sind zumindest die Zusammenfassungen (Abstracts) mit den wesentlichen Fakten zugänglich. Diesen Artikel konnte ich an einem Tag recherchieren und schreiben.

In den Schulen haben wir Projekt- und Orientierungswochen für das Berufsleben. Warum gibt es nichts Vergleichbares zur sexuellen Orientierung, wenn man bedenkt, welch ein wesentlicher Teil der Persönlichkeitsentfaltung dies im Laufe eines Menschenlebens ist? Ist es etwa besser, Jugendliche den Pornofilmchen im Internet zu überlassen?

Die rechtlichen und medizinischen Veränderungen, die mit dem Thema "Homosexualität" zusammenhängen, sind gerade einmal ein bis zwei Generationen alt. In manchen Bereichen setzen sie sich noch heute fort (Beispiel "Homo-Ehe"), ganz zu schweigen von Ländern, in denen heute noch Verbote oder überholte medizinische Sichtweisen bestehen.

Ich behaupte, dass wir noch so manche Überraschung erleben werden, wenn die Gesellschaft freier und toleranter wird. Und wieso sollten wir uns eine andere Gesellschaft wünschen?

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" [21] des Autors.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://science.sciencemag.org/content/365/6456/eaat7693.abstract
[2] https://www.heise.de/tp/features/Science-Genetik-kann-Sexualverhalten-nicht-erklaeren-4511034.html
[3] https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/vom-nachteil-homosexuell-zu-sein/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Die-amtliche-Fassung-3935301.html
[5] https://dx.doi.org/10.1186%2F1747-5341-7-4
[6] https://idw-online.de/de/news?id=662490
[7] https://www.heise.de/tp/features/ADHS-und-die-Suche-nach-dem-Heiligen-Gral-3792622.html
[8] https://www.nature.com/articles/d41586-019-02585-6
[9] https://www.forbes.com/sites/dawnstaceyennis/2019/08/30/the-gay-gene-is-a-myth-but-being-gay-is-natural-say-scientists/
[10] https://www.bbc.com/news/health-49484490
[11] https://doi.org/10.1080/00918369.2013.806175
[12] https://doi.org/10.1007/s10508-008-9386-1
[13] https://doi.org/10.1007/s10508-017-1007-4
[14] https://doi.org/10.1007/s10508-017-1092-4
[15] https://journals.sagepub.com/doi/10.1037/a0031521
[16] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0134817
[17] https://www.heise.de/tp/features/Erotik-im-Islam-Wir-brauchen-mehr-Differenzierung-4516229.html
[18] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0134817
[19] https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
[20] https://doi.org/10.1007/978-0-387-76727-7_19
[21] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/

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