Alina Buxmann, 16, besucht eine Schule in Union City, Pennsylvania. Sie berichtet im Austausch-Log regelmäßig von ihren Erfahrungen."Meine Gastmutter Kim schrie auf, als ich ihr die Schlagzeile von Diren D. vorlas. 'Von den Schuldgefühlen, die die Gasteltern des Jungen jetzt haben, werden sie sich nie erholen', sagte sie.
Mein 23-jähriger Gastbruder Tyler war ebenfalls bestürzt, sagte aber auch: Unerwünschte Eindringlinge nehme man eben nicht mit einem Stück Kuchen in Empfang. Er befürwortet die 'Castle Doktrin', die es Hauseigentümern erlaubt, Gewalt anzuwenden, sobald sie sich in ihrem Haus bedroht fühlen.
Wer Tyler kennt, würde ihn nicht als grausam oder kalt bezeichnen. Im Gegenteil: Er ist witzig und charmant, außerdem wohl das, was man einen stolzen 'Redneck' nennt. Früher wurde dieser Begriff für arme, weiße Farmer aus den Südstaaten verwendet, heute beschreibt er einen Lebensstil: Rednecks leben auf dem Land, fahren Geländewagen und Trucks, stehen auf Frauen und Bier, tragen Tarnkleidung - und gehen auf die Jagd.
Als im Dezember in unserer Region die Hirschjagd begann, kleidete sich der halbe Ort in Camouflage-Farben und stapfte in den Wald. Fürs Jagen schwänzten einige meiner Freunde sogar das Schwimmtraining. Mein Bruder war jeden Tag im Wald, bis er mir eines Morgens sein frisch geschossenes Reh präsentierte. Auch Facebook quoll über von Fotos stolzer Jäger, die vor ihren Trophäen posierten. Mein elfjähriger Cousin schoss sein erstes Reh, auch Jonas, der zweite deutsche Austauschschüler in Union City, entdeckte das Jagen für sich. Ich lehnte ab, als man mir einen Jagdausflug anbot.
Auch jetzt noch liegen Pfeil und Bogen sowie Jagdgewehr griffbereit in unserem Treppenhaus."
Johann besucht eine Schule in Wylie, Texas"Zuerst hielt ich den Tod von Diren für ein Gerücht. Ein Austauschschüler, der erschossen wurde? Unvorstellbar. Doch auf Facebook las ich mehr und mehr Posts und Kommentare dazu. Er bekam einen Namen, ein Gesicht, Freunde, Familie.
Die Amerikaner und ihre Liebe zu Waffen beginnt man erst zu begreifen, wenn man selbst zum Halb-Amerikaner wird. Hier gehört ein Waffenschrank ganz selbstverständlich in die meisten Wohnungen. Ab und zu sehe ich in Texas auch Menschen mit Waffe am Gürtel, ein Familienvater etwa, der Einkaufswagen und Kind durch den Supermarkt schiebt.
Den Amerikanern ihre Waffen weg zu nehmen wäre in etwa so, als würde man in Deutschland Alkohol verbieten. Einfach unvorstellbar. Amerikaner sind sehr freundliche Menschen, jeder hält hier dem anderen die Tür auf, Gespräche beginnen mit 'Wie war dein Tag?'. Nur muss man eben wissen, wo man des Amerikaners Linie überschreitet.
Der Tod von Diren beschäftigt mich sehr. Ein Austauschjahr ist dazu da, Jugendlichen den Wunsch zu erfüllen, ihren Traum zu leben. Es ist ein Jahr, das für uns das schönste aller Jahre sein sollte. Nicht unser letztes."
Elisabeth Schröter besuchte im Jahr 2011/12 eine Schule in Georgia. Sie berichtete im Austausch-Log regelmäßig von ihren Erfahrungen."Die Nachricht über das Unglück schockierte mich, verwundert war ich aber nicht. Meine Gastmutter hatte einen Revolver in ihrem Nachttisch. Jungs, die ich aus der Schule kannte, besaßen ein ganzes Arsenal, sie luden mich mehrmals zu ihren Schießveranstaltungen ein.
Ich ging nie mit, wollte trotzdem immer genau wissen, was sie machen; ich wollte einfach verstehen, warum Jugendliche mit Waffen umgehen, als wäre es Spielzeug. Sie schossen meist auf Eichhörnchen oder Dosen, ihre Eltern wussten davon. Gefährlich sei es nicht, sagten sie. Es mache einfach nur Spaß.
Als ich meinen Gastgroßvater das erste Mal besuchte, hielt dann auch ich das erste Mal eine Waffe in der Hand. Nachdem er mir eine Fahrstunde gegeben hatte, und ich stolz in einem Jeep durchs Unterholz gebrettert war, fragte er: 'Hey Elisabeth, wanna shoot a gun?' Ich war aufgeregt und zugleich eingeschüchtert.
Er gab mir ein altes Gewehr und zeigte mir, wie ich es halten musste. Ich sollte probieren, einen Blecheimer zu treffen. Zur großen Überraschung meines Großvaters gelang mir das sogar. Motiviert drückte er mir eine um einiges größere und schwerere Schrotflinte in die Hand. Als ich abdrückte, schleuderte mich der Rückstoß des Gewehrs nach hinten und der Knall des Gewehrs hinterließ ein Piepen in meinen Ohren, das erst am nächsten Tag komplett verschwunden war.
Als ich zum ersten Mal die Waffe in meinen Händen fühlte, spürte ich Respekt, aber auch Macht. Ich fühlte, dass diese Waffe zu viel mehr fähig wäre, als nur ein Loch im Eimer zu hinterlassen. Mir war auch klar: Den Respekt vor einer Schusswaffe verliert man viel zu schnell."
Anna besucht eine Schule in Manson, Iowa"Waffen spielen hier eine sehr große Rolle, so gut wie jeder besitzt mindestens eine. Meine Gastfamilie hat zwar keine Waffen im Haus, dafür all ihre Verwandten, auch die meisten meiner Freunde. Mir macht das Angst, vor allem in Kombination mit Alkohol. Es kann nichts Gutes dabei rauskommen, wenn Jugendliche unter Alkoholeinfluss Zugang zu Waffen haben.
Auch viele Schüler in der Unterstufe können schon mit Gewehren umgehen, das finde ich verantwortungslos. Ich glaube viele Unfälle wären vermeidbar, wenn Waffen nicht als ein alltäglicher Gegenstand im Haus wären. Erst vor einer Woche hatte sich hier eine Vierjährige beim Spielen mit einer Waffe erschossen."
Photo by: Anna Sophia Burch
Anna Sophia Burch verbrachte ihr Austauschjahr in Texas. Sie berichtete imAustausch-Log regelmäßig von ihren Erfahrungen."Der Schrecken sitzt mir tief in den Knochen, denn in meinem Austauschjahr in Texas befand ich mich selbst in Situationen, die schlimm hätten ausgehen können. Amerikaner sagen, sie besitzen Waffen, weil sie die eigene Familie schützen wollen. Das Misstrauen ist groß.
Die Angst vor einem Einbruch oder einer Kindsentführung erlebte ich auch bei meinen Gasteltern: Einer der ersten Hinweise war, dass ich mich vor nichts zu fürchten brauche, für den Notfall gebe es ein Gewehr im Schlafzimmer. Mit der stets aktivierten Alarmanlage fühlte ich mich oft wie in einem Hochsicherheitstrakt. Die Verteidigung von Grund und Boden, mittels derer sich früher die ersten Einwanderer ein Stück unbewohnter Prärie aneigneten, scheint sich zu einem uramerikanischen Charaktermerkmal entwickelt zu haben.
An meiner Highschool wurde sogar diskutiert, ob alle Lehrer mit einer Waffe ausgestattet werden sollten, um für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Klassenkameraden erwarteten ihren 18. Geburtstag voller Freude, um endlich Besitzer eines eigenen Gewehres zu werden. Wie ist es erklärbar, dass Alkoholkonsum erst ab dem 21. Lebensjahr legal ist, Waffenbesitz jedoch bereits mit 18 Jahren?
Als Austauschschülerin habe ich das extreme Sicherheitsbedürfnis der Amerikaner deutlich unterschätzt. Für europäische Jugendliche waren die konservativen Werte der Gesellschaft und die eingeschränkten Freiheiten neu, beengend und unverständlich. Die texanischen Teenager lernen von klein auf mit dieser Situation umzugehen. Zu Beginn war ich mir dieser vielen Konventionen und Regeln im Alltag nicht bewusst. Werden sie jedoch nicht berücksichtigt, läuft man Gefahr, in Konfliktsituationen zu geraten."
Melanie, 15, besucht eine Schule in der Nähe von Salt Lake City, Utah"Uns Austauschschüler hat der Tod von Diren sehr getroffen. Über Facebook-Gruppen sind wir gut vernetzt und fühlen uns wie eine Familie, obwohl die meisten von uns sich nicht persönlich kennen. Es gab große Diskussionen im Netz, wer Schuld ist.
Während meines Aufenthalts habe ich noch nichts Kriminelles erlebt, vielleicht liegt es daran, dass Utah ein sehr konservativer und religiöser Staat ist. Trotzdem hatte meine ehemalige, sehr religiöse Gastfamilie Waffen im Haus. Nach einem Abendessen holte mein Gastvater plötzlich seine Waffen aus dem Keller. Er zeigte mir, wie man sie bedient und wie man sie hält. Meine Gastmutter wurde hysterisch, da meine Programmregeln den Kontakt mit Waffen verbieten.
Ich habe mit Freunden und Lehrern über das Waffenrecht in den USA gesprochen. Viele meiner Freunde waren schockiert und konnten es nicht fassen. Bei einigen amerikanischen Mitschülern habe ich aber auch Kommentare gehört wie: 'Ich hätte Diren in dieser Situation ebenfalls erschossen'. Ein Lehrer hat mir erzählt, dass es in einigen Staaten, etwa Texas, nicht illegal ist, jemanden zu erschießen, wenn die jeweilige Person sich auf einem privaten Grundstück befindet.
Im Geschichtsunterricht habe ich gelernt, dass sich diese Auffassung auf die Verfassung stützt. Die Idee war, dass sich die Einwohner selbst beschützen könnten und im Falle eines weiteren Bürgerkriegs vorbereitet wären. Ich finde das total unangebracht für heutige Zeiten. Immer wieder hört man von Bürgern, die bei Schießereien ums Leben gekommen sind. Ich bete für Direns Familie."
Malte, 16, geht in der Nähe von San Antonio, Texas, zur Schule"Als ich von dem Tod des Austauschschülers gehört habe, war ich natürlich geschockt. Was mich aber sehr überrascht hat, waren die Reaktionen meiner amerikanischen Mitschüler: Sie nahmen es zwar sehr ernst, verteidigten jedoch den Schützen. Es sei sein Recht gewesen, den Austauschschüler zu erschießen. Ich habe mit meiner halben Schule darüber geredet, doch ich bekam immer dieselben Reaktionen. 'Ja, das passiert hier öfters', oder sie sagten, dass sie ihn in ihre Gebete einbeziehen werden.
Die Faustregel lautet: Betritt jemand mein Grundstück, darf ich feuern. Warum die Menschen hier so denken, kann ich nur verstehen, weil ich schon seit fast einem Jahr in dieser Kultur lebe. Viele verstehen ihr Leben als Nachfahren von Cowboys und finden Waffen deshalb harmlos. Auch meine Gastfamilie besitzt welche, sie verwahren sie in einem großen Safe. Oft laden Freunde Bilder in sozialen Netzwerken hoch, auf denen sie Tiere erschossen haben. Stolz wird der Kopf eines Rehs in die Kamera gehalten und mit 'Headshot', Kopfschuss, kommentiert. In den nächsten Wochen werde auch ich mit auf die Jagd genommen.
Man kann den Amerikanern ihre so geliebten Waffen nicht einfach wegnehmen, es ist großer Teil ihrer Kultur, auf den sie sehr stolz sind. Die meisten wissen damit umzugehen. Auch meine Ängste verschwanden wieder, als ich daran dachte, dass ich nur sehr vernünftige Menschen hier um mich herum habe, von denen keiner je einen anderen mit Absicht erschießen würde."
Anna, 15, besucht eine Schule in Oregon"Als ich mich für ein Auslandsjahr in den USA entschieden habe, habe ich mich auf die vielen neuen Erfahrungen gefreut - Angst hatte ich keine. Ich hatte nur Bedenken, dass es mich in einen der Südstaaten verschlagen könnte, wo es so viele Waffen gibt. Doch Waffen sind leider auch in Oregon, im Nordwesten der USA, beliebt. Seit meiner Ankunft Anfang August 2013 habe ich meine Gastfamilie zweimal gewechselt. In allen drei Familien gibt es Waffen im Haus, da alle meine Gastväter gerne jagen gehen. Natürlich sind die Waffen unter Verschluss, jedoch kennen bei zwei Familien sogar Kinder den Code für den Safe.
Vor etwa einem Monat hat ein Schüler meiner ehemaligen Highschool im Drogenrausch seine Mutter erschossen und seinen Vater angeschossen. Dieses zeigt mir nicht nur, dass Drogen den Verstand ausschalten, sondern auch, dass Waffen, die im Haus verfügbar sind, sehr viel Schaden anrichten können. Hätte es keine Waffen gegeben, wäre dieser Junge möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen, seine Eltern anzugreifen!
Nach dem Tod von Diren hat mir meine Schwester geschrieben, nun habe sie noch mehr Angst um mich. Es ist wahr, es könnte jedem von uns hier in den USA passieren, da Waffen so leicht verfügbar sind. Mein Jahr ist schon bald vorbei, und ich kann es kaum mehr erwarten, meine Liebsten in die Arme zu schließen."
Celine, 16, geht in Pittsburgh, Pennsylvania, zur Schule"Ich besuche eine amerikanische Highschool mitten in der Stadt. Hätte man mir vor acht Monaten gesagt, dass ich Schüsse bald als fast alltäglich ansehen würde, hätte ich wahrscheinlich gelacht. Doch es ist normal geworden, dass ich manchmal vor dem Einschlafen Schüsse draußen höre oder von Schüssen aufwache.
Waffen sind ein großer Bestandteil der amerikanischen Lebensweise, weshalb ich mittlerweile auch Sicherheitschecks als vollkommen alltäglich ansehe. Nicht nur an Flughäfen, in Museen oder anderen größeren Gebäuden - auch mein Schulalltag startet mit Metalldetektoren und einer Taschenkontrolle, erst anschließend werde ich in das eigentliche Schulgebäude gelassen. Immerhin wird die Schulsicherheit hier sehr ernst genommen. Berechtigterweise, wenn man bedenkt, welche schrecklichen Amokläufe passiert sind.
Auch ich bin mit Waffen in Berührung gekommen. Mein Gastvater hat mehrere Schusswaffen im Haus und verwahrt nach Vorschrift in einem verschlossenen Waffenschrank eingeschlossen. Er benutzt sie als Sportschütze. An Thanksgiving durfte ich die Männer der Familie zum Schießen begleiten. Es war eine gute Erfahrung, auch wenn ich nicht gut im Schießen war. Aber ich sah, wie verantwortungsbewusst mein Gastvater mit Waffen und Schützen umging. Alle trugen geeignete Kleidung und die Ungeübten wie ich durften nur Schießen, wenn sie jemanden mit ausreichend Erfahrung direkt neben sich hatten. Meine Familie geht streng mit dem Thema Waffen um, ich kann aber ganz offen mit ihnen darüber reden, dass manche strengere Waffengesetze fordern.
Ich kenne die genauen Umstände von Direns Tod nicht, aber Fakt ist, dass die Waffengesetze in den USA noch immer nicht auf dem Stand sind, auf dem sie sein könnten und sollten. Und Ereignisse wie dieses werden uns daran auf schmerzliche Weise immer wieder erinnern. Meine Gedanken sind bei der Familie und den Freunden von Diren."
Ylenia, 17, besucht derzeit eine Schule in Nebraska"Auf Facebook habe ich von Direns Tod erfahren. Wir Austauschschüler sind wie eine große Familie und waren uns alle einig: Das hätte nicht passieren dürfen, wir alle wünschen seinen Angehörigen viel Kraft.
Viele Amerikaner wissen gar nichts von seinem Tod, das finde ich schockierend. Als ich Freunden und Bekannten davon erzählte, waren sie zwar fassungslos und stimmten mir zu, dass der Mann, der auf den Jungen schoss, falsch gehandelt hat. Anders verhielt es sich aber, als ich das Thema "gun control" ansprach, da reagierten die meisten sehr defensiv.
Viele meiner Freunde gehen gern jagen, fast jeder Haushalt besitzt mindestens eine Waffe. Meiner Meinung nach zeigt der Vorfall in Montana jedoch, dass es eine Reform geben sollte."
cpa/fln