25. Juli 2017
Deutschland ist eine Autonation. Bekanntlich nehmen wir Deutschen die Begeisterung für die ingenieurstechnischen Meisterwerke unserer Premiumhersteller bereits mit der Muttermilch auf. Umso verstörender ist der nun ans Licht gekommene „Kartellskandal“ für unser nationales Selbstverständnis. Kann es etwa sein, dass die geballte deutsche Ingenieurskunst vor allem dafür eingesetzt wurde, ohnehin zu lasche Grenzwerte trickreich zu umgehen und Kunden, Zulieferer und Behörden zu betrügen? Geht es Audi, BMW, Porsche, Mercedes und VW etwa nicht um die Qualität ihrer Produkte und die Zufriedenheit der Kunden, sondern nur um die nackte Rendite? Regelmäßige Leser der NachDenkSeiten wird es kaum überraschen, dass man diese Fragen ohne Wenn und Aber bejahen muss. Das ist alles nicht wirklich neu. Doch wenn man nun liest, dass die Spitzen der deutschen Wirtschaft ihre Konzerne wegen „lumpiger“ 80 Euro Materialkosten zu einer Art „Automafia“ gemacht haben, kommt man dennoch aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ja, Deutschland hat ein Elitenproblem. Nicht nur die Autokonzerne, sondern wir – als Gesellschaft – müssen uns umorientieren. Ob uns die Politik dabei helfen kann, ist jedoch mehr als fraglich. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Wenn sich bestätigt, was der SPIEGEL in seiner jüngsten Ausgabe herausgefunden haben will, hat dies das Zeug, das deutsche Selbstbildnis in seinen Grundfesten zu zerstören. Deutschlands wirtschaftliches Rückgrat war über Jahrzehnte die scherzhaft so genannte „Deutschland AG“ – ein Netzwerk der großen Finanz- und Industriekonzerne der Nachkriegszeit, das mit dem Siegeszug des Finanzkapitalismus erodierte. Einst stolze Konzerne wie Grundig, Neckermann, Quelle oder die Dresdner Bank gibt es nicht mehr, andere Konzerne sind kaum mehr wiederzuerkennen: Der Stahlkonzern Mannesmann ist heute Teil eines weltweiten Mobilfunkkonzerns, das Industriekonglomerat Preussag firmiert heute als Touristikkonzern Tui. Einzig und alleine auf die großen alten Automobilkonzerne schien Verlass zu sein – VW läuft und läuft und ist immer noch im Besitz des Industriellenclans Porsche-Piech mit einer Sperrminorität des Landes Niedersachsen, bei BMW hat der Quandt-Klatten-Clan das Sagen und die Daimler AG ist zwar mehrheitlich im verwalteten Besitz von Fonds, Versicherungen und Banken, aber auch unabhängig und immer noch vermeintlicher Branchenprimus im Autobau.
Jeder siebte Job in Deutschland hängt – so will es zumindest eine gefälschte Statistik– von der Autobranche ab. Kein anderer Industriezweig ist derart gut mit der Politik vernetzt. Der Cheflobbyist der Autokonzerne ist ein ehemaliger Verkehrsminister und guter Freund der Kanzlerin und die Bundesumweltministerin hat ausgerechnet den „schmutzigsten Diesel“ auf Deutschlands Straßen zu ihrem Dienstwagen auserkoren – ja, so etwas ist wohl nur in Deutschland möglich. Doch auch etwas anderes ist wohl nur in Deutschland möglich – und zwar tolldreiste Betrügereien mitten unter den Augen der Aufsichtsbehörden. Dies zeigt ein Beispiel aus der SPIEGEL-Enthüllungsstory, das bislang noch gar nicht genug gewürdigt wurde.
Der AdBlue-Betrug
Wer sagt, Diesel hätten keine Zukunft und seien ein technisches Auslaufmodell, erzählt Unsinn. Wie kann es sonst sein, dass ein 40-Tonnen-LKW weniger Stickstoff ausstößt, als fast alle Diesel-PKW, die auf Deutschlands Straßen fahren? Die Antwort könnte simpler sein, als es die meisten denken. Stickoxide werden bei den allermeisten Diesel-Fahrzeugen heutzutage in einem Verfahren aus den Abgasen gefiltert, das sich „selektive katalytische Reduktion“ nennt. Dabei werden die Abgase – vereinfacht gesagt – unter Zugabe einer Harnstofflösung gereinigt. Diese Lösung wird in Deutschland unter dem Namen AdBlue vertrieben und LKWs können dieses „Wundermittel“ sogar an Tanksäulen tanken. Das ist preiswert und eigentlich problemlos. Dennoch setzen fast alle PKW-Hersteller stattdessen auf ein System, bei dem AdBlue im Rahmen der üblichen Inspektionen von der Fachwerkstatt nachgefüllt wird. Dafür gibt es zwei Gründe. Offiziell will man dem Fahrer nicht „zumuten“, auch noch eine zweite Flüssigkeit zu tanken. Inoffiziell darf man jedoch auch annehmen, dass dies ein wunderbares Zubrot für die Vertragswerkstätten ist – immerhin zahlt der Kunde in der Regel fast 100 Euro für das Auffüllen von ein paar Liter Flüssigkeit, die an der Zapfsäule pro Liter 50 Cent kostet.
Dafür zeigen sich die Hersteller jedoch an ganz anderer Stelle auffällig geizig. Die Tanks für AdBlue sind nämlich außergewöhnlich klein. So klein, dass das Nachtank-Konzept beim Service-Intervall gar nicht aufgehen kann. Das „kraftfahrttechnische Taschenbuch“ der Robert Bosch GmbH – eine Art Standardwerk für KFZ-Technik, das nun bereits in der 26. Auflage erschienen ist – beziffert den Verbrauch von AdBlue bei einer wirkungsvollen Katalyse der Stickoxide auf rund 5% des Kraftstoffverbrauchs. Nehmen wir einmal an, dass ein Diesel-PKW mit AdBlue-Technik im Schnitt sieben Liter Treibstoff auf 100 Kilometer verbraucht. Ein moderner Diesel muss mindestens alle 15.000 Kilometer zum Serviceintervall in die Werkstatt. Währenddessen müsste er bei normaler Betriebsweise also laut der Bosch-Rechnung rund 52 Liter AdBlue verbraucht haben. Das ist jedoch praktisch unmöglich, da die Tanks, die in modernen Dieselfahrzeugen verbaut werden, nur zwischen 8,5 Liter (Mercedes-C-Klasse) und 38,5 Liter (Mercedes GLS, der jedoch auch weit mehr verbraucht) liegen. Standardwagen aus dem großen Marktsegment der Mittelklasse wie Audi A6, 5er BMW und Passat haben meist einen Tank zwischen 13 und 17 Litern.
Der Tank der Premiumfahrzeuge fasst also nur ein Viertel des benötigten AdBlue. Wie kann das gehen? Gar nicht! In der Realität wird AdBlue ganz einfach durch eine „intelligente Motorsteuerung“ (aka Schummelsoftware) massiv unterdosiert. Damit reicht zwar der Tankinhalt bis zum nächsten Serviceintervall, die Filtration der Stickstoffe funktioniert jedoch aufgrund der zu niedrigen Dosierung in der Praxis nicht korrekt. Und warum baut man dann keinen größeren Tank ein? 50 Liter Stauraum sollten ja wohl in einem Mittelklassewagen zur Verfügung stehen. Die Antwort bieten die geheimen Absprachen, über die der SPIEGEL berichtet. Ein ausreichend großer AdBlue-Tank hätte die Hersteller ganze 80 Euro mehr gekostet. Wir reden hier übrigens über Autos wie den A7, die ab Werk gerne schon mal mindestens 70.000 Euro kosten.
Was muss in den Köpfen hochbezahlter Manager vorgehen, eine derartige kriminelle Energie zu entwickeln, nur um den Stückpreis ihrer Premiumartikel um rund ein Promille zu senken? Ganz ehrlich – dazu fehlt selbst mir die Vorstellungskraft.
Elitendämmerung
Offenbar sind die Eliten der deutschen Wirtschaft in einem Denkgebäude gefangen, das mit dem gesunden Menschenverstand nicht mehr greifbar ist. Wir haben es mit einer Parallelgesellschaft zu tun, die ihre eigenen Werte und Normen entwickelt hat, die auch mit unseren Gesetzen nicht mehr in Einklang stehen. Kaum wer würde sich wohl darüber wundern, wenn ein Amazon- oder eBay-Verkäufer es mit der CE-Kennzeichnung seiner billigen Importwaren nicht ganz so ernst nimmt. Aber dass die Crème de la Crème der deutschen Industrie Zulassungsnormen für ihre Premiumprodukte freier interpretiert als jeder Raser ein Tempo-30-Schild, ist doch … wenn auch nicht überraschend, dann doch zumindest ernüchternd.
Jetzt „nur“ auf die Eliten der Industrie zu schimpfen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Denn die Politik hat wirklich alles in ihrer Macht Stehende getan, um den Autokonzernen derartige kriminelle Taten durchgehen zu lassen – ja, man hat sie sogar dazu animiert.
Schauen Sie sich dazu bitte auch – sofern noch nicht geschehen – die Folge der Anstalt vom 7. März an, in der Max Uthoff, Claus von Wagner und ihre Gäste das Thema trefflich aufspießen.
An ihren Taten sollt ihr sie messen. Doch was die Bundesregierung in den letzten Jahrzehnten in Sachen Umwelt- und Verkehrspolitik tatsächlich umgesetzt hat, ist bestenfalls lächerlich, schlimmstenfalls skandalös. Tonnenschwere SUVs können immer noch dank Dienstwagenprivileg voll von der Steuer abgesetzt werden – je schwerer, schneller und teurer, desto mehr Steuern lassen sich sparen.
Schneller, schwerer und sparsamer?
Und wie sieht es mit den CO2-Ausstößen aus, die ja direkt mit dem Kraftstoffverbrauch korrelieren? Da hat die Klimakanzlerin doch ganz bestimmt ordentlich auf den Tisch gehauen und den Autobossen strenge Vorschriften gemacht! Mitnichten; zwar verbrauchen Neuwagen offiziell immer weniger Kraftstoff, aber dafür wurden die Messmethoden auch immer phantasievoller. Insider nehmen die offiziellen Verbrauchs- und Emissionswerte daher auch schon lange nicht mehr ernst. So stiegen laut den Messungen des unabhängigen ICCT die durchschnittlichen Abweichungen zwischen angegebenen und realen Verbrauchswerten von 9% im Jahre 2001 auf 42% im Jahre 2015. Die Motoren werden zwar in der Tat immer sauberer, dafür werden die Autos jedoch von Jahr zu Jahr größer, schwerer und damit durstiger. Ein 3er-BMW aus den frühen 90er-Jahren (Modell E30) wog noch zwischen 990 und 1330 Kilogramm. Aktuelle 3er-Modelle (Modell F30) wiegen hingegen bereits zwischen 1490 und 1725 Kilogramm. Da muss man sich natürlich schon anstrengen, wenn man den Flottenverbrauch von Jahr zu Jahr reduzieren will. Vor allem wenn man die Eselei perfektioniert hat, sinnfreie hochgelegte Blechungetüme, genannt SUVs, als Lifestyle-Produkte zu pushen, die bei einem Leergewicht von weit über der 2-Tonnen-Marke natürlich bereits rein physikalisch mehr Kraftstoff verbrauchen und damit mehr Abgase ausstoßen müssen. Wir haben immer mehr Autos, die immer schwerer werden und mit denen wir immer mehr Kilometer zurücklegen … da bräuchte es schon einen Super-Ingenieur, eine Mischung aus Daniel Düsentrieb und Tony Stark, um die Klimaversprechungen der Kanzlerin umsetzbar zu machen. Und da deutsche Ingenieure zwar verdammt gut, aber auch keine Comic-Gestalten sind, bleiben die Wünsche der Kanzlerin unerfüllbar und statt den Verbrauch zu minimieren, tüfteln die Entwicklungsabteilungen auf Weisung von oben lieber an betrügerischen Tricksereien.
Alternative Elektromobilität?
Wer einmal erahnen will, wie weit Deutschlands Premiummarken technisch zurückliegen, dem sei ein Besuch in Norwegen, Österreich oder Frankreich empfohlen. In Norwegen wurden in diesem Jahr erstmals mehr Elektro- und Hybridautos zugelassen als Fahrzeuge mit konventionellem Verbrennungsmotor. Das liegt natürlich an den niedrigen Stromkosten im Land der Fjorde, aber auch an der Infrastruktur. In unseren westlichen, nördlichen und südlichen Nachbarländern liegt der Anteil von Elektroautos bei den Neuzulassungen im Schnitt doppelt so hoch wie Deutschland. Das ist auch kein Wunder, da ausgerechnet im Autoland Deutschland Elektroautos nur unzureichend gefördert werden.
Während Deutschlands Premiummarken Milliarden in betrügerische Manipulationen gesteckt haben, hat das südafrikanische Wunderkind Elon Musk mit seinem Tesla-Konzern vom Silicon Valley aus die Branche im Alleingang revolutioniert. Richtig ist jedoch auch: Elektroautos ergeben nur dann einen Sinn, wenn der Strom umweltfreundlich erzeugt wird und genau das ist im Kohleparadies Deutschland noch nicht einmal gegeben. Je tiefer man in das Thema einsteigt, desto hoffnungsloser wird es.
Es ist hoffnungslos
Wie hoffnungslos der Status quo ist, zeigt die Aufarbeitung des „VW-Skandals“, der ja keinesfalls nur den Wolfsburger Konzern betraf. Der Rest der Branche rettet sich jedoch – zumindest in Deutschland – ohne Konsequenzen seitens der Politik aus der Affäre. Im Weggucken waren deutsche Politiker schon immer gut. Während es in den USA Milliardenstrafen hagelte und die betroffenen Autos kurzerhand stillgelegt wurden, passierte in Deutschland nichts. Das Kraftfahrtbundesamt genehmigte nach langem Hin und Her eine Softwarelösung(!) von VW, bei der bereits der Stickoxid-Zielwert eine Überschreitung des zulässigen Grenzwerts um das Drei- bis Fünffache beinhaltete. Das alles einen schlechten Witz zu nennen, wäre wohl eine massive Untertreibung.
Gelernt haben die Vorstände der Automobilbauer übrigens überhaupt nichts. VW-Chef Müller verbreitet gebetsmühlenartig seine Verschwörungstheorie, es gäbe „eine Kampagne gegen den Diesel“ und auch BMW phantasiert lieber von einer „Skandalisierung des Dieselantriebs“, anstatt Fehler einzugestehen und ernsthaft die Lehren daraus zu ziehen.
Aber was soll´s, die Parallelwelt der Automafia funktioniert ja auch weiterhin blendend. In branchennahen „Fachzeitungen“ wie AutoBILD oder Auto Motor und Sport werden auch weiterhin nach dem Motto „schneller, schwerer, teurer“ die Innovationen deutscher Premiumhersteller über den grünen Klee gelobt und Kritik an der Branche als Geplärre der üblichen Grünfinken belächelt. Das Management wird sich auch weiterhin feiern lassen, weiterhin die Kunden und die Zulieferer betrügen und dafür weiterhin von den Aktionären beglückwünscht werden. Und die Politik wird weiterhin ihre schützende Hand über die Machenschaften legen und den Lobbyisten jeden Wunsch von den Lippen ablesen.
Nächste Woche lädt Verkehrsminister Dobrindt zum „Dieselgipfel“ ein. Die Pressemeldungen liegen sicher jetzt schon vor: Zerknirscht werden sich die Manager zeigen und Besserung geloben. Und wer wird schon den Schwüren der Autoelite misstrauen? Die Politik wird – so viel ist jetzt schon klar – unbeschadet aus der Affäre gehen. Im September sind Wahlen und dann wird ein neuer Parteisoldat Verkehrsminister und der räumt dann so richtig auf. Versprochen!
Ein echter Wandel scheint weder politisch noch gesellschaftlich gewollt zu sein. Schauen wir mal, wie lange die Bürger noch an die Überlegenheit deutscher Premiummarken glauben und sich zum Preis eines kompletten Jahresgehalts ein tonnenschweres, höhergelegtes Ungetüm im Geländewagenlook andrehen lassen, obwohl sie doch in der Stadt leben und so etwas eigentlich gar nicht brauchen. Vielleicht wird ja auch das laufende Gerichtsverfahren, bei dem die Deutsche Umwelthilfe Fahrverbote in Stuttgart einklagen will, eine Weichenstellung sein. Denn wenn die Rechtssprechung bis in die letzte Instanz hinein den Grundsatz anerkennt, dass die Gesundheit der Menschen ein höheres Gut darstellt als die Profitinteressen der Industrie, könnten die Eliten der deutschen Industrie schon bald in die Bredouille kommen. Und wer weiß – vielleicht kann sich dann in zwanzig, dreißig Jahren auch niemand mehr so richtig daran erinnern, was BMW und Mercedes früher einmal gemacht haben; so wie es heute bei Mannesmann und der Preussag der Fall ist. Dinosaurier sterben … manchmal dauert es etwas länger.