Stanišić vs. Handke | Ein wenig Zögern kann nicht schaden

Den Satz „Das Zögern hat noch nie eine gute Geschichte erzählt“ sagt auf Seite 24 von Herkunft nicht die Ich-Figur, wie es in der Begründung der Jury zum Deutschen Buchpreis heißt, sondern deren Großmutter. So wichtig ist das nicht, und jene Ich-Figur kommentiert auch stehenden Fußes: „Ich weiß nicht, woher sie das hatte, aber es klang gut.“ Nicht so wichtig, weil sonst alles am Preisträger, dem 1978 im damals jugoslawischen und heute in der Republica Srpska in Bosnien und Herzegowina liegenden Višegrad geborenen Saša Stanišić, stimmt. Und fast alles an der Jurybegründung. „Stanišić ist ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut“, heißt es da.

Und wie Stanišić erzählen kann! Man weiß oft nicht, wo sie herkommen, diese Erinnerungen an eine Jugend in der Stadt, die der Literaturnobelpreisträger von 1961, Ivo Andrić, 1945 in seiner Chronik Die Brücke über die Drina so erschütternd und schön besungen hat. Dass Stanišić's Erinnerungen nur gut klingen, wäre aber eine freche Untertreibung. Mit jedem Satz überrascht Stanišić, aber das Zögern, ob man nun das gerade Gelesene noch einmal lesen sollte, führt nie zu einem Stocken im Lesfluss. Wenn es in der Jurybegründung weiter heißt, „unter jedem Satz dieses Romans“ warte „die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist. Verfügbar wird sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte“, will man gleich wieder zustimmen, würde das Buch nicht aus gutem Grund keine Gattungsbezeichnung auf dem Schmutztitel tragen. Es ist die Stärke dieses Nicht-Romans des Jahres, nicht lediglich der Fabulierkunst seines Autors entsprungen zu sein, während er doch immer auch beeindruckendes Zeugnis solcher Fabulierkunst ist.

„Erzählen machte das, was scheiße war, absurder und irgendwie erträglicher“, das steht auch in Herkunft. Allerdings fügt der Erzähler sogleich zögernd an: „vielleicht, ich weiß es nicht, ich war selten betroffen“. Direkt betroffen war der Sohn eines Serben und einer Bosnierin – kraft des „ersten Zufalls unserer Biografie: irgendwo geboren werden“ – jedoch vom Zerfall Jugoslawiens.

Nachdem die Jugoslawische Volksarmee im April 1992 Višegrad erobert hatte, übernahm im Mai des Jahres eine bosnisch-serbische Miliz die Kontrolle über die Stadt. Massaker an der bosnisch-muslimischen Bevölkerung begannen. Der Kriegskorrespondent der New York Times, Chris Hedges, sprach 1996 in einer Reportage aus Višegrad von Tausenden von Toten. Männer, Frauen und Kinder wurden von der Drina-Brücke gestoßen. Vom Haager Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien verurteilt wurde auch Milizenführer Milan Lukić, er verbüßt eine lebenslange Haftstrafe.

„Hinter die bosnischen Berge geheuerter Manhattan-Jounalist“

Ebenfalls 1996 besuchte der österreichische Schriftsteller Peter Handke, 1942 als Sohn einer Kärtner Slowenin und eines deutschen Wehrmachtsoldaten geboren, die Stadt an der Drina. Die Seiten, die er in seinem Buch Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise den Massakern widmet, sind durch ein für Handkes Reiseberichte aus den Kriegsjahren typisches Fragen charakterisiert. Handke fragt, woher die Medien all das eigentlich haben, was sie über den Krieg im zerfallenden Jugoslawien berichten. Oft gelingt es ihm so, die Gewissheit, in der vor allem westliche Zeitungen seinerzeit über Schuld und Unschuld in den Jugoslawienkriegen befanden, zu erschüttern. Auf den wenigen Seiten über die „weiland Ivo-Andrić-Stadt“ grenzt das Verfahren aber an Obszönität.

Die Beschreibung von Lukić, den der „nach Višegrad hinter die bosnischen Berge geheuerte Manhatan-Journalist“ Chris Hedges als barfüßiges Monster gezeichnet habe, erregte Handkes Zorn besonders: „die ganze Stadt ein grausiger Spielraum für nichts als ein paar Barfüßler im Katz-und-Maus mit ihren Hunderten von Opfern?“ fragt er.

In seiner Suggestivität und im Beharren auf einem „War damals nicht Bürgerkrieg?“ lässt dieser Text keine Gerechtigkeit walten, wie der Buchpreisträger 2019 dem Nobelpreisträger 2019 mit einer Anspielung auf dessen ebenfalls 1996 erschienen Text Gerechtigkeit für Serbien bei seiner Dankesrede zu Recht vorwarf. Er spreche über Handke, so Stanišić, „weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt. Dass ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat, und die in seine Texte der 90er Jahre hineinreicht.“ Dass Handke die Möglichkeit der Massaker geleugnet hätte, wie Stanišić meint, ist von einer Lektüre des Textes aber nicht gedeckt. Mehr Zögern, ein Lesen und Nachlesen wären gut gewesen. Und ein solches Zögern, ein genaues Lesen dessen, was in diesen Texten gesagt und nicht gesagt wird, würde auch der Debatte, die jetzt wieder um Handkes Reiseberichte aus der Zeit der Jugoslawienkriege ausgebrochen ist, mehr als gut tun.

Dieser Text ist die leicht erweiterte Fassung eines Kommentars, der im Freitag 42 erscheint



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