Schließlich gibt es ja das generische Maskulinum.

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Nachdem das Justizministerium einen Gesetzesentwurf vorgelegt hat, in dem weibliche Formen (z.B. „Gläubigerin“) auch für Männer gelten sollen („generisches Femininum“), gibt es (wieder mal) große Aufregung über „Gendergaga“ und „Diskriminierung von Männern.“ 1/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Komischerweise regen dieselben Menschen sich nicht auf, wenn männliche Formen (z.B. „Schuldner“) auch für Frauen gelten sollen („generisches Maskulinum“). Diese Praxis ist anscheinend gendertechnisch völlig rational und Frauen gegenüber kein bisschen diskriminierend. 2/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Begründet wird das gerne „sprachwissenschaftlich“ – in diesem Fall durch Seehofers Sprecher: „Während das generische Maskulinum … anerkannt ist für Menschen von männlichem und weiblichem Geschlecht, ist das generische Femininum … bislang sprachwissenschaftlich nicht anerkannt.“

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Was könnte „sprachwissenschaftlich anerkannt“ hier bedeuten? Wie der Name schon sagt, ist Sprach*wissenschaft* eine Wissenschaft, deren Aufgabe es nicht ist, sprachliche Phänomene „anzuerkennen“, sondern, sie zu beschreiben und (wenn möglich) zu erklären. 4/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Sprachwissenschaftliche Fragen wären etwa: a) Existiert ein „generisches Maskulinum“ und wenn ja, b) wie funktioniert es? und c) Existiert ein „generisches Femininum“ und d) wenn nein, warum nicht? Sehen wir uns diese Fragen genauer an. 5/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): a) Ein „generisches Maskulinum“ existiert in dem Sinne, dass es viele Texte gibt (zu denen auch viele Gesetzestexte gehören), in denen männliche Formen verwendet werden, aber andere Geschlechter „mitgemeint“ sein sollen. Da wir alle wissen, dass es solche Texte gibt, … 6/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): … funktioniert das bis zu einem gewissen Punkt. Damit sind wir bei b) – *wie* funktioniert es? Es funktioniert, weil es eine *gesellschaftliche Übereinkunft* gibt, diese Formen so zu verwenden. Mit Sprachwissenschaft hat das nichts zu tun. 7/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive können wir sagen: Maskuline Formen werden in der Sprachverarbeitung automatisch männlich interpretiert, die erweiterte „generische“ Interpretation erfordert einen messbaren gedanklichen Aufwand. 8/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Außerdem erzeugt die „generische“ Verwendung eine grundsätzliche Unsicherheit bei der Interpretation – wir können nie sicher sein, ob eine maskuline Form tatsächlich „generisch“ gemeint ist, oder eben, wie es ihre Bedeutung erwarten lässt, männlich. 9/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Dieser Grund allein sollte ausreichen, um zu verstehen, warum das „generische Maskulinum“ eine *schlechte* gesellschaftliche Übereinkunft ist, die im Interesse aller durch eine bessere (weniger vieldeutige und gedanklich aufwändige) ersetzt werden sollte 10/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Nun zu c) – gibt es ein „generisches Femininum“? Im Sinne einer (gesamt)gesellschaftlichen Übereinkunft ist die Frage klar mit „Nein“ zu beantworten. Es gibt zwar vereinzelte Satzungen und Ordnungen, die so formuliert sind, und es gibt Subkulturen, die es verwenden, aber… 11/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): … das sind Ausnahmen. Tatsächlich ist das generische Femininum von Luise Pusch ursprünglich (1988) vorgeschlagen worden, um daran die Absurdität des generischen Maskulinums zu demonstrieren. Wer Zugriff auf JSTOR hat, es ist ein brillanter Text: https://www.jstor.org/stable/20688696 12/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Die Frage ist nun, d) *warum* es diese Übereinkunft nicht gibt. Sprachlogische Gründe hat es nicht: Semantisch weibliche Formen geschlechtsneutral zu verwenden ist nicht weniger logisch als semantisch männliche Formen geschlechtsneutral zu verwenden. 13/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Die Gründe sind rein historisch-gesellschaftlicher Natur: In vielen Texten (gerade in Gesetzestexten) ging es lange nur um Männer, weil Frauen schlicht nicht für wichtig gehalten wurden. Auch als sich das langsam änderte, blieb das Männliche der Normalfall. 14/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Das häufig verwendete Wort „mitgemeint“ ist hier bezeichnend – Männer sind gemeint, Frauen eben nur mitgemeint. Es geht also nicht um „sprachwissenschaftliche“ Anerkennung, sondern um gesellschaftliche: Wollen wir, wie das Innenministerium, in einer Welt leben, 15/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): … in der Frauen (und andere) eine Art gedanklicher Nachtrag zu Männern sind? Dann ist das „generische Maskulinum“ genau die richtige Form. Oder wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen gleichermaßen „gemeint“ sind? Dann haben wir leider ein Problem, … 16/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): … denn der traditionelle Sprachgebrauch erlaubt das nicht ohne Weiteres. Er muss deshalb verändert werden. Man kann versuchen, das zu verhindern, indem man patriarchale Traditionen zu sprachwissenschaftlichen Fakten umdeklariert, aber dann hat man halt Unrecht. 17/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Speziell bei Gesetzestexten waren wir in der Diskussion eigentlich schon mal weiter, nämlich 2013, als die StVO geschlechtsneutral formuliert wurde. Das ist nicht an allen Stellen gut gelungen und an vielen Stellen wurden maskuline Formen übersehen, aber es war ein Anfang. 18/

Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch): Insofern: Gut gemacht, Justizministerium – der Gesetzesentwurf im „generischen Femininum“ erinnert uns daran, dass hier noch eine Aufgabe auf uns wartet. 19/19