Nobelpreis | Gezielt verirren

Henry David Thoreaus Walden ist ein Buch der Metamorphosen. Hier ein Schmetterling, der aus der Larve schlüpft, dort eine Strumpfbandnatter nach der Häutung. Thoreau beschreibt auch, wie sich ein Sterntaucher zum Mausern zurückzieht und seine Federn abstößt, sodass neue nachwachsen können. Nur so bleibt das Federkleid geschmeidig. Die ganze Natur, legt Thoreau nahe, sei ein ständiges Sich-Häuten, doch den Menschen fehle oft die Einbildungskraft für ihre Selbstverwandlung. Deswegen entwickelt er eine wandelbare, variationsreiche Sprache, die einen Stoffwechsel bildet mit dem, was sie beschreibt. Demokratie als politische Lebensform, betont der Philosoph Stanley Cavell in seiner Thoreau-Lektüre, sei angewiesen auf eine solche Offenheit der Sprache, sonst verkümmere sie zu Dogmatismus. Wenn sich die Sprache nicht mausert und häutet, schneiden wir uns vom Stoffwechsel mit anderen Menschen und der Natur ab.

Kein Werk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hat sich so ausdauernd der Arbeit an der Sprache verschrieben wie das Peter Handkes, das nun mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Sprache kann sich mausern, damit sie flugtüchtig werde und bleibe. Handke hat das Deutsche in seinem frühen Werk einer radikalen Sprachskepsis unterworfen, misstrauisch jeder Form der überkommenen Sprachkonvention gegenüber. Das Miteinander-Sprechen musste ja erst langsam wieder gelernt werden unter den langen Schatten des Nationalsozialismus.

Verstörender Sündenfall

Kritiker, die in Handkes Hinwendung zum Bildlichen, Hymnischen und zum „hohen Ton“ seit Ende der 1970er Jahre nur den Bruch sehen wollten, verkannten die unterschwellige Kontinuität: die Entnazifizierung der deutschen Sprache. Die einzigartige Zugewandtheit, mit der seine Prosa den Dingen der Welt begegnet, ist eine lange Emanzipationsgeschichte weg von der Sprache der Väter – weg von einer Sprache, die der Welt befehlen will, hin zu einer Sprache, die sich anreden, ja berühren lässt von der Welt. Einer Sprache, die das Staunen wieder lernt und darüber den Dialog sucht.

So etwa in einem seiner faszinierendsten Romane, Die Wiederholung von 1986: Es ist die Geschichte des Filip Kobal auf Spurensuche nach seinem Bruder, der während des Zweiten Weltkriegs als Partisan im slowenischen Karst verschollen war. Während der Suche beginnt er mithilfe des alten Wörterbuchs seines Bruders Slowenisch zu lernen und mit seinen Sinnen die slowenische Kulturlandschaft zu ertasten. Als er dann, nach 25 Jahren, diese Erfahrung verschriftlicht, tut er dies in einer poetischen Sprache, die erst durch die Andersheit des Slowenischen zum Leben erweckt wurde. Die Tätersprache wurde durch die Begegnung mit einer Opfersprache aus ihrer Starre gelöst. Die Erzählanlage der Wiederholung sucht also die faschistische Traumatisierung des Deutschen im hegelianischen Sinne „aufzuheben“: sowohl zu überwinden als auch im Gedenken zu halten.

Handke steckt hier natürlich tief in seiner eigenen Lebensgeschichte: sein Aufbegehren gegen die Vaterkultur, die nach dem Nationalsozialismus oft unbehelligt weiterwalten konnte, seine Sehnsucht nach der slowenischstämmigen Mutter, die sich das Leben nahm. Daraus speiste sich seine habsburgische Sensibilität fürs Supranationale und, in den 90er Jahren, seine Apologie der Vielvölkeridee „Jugoslawien“, die ja aus dem Partisanenkampf gegen den Nationalsozialismus geboren worden war. Dass Handke während der Balkankriege dann für Serbien Partei ergriff, das sich zur „Schutzmacht“ dieser Idee aufgeschwungen hatte, ist ein verstörender Sündenfall. Dass er sich, antinationalistisch motiviert, auf die Seite eines Ultranationalismus schlug, ist zutiefst widersprüchlich. Vielleicht ist die beharrliche Auseinandersetzung mit der Parzivalgeschichte in seinen Texten ja auch eine Suche nach seiner eigenen Mitleidsfrage an die Opfer der serbischen Kriegsverbrechen. Am Ende des Epos erlöst Parzival den siechen Gralshüter dadurch, dass es ihm endlich gelingt, Mitleid zu zeigen: „Onkel, was quält dich so?“

Nach Bekanntgabe des Nobelpreises an Peter Handke hat sich das Feuilleton hinter den alten Urteilen verschanzt. Damit hat man es sich zu leicht gemacht. Denn Handkes Erzählkunst ist eben auch eine immens politische Herausforderung in Zeiten globaler ökologischer Krisen. Sein Schreiben ist eine Schulung der Aufmerksamkeit, die uns an unsere Körperlichkeit gemahnt: Erst durch unsere Sinneswahrnehmungen, erst durch unsere Bewegungen werden wir zu dem, was wir sind.

In einer Zeit, da wir unsere planetarischen Existenzbedingungen verdrängt haben und von den Dingen der Natur fast nur noch ihren Tauschwert kennen, verpflichtet uns Handkes Ästhetik auf unser Menschsein: auf unsere Kreatürlichkeit und Sterblichkeit, auf unsere Sinnlichkeit und die unzähligen Stoffwechsel mit nicht-menschlichem Leben, auf unser Angewiesensein auf andere Menschen. Sein ganzes Werk ist ein Aufbegehren gegen den bürgerlichen Mythos des autonomen Subjekts – gegen die lebensfeindliche Illusion, wir könnten als körperloser Geist irgendwo außerhalb der Wechselbeziehungen des Lebens existieren. Seine Erzählfiguren dagegen brechen in die Welt auf, um sich „entschlossen zu verirren“ und für die Begegnungen in der Welt Sprachformen zu finden. Wenn dies gelingt, und hier ist Handke ganz nah an Thoreaus Poetik, dann wird es „im Tag noch einmal Tag“.

Geologie der Seele

In Zeiten, da wir alle unsere Flüsse begradigt, alle unsere Wälder zum Strammstehen abgerichtet und alle unsere nicht-menschlichen Mitbewohner in Rote Listen eingetragen haben, ist jede kulturelle Praxis, die uns in Verbindung hält mit dem Gewebe des Lebens, revolutionär: „Er spürte noch die Biegung einiger Flüsse in sich.“ – „Bäche in der Landschaft, Friedensadern im Körper.“ Solche Nachbilder der Welt im eigenen Körper spüren zu können, wird eine Überlebensfrage werden: Wenn wir das Leben nicht „sich hören lassen“, wenn wir stattdessen „das Erstaunlichste sofort auf einen Begriff bringen wollen“, dann kommen wir selbst nie „ins Hören“ und schneiden uns von unseren Lebensbedingungen ab. Wenn wir unsere Wahrnehmung der Umwelt nicht von den Konventionen der instrumentellen Vernunft entkoppeln, werden wir unfähig sein, die Verluste zu betrauern, die wir erleiden. Ohne Trauer werden wir die Risiken dieser Verluste für unser eigenes Leben grob unterschätzen. In Zeiten, da die industrielle Produktion so tief in den Stoffwechsel der Biosphäre eingegriffen hat, dass ein „irreparabler Bruch“ durch die Gesellschaft geht, wie es bereits Marx prognostiziert hat, wäre Trauerarbeit die Voraussetzung für jede grundsätzliche Veränderung.

Handkes Werk öffnet sich im Lauf seiner Entwicklung immer mehr den naturgeschichtlichen Horizonten des menschlichen Lebens: den Tiefengeschichten der Geologie und des Lebens. Damit wird er auch zu einem literarischen Vordenker für das Anthropozän. Seine Heldinnen und Helden streifen durch Anthropozän-Landschaften, sie legen Ablagerungen und Narben frei. Gegen Ende seines jüngsten Romans, Die Obstdiebin, tost aus einem Maisfeld, dem Inbegriff der globalen Domestikation, ein „frenetisches Rascheln“. Die Titelfigur erwartet, ersehnt „ein Riesentier“, etwas Wildes, ein Abenteuer. Es ist dann doch nur ein Mann, dem sie wohl schon öfters begegnet ist. Er zwängt sich „heraus ins Freie, in den Armen nur statt der Waldfrüchte ein Paar übereinandergeschichteter Knochen“. Eine scharf gestochene Vignette unserer Lebenswelt.

Dabei ist Handke frei von jeder Apokalyptik. Er scheint vielmehr beseelt von einem fast verstockten Optimismus angesichts der Resilienz der Dinge, den vielleicht folgende Generationen nicht mehr teilen werden. Seine Streifzüge durch unsere Industrielandschaften sind vor allem auch ein Plädoyer für die Commons – für die Notwendigkeit, Räume gemeinsam zu nutzen, zu lassen, zu bewohnen.

In Die Wiederholung führt „die Gewissheit, eine Gangart zu finden, ganz Gang zu sein“, Filip Kobal im slowenischen Karst zum utopischen Bild einer fruchtbaren Doline, in der Menschen mit „vollendeter Langsamkeit“ in Obstwiesen, Weinterrassen und Auwäldern arbeiten; „kein Ding der Welt war verloren gegangen“ in dieser Doline, der angeblich auch der „Große Atomblitz“ nichts anhaben könne. Damit es zu Begegnungen mit den Dingen der Welt kommt, damit Utopien entstehen können, damit Demokratie eine lebendige Utopie bleibt, dazu bedarf es aber einer Sprache, die sich mausern kann.



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