Merkels Flüchtlingspolitik - Die Vertrauensfrage

Die Kanzlerin hat die Vertrauensfrage gestellt. Nicht im Bundestag, sondern an das ganze Volk. Das war richtig - und riskant. Denn wer weiß, ob das Volk noch Vertrauen hat? 

Kolumne von Jakob Augstein

So einen Satz haben wir von der Kanzlerin bisher nie gehört: "Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Das ist die Vertrauensfrage. Gerhard Schröder hat sie seinerzeit im Bundestag zweimal gestellt. Angela Merkel stellt sie dem Volk. Will dieses Land Merkels Land bleiben? Die Kanzlerin fordert ihr Volk. Das ist neu. Bisher war Angela Merkel die Kanzlerin der fehlenden Zumutungen. Lange Jahre leitete sie Deutschland wie ein Heim für betreutes Wohnen. Die Leute liebten sie dafür. Angela Merkel gab den Leuten Vertrauen. Jetzt fordert sie es zurück. Hoffentlich ist noch genug vorhanden.

Kontrolle. Ordnung. Vernunft. Wer dagegen ist, dass mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, benutzt diese Worte - und zwar gegen die Kanzlerin. Ausgerechnet Angela Merkel, die Naturwissenschaftlerin im Amt, muss sich gegen den Vorwurf wehren, sie habe in der Flüchtlingskrise Kontrolle, Ordnung und Vernunft fahren lassen. Aber das ist entweder böswillig oder ignorant. Die Flüchtlingskrise ist nur ein weiteres Beispiel: In wesentlichen Fragen ist der Politik die Kontrolle längst entglitten. Die alte Ordnung ist perdu, und kein Kanzler der Welt kann sie wiederherstellen. Woher kommt da die Sicherheit? Aus dem Vertrauen.

"Die Dinge sind aus dem Ruder geraten", hat Innenminister Thomas de Maizière gesagt. Das ging gegen seine Kanzlerin. Die hatte die Grenzen geöffnet. De Maizière hat sie wieder geschlossen. Um das Staatsschiff wieder auf Kurs zu bringen. Aber auf welchen? Im Griechischen ist der Kybernetes der Steuermann, der dafür sorgt, dass der Kurs anliegt. Die Kybernetik ist die Lehre von der Steuerung der Systeme. Unsere Gegenwart ist ein kybernetisches Desaster. Die Mechanismen der Regulierung versagen. Nicht nur in der Flüchtlingskrise.

Bis in die Siebzigerjahre gab es im Westen ein großes Vertrauen in die steuernde Kraft der Politik. Dann wurde die Politik durch die Märkte abgelöst. Da konnte man auf Kontrolle verzichten - es gab ja die Selbstregulation. Aber dann kam die Finanzkrise und zerstörte auch diesen Glauben. Ausgerechnet Wolfgang Schäuble stellte im Jahr 2010 fest, "dass der Finanzmarkt sich nur noch um sich selbst dreht, statt seine Aufgabe zu erfüllen und eine vernünftige, nachhaltig wachsende Wirtschaft zu finanzieren." Schäuble fügte noch hinzu: "Das müssen wir ändern."

Eine riskante Personalisierung der Politik

Bekanntlich hielt er nicht Wort. Unter Merkel und Schäuble gab es keine neue Selbstermächtigung der Politik. Seitdem herrscht das Rette-sich-wer-Kann der Reichen. Das ist das Versagen dieser Kanzlerin. Das Vertrauen ins System hat gelitten. In der Flüchtlingskrise muss es nun ersetzt werden durch das Vertrauen in Merkels Person. Das ist eine riskante Personalisierung der Politik.

Die neue Völkerwanderung lässt sich nicht aufhalten. Die Kräfte des Ressentiments, die das Gegenteil behaupten, lügen. Sie sammeln sich gerade wieder. Man kann ihnen dabei zusehen: den Söders und Seehofers, den Kommentatoren der "FAZ" und der "Welt". Sie waren ein paar Tage ganz benommen von der unerwarteten Herzlichkeit, mit der die Landsleute plötzlich den Ausländern begegnen. Jetzt rufen sie nach einer Ordnung, die niemand mehr herstellen kann. Oder vielleicht doch? Aber wollen wir die Kosten tragen, solche Bilder ertragen: Soldaten an unseren Grenzen? Tote in unseren Zäunen? Unsere Bürgerwehren, die Jagd auf Illegale machen?

Die Kanzlerin will das offenbar nicht. Das wäre nicht "ihr Land". Auch so muss man diesen Satz verstehen. "Wir schaffen das!", hat sie also neulich gesagt. Was Merkel da vorhatte, nennt man performatives Sprechen. Gott sagt: Es werde Licht - und es ward Licht. Im Falle Merkels hat das schon einmal funktioniert: Im Herbst 2008 war das, als die Finanzkrise entbrannte. Merkel sagte damals: Die Einlagen sind sicher - und die Einlagen waren sicher. Aber anders als Gott ist die Kanzlerin nur beinahe allmächtig, und der Trick funktioniert nur unter einer Voraussetzung: Vertrauen. Das ist das Paradoxe daran: Der Satz, der Vertrauen schaffen soll, erfüllt seinen Zweck nur, wenn bereits Vertrauen besteht.

Hat sich die Magie der Kanzlerin jetzt verbraucht? "Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen, und wir schaffen das", sagte Merkel nun erneut. Hoffentlich gilt nicht die Regel aus dem Märchen: Ein Zauberspruch, der wiederholt werden muss, hat seine Kraft verloren.

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