Kult um Klimaaktivistin: Vergesst Greta Thunberg

Greta Thunberg hat in nur einem Jahr Übermenschliches erreicht. Allerdings ist sie immer noch ein Mensch. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, sie ziehen zu lassen.

Montag, 19.08.2019   15:05 Uhr

Greta Thunberg hat sich wieder gemeldet. Es sei ein sonniger Tag mit gutem Wind, schreibt die Klimaaktivistin per Twitter von ihrem Segeltörn nach New York, dazu Positionsdaten. Das ist jetzt 21 Stunden her, mittlerweile dürfte die "Malizia II" bereits nördlich an den Azoren vorbeigezogen sein, zwischen ihr und Amerika nur noch die Leere des Atlantischen Ozeans.

21 Stunden ohne Nachricht von Greta Thunberg, das stimmt allerdings nicht ganz. Sie selbst schweigt zwar, doch die Welt kann derweil selbstverständlich nicht aufhören, über sie zu reden. Vor ziemlich genau einem Jahr hat die schwedische Schülerin ihren Schulstreik für das Klima gestartet, in diesen 52 Wochen ist sie zur wahrscheinlich einflussreichsten Jugendikone seit den Beatles geworden, mit Millionen meist jugendlichen Anhängern, die mit ihr jeden Freitag den Unterricht ausfallen lassen, um für Klimaschutz zu protestieren.

Heimliche Kursänderung in den Urlaub

Die Welt hat Greta Thunberg viel zu verdanken. Sie hat eine ganze Generation politisiert. Sie hat das Klimathema mit einer Wucht ins öffentliche Bewusstsein gebracht, wie es weltpolitische Klimagipfel, wissenschaftliche Warnungen und aufrüttelnde Dokumentarfilme in Jahrzehnten nicht vermocht haben - und all das allein mit dem Mittel der aufrichtigen Beharrlichkeit einer ernsthaften Schülerin.

Es ist geradezu übermenschlich, was Greta Thunberg in diesem einen Jahr erreicht hat. Und deshalb ist es jetzt an der Zeit, sie ziehen zu lassen. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für eine heimliche Kursänderung. Keine Positionsmeldungen mehr von der "Malizia II", einfach weg vom Radar und ab in einen jahrelangen Urlaub. Es wäre das Beste für die Millionen von Fans und Gegnern Thunbergs, das Beste für das Weltklima und womöglich auch das Beste für Greta Thunberg selbst.

Denn die Welt ist Thunberg-verrückt geworden. Es hat schleichend begonnen, aber mittlerweile ist das ganze Ausmaß des Irrsinns offensichtlich. Es ist praktisch nicht mehr möglich, eine Zeitung aufzuschlagen, eine Nachrichtenwebsite zu lesen, einen Fernsehkanal einzuschalten, ohne sogleich in das Gesicht der jungen Schwedin zu blicken. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich dermaßen auf die Person Thunberg zentriert, als ginge es nicht um schmelzende Gletscher und drohende Überschwemmungen, sondern allein um das Tun und Lassen eines einzigen Individuums. Absurder Höhepunkt bisher ist die Debatte über die Frage, ob Thunbergs Bootsfahrt nach New York tatsächlich klimafreundlich sei. Ausgerechnet die der Klimaskepsis gänzlich unverdächtige "taz" hat ganz genau nachgerechnet und herausgefunden: "Gretas Törn schädlicher als Flug" - denn um die Segeljacht wieder nach Europa zurückzuführen, muss extra eine Crew eingeflogen werden.

Danach war kein Halten mehr. Es musste natürlich weiter gerechnet werden. Denn nicht nur verursacht Thunberg mit ihrer Reise andere Flugreisen, sie unternimmt sie auch noch auf einem Hightech-Segelboot, dessen Herstellungs-Klimabilanz schwer zweifelhaft ist. All die Journalisten, die zu ihrer Abreise angereist waren, sind ebenfalls nicht zu Fuß gekommen. Und wie viel CO2 verursachen eigentlich die Serverfarmen, die nötig sind, um all die Tweets und Berichte von der und über die Klimaaktivistin ans interessierte Publikum zu bringen?

Eine infantile Debatte

Diese Debatte ist infantil. Denn es ist vollkommen klar, dass auch Greta Thunberg keine makellose Lichtgestalt ist. Auch sie steckt, wie jedes menschliche Wesen, voller Widersprüche und Fehler. Sie ist keine Prophetin, sondern immer noch eine Schülerin aus Schweden. Darum ist es sinnlos, ihr individuelles Fehlverhalten vorzuwerfen und damit die gesamte Klimaschutzbewegung treffen zu wollen. Thunberg kann das Klima nicht allein retten, und darum ist es keine Überraschung, dass sie es auch nicht tut.

Greta Thunberg im September 2018 vor dem Schwedischen Parlament
Jonathan NACKSTRAND/ AFP

Greta Thunberg im September 2018 vor dem Schwedischen Parlament

Das ist wahrscheinlich weniger populär als neueste Nachrichten über eine mögliche Seekrankheit an Bord der "Malizia II", aber wirksamer Klimaschutz ist zwar auch eine individuelle, aber vor allem eine kollektive Aufgabe, die auf langwierigen politischen Konferenzen beschlossen und in Gesetzen und Vorschriften umgesetzt werden muss. Es spielt dafür schlicht keine Rolle, ob und wie Greta Thunberg nach New York kommt. Ganz im Gegenteil: Die absolute Fokussierung auf die junge Schwedin schadet der Sache, für die sie kämpft, denn sie folgt dem Naturgesetz des öffentlichen Interesses: Je höher der Aufstieg, desto tiefer der Fall. Wenn sich die Stimmung also unweigerlich dreht und das Interesse abflaut, wenn das letzte Buch verkauft, die Netflix-Doku gelaufen und der Schulstreik nichts Neues mehr ist - dann steht die Welt immer noch vor der Klimakatastrophe. Von der sie aber nichts mehr wissen will, weil sie satt ist von Bildern der Klimaikone. Man kann Greta Thunberg nur wünschen, dass sie unbeschadet wieder aus dem Personenkult herauskommt, der um sie entstanden ist.

Schon wird diskutiert, wie Greta Thunberg aus den USA zurückkehrt: Segelt sie wieder? Nimmt sie ein Containerschiff? Fliegt sie gar? Lasst es egal sein. Kümmert euch lieber um den Klimaschutz.



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