KMK in der Stasis - In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders.

Recht auf Bildung für Tote?


Vor allem ein Ablenkungsmanöver

Wie die Kultusminister das Recht auf Bildung benutzen, um ihre Untätigkeit beim Schutz der Schulen zu verdecken

Von Mark Siemons

Bei den jüngsten Corona-Beschlüssen der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin hat sich diese Woche wieder ein rhetorisches Manöver durchgesetzt, mit dem die deutschen Kultusminister schon seit Ausbruch der Pandemie erstaunlich viel Erfolg haben: Sie geben sich den Anschein, als würden sie gegen irgendeinen mächtigen Gegner tapfer für das Recht auf Bildung und den Wert des Schulunterrichts streiten. In diesem Sinne ist der Verzicht auf irgendwelche weiteren national verbindlichen Schutzmaßnahmen für die Schulen von mehreren Politikern als Erfolg bezeichnet worden, um das Schulsystem zu „stabilisieren“, wie es Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne gegenüber dem „Spiegel“ formulierte.

Sieht Erfolge Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne
Sieht Erfolge: Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne dpa


Doch die Suggestion ist gleich doppelt trügerisch. Zum einen gibt es gar keinen Gegner, der das Recht auf Bildung und den Wert des Schulunterrichts in Zweifel zieht. Zum anderen haben die Kultusminister in diesem Jahr selber kaum etwas getan, um diesem Recht und diesem Wert in ihrem eigenen Verantwortungsbereich Geltung zu verschaffen. Obwohl schon im Frühjahr eine zweite Welle der Corona-Ansteckungen für den Herbst vorausgesagt wurde, trafen die zuständigen politischen Instanzen all die Monate über keine strukturellen und institutionellen Vorkehrungen, um den Schulunterricht unter den in der gesamten übrigen Gesellschaft üblichen Schutzbedingungen gegen das Virus zu gewährleisten. Ihr sogenanntes Hygienekonzept beschränkte sich auf Appelle, die ihnen keinen konzeptionellen und finanziellen Aufwand abverlangten: Hände waschen, stoßlüften, Klassen voneinander trennen; später kam dann noch die Aufforderung hinzu, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen. So scheint die Rhetorik der Bildung, auf die die Kultusminister in den vergangenen Monaten ihre Aktivitäten konzentrierten, bei näherem Hinsehen bloß als Ersatz für die Mühe zu fungieren, ihr im realen Leben einen Platz zu verschaffen. Es stellt sich die beunruhigende Frage, ob das womöglich symptomatisch ist für den Gebrauch des Bildungsbegriffs, wie er amtlicherseits auch sonst üblich ist.

Die unmittelbare Funktion der „Recht auf Bildung“Rhetorik ist offensichtlich: Sie soll das Recht auf Gesundheitsschutz erst gar nicht zum Thema werden lassen. Es wird so getan, als sei die Rolle der Schulen in der Corona-Politik darin erschöpft, zum sogenannten Infektionsgeschehen der Gesamtgesellschaft prozentual mehr oder weniger beizutragen. In den Worten des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans: „Das dort bestehende Infektionsrisiko nehmen wir in Kauf, weil die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen nicht abermals leiden darf.“ Dass es aber auch um den Schutz dieser einzelnen Schüler und Lehrer geht, die in der für sie verpflichtenden Schule der direkten Fürsorgepflicht des Staats unterstehen, wird von dem ministerpräsidentiellen „Wir“ ausdrücklich ausgeblendet. Die Ablenkungsstrategie geht allerdings nicht vollständig auf: Während sich die Ministerpräsidenten und Kultusminister als Hüter des Prinzips präsentieren, üben die Vertretungen der unmittelbar Betroffenen – zum Beispiel Bundesschülerkonferenz, Deutscher Lehrerverband und Bundeselternrat – bezeichnenderweise scharfe Kritik an dem vorenthaltenen Schutz. Schüler und Lehrer, die wegen fehlender Vorkehrungen an Corona erkrankt sind, tröstet es wenig, dass sie anteilsmäßig nicht so stark wie andere zur Gesamtkurve beitragen. Dass das Recht auf Bildung das Recht auf staatliche Fürsorge für die körperliche Unversehrtheit aushebeln soll, leuchtet ihnen offenbar nicht ein: Das eine Recht setzt doch das andere voraus.

Um so frappierender ist es, wie es der Bildungsrhetorik gelang, vorhandene Ideen und Anregungen zu neutralisieren. Schon am 5. August hatte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina unter dem Eindruck steigender Ansteckungszahlen eine „Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen“ empfohlen, wie sie jetzt, fast vier Monate später, die Ministerpräsidenten selbst ab einer Inzidenz von 200 allenfalls für einzelne Klassen „schulspezifisch“ in Erwägung ziehen, nicht aber vorschreiben wollen. Nur so sei der Abstand zu gewährleisten, sagte die Leopoldina damals, der in allen anderen Teilen der Gesellschaft verpflichtend gemacht wird. Außerdem riet die Akademie zu einer systematischen Teststrategie, zu einem Coaching der betroffenen Familien und zu einem länderübergreifenden Beirat, der die pandemische Lage an den Schulen fortlaufend beobachtet. Stefanie Hubig, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, nahm noch am selben Tag dazu Stellung: Ihre Organisation sei sich mit der Leopoldina „einig“, dass „Schülerinnen und Schüler ein Recht auf Bildung“ haben, das „sich am besten in der Schule verwirklichen“ lässt. Zu den konkreten Empfehlungen sagte sie dagegen nichts Konkretes; sie bekannte sich zum Gesundheitsschutz und zum „Thema Digitalisierung“ und betonte, dass ein Wechsel von Fern- und Präsenzunterricht „schnell und reibungslos“ erfolgen müsse. Doch bis heute verbieten viele Kultusminister sogar Schulen, die schon funktionstüchtige Konzepte dazu haben, deren Anwendung.

Mit Mtze und Maske Plexiglasscheiben Lftungsanlagen und digitaler Unterricht scheinen noch weit entfernt zu sein
Mit Mütze und Maske: Plexiglasscheiben, Lüftungsanlagen und digitaler Unterricht scheinen noch weit entfernt zu sein. dpa


Am 12. Oktober empfahl das Robert Koch-Institut ab einer Inzidenz von 35 je hunderttausend Einwohner eine Maskenpflicht auch im Unterricht und ab einer Inzidenz von 50 eine Verkleinerung der Klassen durch Teilung oder Wechselunterricht, um den nötigen Mindestabstand zu gewährleisten. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz am 23. Oktober erwähnte dann auch ausdrücklich das Robert Koch-Institut, aber nur mit der Einschätzung, die Schulen seien „kein Treiber der Pandemie“. Vom Wechselunterricht war jetzt trotz der mittlerweile weit über 50 gestiegenen Inzidenz gar keine Rede mehr, vielmehr wurde ohne weiteren Kommentar Präsenzunterricht als „oberste Priorität bei allen Entscheidungen über einschränkende Maßnahmen“ gefordert. Neben Hygieneregeln und fachgerechtem Lüften bezeichnete das Papier zwar auch das „Abstandhalten“ als „unerlässlich“, gab aber keine Erläuterung dazu, wie das in ungeteilten Klassen zu realisieren ist.

Die Lücke zwischen solchen Setzungen und deren sozialer und medizinischer Ermöglichung wird noch auffälliger, wenn man auf die gewaltigen Investitionen anderer Staaten für die Schulen während der Pandemie blickt – viele davon mit weit geringeren finanziellen und organisatorischen Ressourcen. In Mexiko, wo nur 56 Prozent der Haushalte Zugang zum Internet haben, werden die dreißig Millionen Schüler über Fernsehen und Radio unterrichtet; viele der geplanten 640 Sendungen werden auch noch in verschiedenen indigenen Sprachen aufgenommen. In Estland, wo die Digitalisierung der Schulen ohnehin schon weit fortgeschritten war, bekamen auch jene Schüler, die über keinen eigenen Laptop verfügen, mit der Hilfe von Gemeinden und Freiwilligenorganisationen einen „elektronischen Schulranzen“ zur Verfügung gestellt. In Südkorea werden schon Schulbücher auf die Option des digitalen Unterrichts hin umgeschrieben. Im Präsenzunterricht trennen viele Schulen die Tische in der Klasse durch Plexiglasscheiben voneinander. Auf der ganzen Welt ringen Regierungen mit den Beeinträchtigungen der Schulen durch die Pandemie und versuchen, den nötigen Schutz mit so viel Unterrichtsnormalität wie möglich zu verbinden. Doch auf die Idee, unter Berufung auf einen Rechtsanspruch auf Bildung vorhandene Schutzmöglichkeiten nicht zu nutzen, scheint sonst niemand zu kommen.

Wurde mit „Bildung“ vielleicht schon lange so verfahren? Es fällt auf, dass bei den Bildungsdebatten der letzten Jahrzehnte der Begriff eher vorausgesetzt als gefüllt wurde. Alle stimmen darin überein, wie wichtig die Bildung für die Volkswirtschaft und die soziale Gleichheit des Landes ist, und der Streit geht deshalb um die Frage, wie immer mehr Bildung ermöglicht werden kann, mit wie viel Digitalisierung und so weiter. Worin die Bildung aber überhaupt bestehen soll, scheint die Gemüter nicht so zu erhitzen. Liegt das etwa daran, dass Bildung einfach nur das ohnehin Selbstverständliche und Vorhandene besser funktionieren lassen soll? Der offizielle Sprachgebrauch während der Pandemie deutet darauf hin. Das Ideal des so wie immer weiterlaufenden Unterrichts wird da als „Regelbetrieb“ bezeichnet, und wenn es um die Weitergabe von Bildung geht, ist von „Beschulung“ die Rede. Ludger Wößmann, der Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik in München, bringt es in einem Aufsatz über die Folgekosten der Schulschließungen so auf den Punkt: „Bildung stattet die Menschen mit den Fähigkeiten aus, die sie beim Ausführen ihrer Arbeitsaufgaben produktiver machen.“ Er rechnet aus, welche späteren Einkommensverluste die geringere Zeit zur „Kompetenzentwicklung“ mit sich bringen werde. Bildung erscheint da geradezu als der Inbegriff des Ordnungsgemäßen und Erwartbaren. Ein so zirkulärer Begriff lässt offenbar keinen Raum für einen Einbruch von irgendetwas Irregulärem. Im Interesse der in Wirklichkeit aber jetzt doch irregulär bedrohten Schüler und Lehrer ist eine Erweiterung des Begriffs dringend geboten.

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