Generationenkonflikt: Die zornigen Zwanziger

Die Konflikte, die wir erleben, drehen sich fast alle darum, ob Regeln und Gewohnheiten der Vergangenheit unverändert gelten sollen. Progressive haben dabei die mächtigste Kämpferin auf ihrer Seite: Zeit.

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Mittwoch, 01.01.2020   16:29 Uhr

Menschen sind symbolgeil bis in ihre ältesten Kleinsthirnwindungen hinein, schon deshalb macht die neue Dekade einen Unterschied. Seit einiger Zeit kocht blubbernd der bestimmende Sound des neuen Jahrzehnts herauf: Die zornigen Zwanziger beginnen.

Diese Dekade wird, für diese Prognose braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten, von Konflikten geprägt werden. Auf den ersten Blick wirken viele darunter wie Varianten eines klassischen Generationenkonflikts. Kein Zufall, dass die ikonische Figur des alten, weißen Mannes vor einiger Zeit ins öffentliche Bewusstsein geriet. Im März 2019 schrieb Bernd Ulrich in der ZEIT: "1968 war ein Kindergeburtstag - verglichen mit dem beginnenden Generationenkonflikt."

Das 20. Jahrhundert kollidiert mit dem 21. Jahrhundert

In den vergangenen Wochen gab es eine Menge Anzeichen dafür, dass das Alter eine wesentliche Rolle bei den Konflikten spielt, die sich bezeichnenderweise alle rund um Netz- und Medienereignisse drehten und in erster Linie in sozialen Medien ausgetragen wurden:

  • Das weltweite Strohfeuer der Wendung "Ok Boomer".
  • Die Aufregung um einen vorweihnachtlichen Tweet von Fridays for Future über demnächst sterbende Großeltern.
  • Ein satirisches Liedchen einer WDR-Sendung, in dem eine fiktive Oma als "Umweltsau" bezeichnet wurde.

Obwohl sich die jeweiligen Aufregungen unterschieden, schienen die Spannungen zwischen Alten und Jungen das wiederkehrende Muster zu sein. Ich glaube nicht, dass wir einen klassischen Generationenkonflikt vor uns haben, wie es ihn schon oft und eigentlich ständig gab - sondern einen Konflikt der Epochen. Holozän versus Anthropozän, um gleich dickstmöglich aufzutragen. Oder etwas kleiner, nachvollziehbarer: Das 20. Jahrhundert kollidiert mit dem 21. Jahrhundert.

Konflikte über die Gültigkeit von Regeln aus einer vergangenen Epoche

Historiker sprechen vom "langen 19. Jahrhundert", weil es eigentlich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 endete. Ich schlage vor, künftig vom "viel zu langen 20. Jahrhundert" zu sprechen, das in seinem egozentrischen Furor nervig bis in die Zwanzigerjahre rein ragt.

Die Konflikte, die wir erleben, drehen sich fast alle darum, ob Regeln und Gewohnheiten des vergangenen Jahrhunderts weiterhin unverändert gelten sollen. Oder man nicht neu nachdenken sollte, was vielleicht einmal richtig war oder schien, aber jetzt falsch geworden ist.

Vordergründig ist es leicht, den Kampf zwischen Holozänikern und den Anthropozän-Leuten als Generationenkonflikt zu begreifen, und ganz falsch mag das nicht sein. Aber die Grenzen sind viel stärker verwischt. Es sind ja nicht nur die Alten, es sind ja auch und manchmal vor allen anderen die Mittelalten, die heute vielleicht zwischen 35 und 55 Jahre alt sind.

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Es handelt sich um eine Alterskohorte, die bei ihrem persönlichen Fortkommen oft viel Zeit und Arbeit investiert hat in gesellschaftliche Strukturen, die sich gerade verwandeln, verschieben oder untergehen.

Die eher bürgerlich orientierten Leute, die Banklehren gemacht haben oder Journalistik studierten, die von Sportwägen träumten oder auf eine Kreuzfahrt sparten, die Karriere machten oder zumindest ihr Leben danach ausrichteten, weil die große Überbotschaft des Bürgertums im ausgehenden 20. Jahrhundert war: Du bist dein Job.

Woraus leicht eine sehr materiell fixierte Haltung entsteht, wenn man nicht aufpasst. Die Überbetonung des Dinglichen, in einer Zeit, in der das Nichtdingliche, das Virtuelle, das Digitale offensiv und rücksichtslos voranschreiten.

Kampf gegen die Insignien von Erfolg und bürgerlichem Glück

Plötzlich kommen von überall her Leute, die die Insignien von Erfolg und bürgerlichem Glück aus dem 20. Jahrhundert nicht nur ignorieren, sondern ablehnen oder sogar bekämpfen.

Und es sind eben nicht nur die Jungen, sondern auch die Menschen, die schon in den vergangenen 20, 30, 40 Jahren weniger mit der Konsum- und Karrieregesellschaft anfangen konnten.

Denen es leicht fällt, den Sportwagentraum aufzugeben, weil sie ihn genau genommen noch nie träumten. Die zornigen Zwanzigerjahre werden geprägt sein von den Abwehrkämpfen derjenigen, die ihre Mühen noch in die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts investiert haben.

Die echten Konflikte erscheinen zu schmerzhaft, um sie ernsthaft zu diskutieren

Sie fühlen sich wie bei der "Umweltsau" oder "Ok Boomer" von Kleinigkeiten zutiefst angegriffen, denn sie fechten auf diese Weise Scheinkonflikte aus. Die echten erscheinen ihnen meist zu schmerzhaft, um sie ernsthaft zu diskutieren.

Eigentlich steht dahinter die Verzweiflung einer untergehenden Epoche: Meine Arbeit soll nicht fehlinvestiert gewesen sein, mein Leben soll nicht falsch gelebt worden sein, ich möchte gefälligst eure Anerkennung für meine tolle Lebensleistung! Es vermischen sich Klimakonflikte, Kapitalismuskonflikte, Migrations-, Kolonialismus- und Rassismuskonflikte, Digitalkonflikte, Bildungskonflikte, Geschlechterkonflikte, Sexualkonflikte, Kulturkonflikte und vieles mehr, was die Jahrhunderte so deutlich unterscheidet.

Ein Fünfzehnjähriger in den Achtzigerjahren aus dem vergangenen Jahrhundert konnte die Hubraumzahlen aus dem Autoquartett auswendig, eine Fünfzehnjährige in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts kann die wissenschaftlichen Rahmendaten der grönländischen Gletscherschmelze tagesaktuell aufsagen. Samt der Studienlage und der auf Eltern und Großeltern ausgerichteten Argumentationsmuster.

Zwei Wutfelder, die sich gegenseitig bedingen

Das wird die große Gefahr der zornigen Zwanziger: Dass es zu selten anhand von messbaren Fakten und daraus folgenden Konsquenzen um gesellschaftliches Fortkommen und Weltverbesserung geht. Sondern um die Gesichtswahrung von Holozän-Menschen, die eher die Realität umdeuten werden als zuzugeben, dass sie ihr Leben zwischen Jahreswagen-Kombi und 20-Uhr-Fernsehnachrichten an nicht mehr haltbaren Maßstäben ausgerichtet haben.

Die Häme und die Abwertung gegenüber jungen und progressiven Menschen, die viele dieser Scheinkonflikte begleitet, deutet darauf hin, dass die Zwanzigstes-Jahrhundert-Fraktion sich quer durch alle sozialen Schichten tief getroffen fühlt. Der Zorn der zornigen Zwanzigerjahre besteht aus zwei Wutfeldern, die sich gegenseitig bedingen:

  • Der enttäuschte Groll der durch das bürgerliche, holozäne 20. Jahrhundert Geprägten, dass ihre Lebensstile und Lebensziele deutlich weniger Anerkennung finden als erhofft.
  • Die zielgerichtete, produktive Wut der im anthropozänen 21. Jahrhundert Geprägten, die nicht zusehen wollen, wie Dieselmotor-Kapitalismus und Traditionsstarrsinn die Zukunft bedrohen.

Beide verbindet ein Gegenwartshadern, aus dem der Zorn sich speist. Nur dass die einen irgendwie zurück wollen in eine vergehende Epoche und die anderen endlich in der Zukunft ankommen und danach handeln wollen.

Der Klimawandel ist der Schlüssel zum Verständnis der zornigen Zwanzigerjahre

Hinter dem Generationenkonflikt verbirgt sich der uralte Konflikt der Konservativen gegen die Progressiven - aber mit einem essenziellen Unterschied. "Ok Boomer", "Friday for Future" und "Oma als Umweltsau", alle diese Aufregungen handelten im Kern vom Klimawandel. Er ist der Schlüssel zum Verständnis der zornigen Zwanzigerjahre, der Kristallisationspunkt des Epochenkonflikts, denn hier hat sich etwas komplett umgedreht.

Ein drohender Weltuntergang war früher eine konservative Erzählung. Die Bewahrung des Bestehenden war für Konservative die beste Lösung, dem Untergang zu entkommen. Mit dem Klimawandel ist der Weltuntergang zu einer progressiven Erzählung geworden.

Das mag sich kontraintuitiv anhören, aber die Wirkweise wird klar, wenn man die Abwendung des Weltuntergangs als progressive Motivation begreift, mit der man gemeinschaftlich auf Basis wissenschaftlicher Fakten gegen den Klimawandel anarbeitet.

Löschfraktion versus Duftbaumfraktion

Progressive Weltverbesserung ist plötzlich darauf ausgerichtet zu bewahren. Wohingegen sich die Konservativen splitten in diejenigen, denen es eigentlich nur um sie selbst und den für sie bequemen Status quo geht, und diejenigen, die begreifen, dass etwa die Klimakatastrophe Veränderungen erfordert, die man im 20. Jahrhundert als "viel zu radikal" betrachtet hätte.

In Zeiten eines existenziellen Wandels können zutiefst bürgerliche Eigenschaften wie Gelassenheit und Mäßigung in die Realitätsverleugnung kippen und irgendwann nur noch als Pose aufrechterhalten werden. Um es mit Gretas Metapher zu sagen: Wenn das Haus brennt, muss man rausrennen und versuchen, es zu löschen. Und nicht bloß ins Nebenzimmer schlendern und einen Duftbaum aufhängen.

In den zornigen Zwanzigern wird die Löschfraktion gegen die Duftbaumfraktion kämpfen, und es wird, so fürchte ich, böse und blutig. Optimistisch bin ich persönlich trotzdem, denn die mächtigste Kämpferin von allen ist auf der Seite von uns Progressiven: die Zeit. Selbst wenn sie oft länger braucht als erhofft.



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