„Freiiheiheit!!!“

 Eva von Redecker © Paula Winkler

„Es ist berauschend, die Probleme abzustreifen, in denen wir leben“

Elisabeth von Thadden 5. Dezember 2020, 16:21 Uhr

Wir wollen die Virologen mit der Deutung der Lage nicht alleinlassen. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?"  führende Forscherinnen und Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Die Fragen stellt Elisabeth von Thadden. Von der Philosophin Eva von Redecker, 38, erschien zuletzt das Buch "Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen" (2020).

ZEIT ONLINE: Worüber denken Sie gerade nach, Eva von Redecker?

Eva von Redecker: Über Freiheit. Vieles von dem, worüber ich nachdenke, läuft auf die Frage hinaus, wie wir Freiheit verstehen und wie wir sie vielleicht neu verstehen sollten. Ich wundere mich gegenwärtig immer wieder, dass mir der Mobilitätsverlust durch Corona als ein Freiheitsgewinn erscheint: Ich gewinne die Freiheit, an einem Ort zu leben. Ich habe das Empfinden, freier zu sein, weil ich bleiben kann, wo ich bin. Woran liegt das? Zweifellos bedeutet es für viele eine Restriktion, sich in der Pandemie kaum fortbewegen zu dürfen, und für viele bringen die Einschränkungen eine Verödung und Zermürbung mit sich, zumal wenn ihre Arbeit bedroht ist und zu Hause Aggression oder gar Gewalt herrschen. Doch ich meine etwas anderes: An einem Ort bleiben zu dürfen bedeutet auch, ein Glücksgefühl der Verwurzelung zu spüren, das im starken Kontrast zum tatsächlich drohende Verlust einer sorglos bewohnbaren Welt steht. Zu bleiben, das heißt: Wir können täglich im selben Wald spazieren gehen, wenn wir uns danach sehnen. Auch der Protest im Dannenröder Forst erschließt sich auf diese Weise neu: Dort wird um den Erhalt eines Waldes gekämpft, um einen Ort, der bleiben soll. Wenn die Protestierenden ihn verlassen, gibt es die Bäume nicht mehr.

ZEIT ONLINE: Zwischenfrage: Was ist das denn für ein Ort, an dem Sie gerade – in Freiheit und notgedrungen – bleiben?

Von Redecker: Jedenfalls nicht meine Heimat, denn eigentlich bin ich ja Küstenbewohnerin. Jetzt lebe ich im Ruppiner Land, in Brandenburg. Und eigentlich sollte ich, wenn Corona es nicht verhindert hätte, als Fellow an der Universität in Verona sein, an einem zweifellos besonders schönen Ort. Aber jetzt ist zu spüren: Das Privileg des 21. Jahrhunderts wird es sein, nicht reisen, auswandern oder gar fliehen zu müssen. Sondern einen Ort zu haben, der bestehen bleibt, von dem man nicht wegmuss. Es stellt sich dramatisch die Frage: Wie können wir auf anständige Weise diese Orte teilen, wie sie erhalten und für die Welt öffnen?

ZEIT ONLINE: Ein Teil der Gesellschaft versteht Freiheit ganz anders als Sie und empfindet die Corona-Politik als unzumutbare Freiheitsbeschneidung.

Von Redecker: Ich beobachte entsetzt, wie stark sich derzeit in verschiedenen Gruppen der Freiheitsbegriff verkettet mit einem Recht, zu zerstören und Leben zu gefährden. Man spürt offenbar seine Freiheit nur, wenn man sie wüst verwenden kann: Die Meinungsfreiheit ist erst zu spüren, indem man andere verletzen darf, die Konsumfreiheit, indem man in Benzinschleudern fahren kann, und die öffentliche Bewegungsfreiheit, indem man anderen ins Gesicht husten darf. Die liberale Freiheit der Wahl ist ja bereits ein recht enger Freiheitshorizont, aber hier verfinstert sich dieser noch autoritär. Solche Freiheit gebärdet sich als gefährliche Rücksichtslosigkeit, wenn wir die Schranke, die die anderen für uns sind, einfach durchbrechen wollen. In meinen Augen beruht diese Haltung darauf, dass wir den modernen Bürger nach dem Modell des Eigentümers konzipiert haben, der in seiner eigenen Domäne nach Belieben schalten und walten kann. Hinzu tritt eine schräge Euphorie, die derjenige verspürt, der mit dem Rest der Welt gleich auch die Realität aus seiner Domäne aussperrt.

ZEIT ONLINE: Was soll das heißen im Blick auf Corona?

Von Redecker: Es heißt, einkaufen zu gehen, Geburtstage zu feiern, sich mit Bekannten und Freunden zu treffen, zu reisen, als gäbe es keine Pandemie. Die protestierende Minderheit lebt in der Illusion, dass die Realität des Virus nicht existiert. In diesem Freiheitsverständnis zeigt sich ein Weltverlust in beängstigendem Maßstab. Es ist ein berauschendes Phantasma, die Probleme abzustreifen, in denen wir leben, anstatt sie handelnd zu lösen.

ZEIT ONLINE: Die Realität ist ungemütlich. Vieles spricht dafür, sie nicht an sich heranzulassen und lieber fünfe gerade sein zu lassen.

Von Redecker: Aber wirklich gemütlich wäre eben auch nur eine veränderte Realität und keine verdrängte. Für die Philosophin Hannah Arendt, die ihr Denken der Wirklichkeit des Nationalsozialismus abgerungen hat, gab es dennoch gute Gründe für ihre Liebe zur Welt. Sie sagte einmal, dass sie weiter gern Deutsch spräche, weil ja schließlich nicht die deutsche Sprache verrückt geworden sei, sondern die Nazis. Genauso ist es ja heute nicht die Welt, die verrückt geworden ist, wenn Pole schmelzen und Wälder brennen. Sondern: Menschen haben in ihr verrückte Dinge angerichtet. Eine andere Welt müssen wir erst erringen und dafür auf einen wirklichen Weg aus der Gegenwart in die Zukunft gelangen. Dass die Pandemie und der Klimawandel uns, ohne dass ich es zynisch meinte, als Spiegel von Handlungsfolgen dienen, ist auch ein Glück.

ZEIT ONLINE: Ein Glück?

Von Redecker: Wenn man versteht, was man tut, dann tut man es freier. Hannah Arendt hat von der Banalität des Bösen gesprochen als einer Unfähigkeit, sich seiner Vorstellungskraft zu bedienen. Diese Banalität hat heute eine Entsprechung: Man sieht nicht und will nicht sehen, wie die Welt aussehen wird, wenn wir weiter der Freiheit nachgehen, Lebensgrundlagen zu zerstören. Gegenwärtig wird es ja, ob klimapolitisch oder im Blick auf die Pandemie, fast als ein Recht eingefordert, sich dumm und blind zu stellen gegenüber den Handlungsfolgen. Das erscheint mir als Freiheitsverlust. Es führt zu Handlungsunfähigkeit. Die Umweltbewegung aber, vom Bündnis Ende Geländebis Fridays for Future, mahnt zur Realität und zur Zukunftsvorstellung.

ZEIT ONLINE: Nicht nur sie! Die erdrückende Mehrheit der Gesellschaft spricht sich längst für umweltverträgliche Lebensformen aus.

Von Redecker: Aber sie sieht nicht, wie sich anders wirtschaften ließe. Was man tun müsste, um die Energieversorgung anders zu gewährleisten oder Amazon zu enteignen. Wir unterschätzen vielleicht den guten Willen der Gesellschaft, aber wir überschätzen ihre Autarkie, sich aus Infrastrukturen zu befreien, die sie binden: Im Mietshaus läuft die Ölheizung weiter, obwohl man selbst die erneuerbaren Energien bevorzugt. Wenn keine Bahnlinie fährt, die einen aus dem Vorort in die Stadt bringt, nimmt man eben das eigene Auto.

Serie Worüber denken Sie gerade nach?

ZEIT ONLINE: Sie haben eine Philosophie von Protestbewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future beschrieben. Was macht nun Corona mit diesem Protest?

Von Redecker: Das Virus hat einen Ausnahmezustand erzeugt. Die Aktivisten von Black Lives Matter konnten darin die bestürzende Erfahrung artikulieren, dass ihre Leben in rassistischen Gesellschaften immer schon vom drohenden Tod überschattet sind. Die Klimaproteste waren hingegen zunächst stillgestellt. Die Pandemie erschien beinahe als Konkurrenzkrise. Dabei ist sie Teil derselben Dynamik wie die globale Erwärmung. Diese Pandemie zeigt schließlich auch eine Krise unseres Naturverhältnisses an. Sie macht mit Nachdruck deutlich, dass unsere gesellschaftlichen Dynamiken das Leben und Atmen aufs Spiel setzen. Insofern stärkt sie langfristig vielleicht auch die Umweltbewegung.

ZEIT ONLINE: Die Skepsis gegenüber dem Regierungshandeln hat in der gegenwärtigen Protestkultur inzwischen höchst unterschiedliche Gesichter. Was unterscheidet den Protest der Corona-Skeptiker vom Protest der Klimaaktivisten?

Von Redecker: Ich versuche gegenwärtig, die Formen und Akteure des Protests in Bezug auf den Begriff des Lebens zu verstehen. Dieser Bezug ist auf beiden Seiten grundverschieden. Die Besitzstandswahrenden nehmen das Sterben oder Aussterben vieler Lebewesen in Kauf, zugunsten des eigenen Lebens. Dafür hegen sie das Lebendige herrschaftsförmig zum eigenen Vorteil ein, ob es um die Grenzschließung gegenüber Flüchtenden geht, die Leugnung der Realität des Virus oder um ein nutzenorientiertes Naturverhältnis. Die andere Seite der Protestierenden versteht hingegen das planetare Leben als einen Zusammenhang wechselseitiger Abhängigkeit, ihnen geht es darum, das Gedeihen auch der gefährdeten Lebewesen zu fördern: nach der Idee der Pilzwurzelrevolution, des verwobenen Geflechts und Stoffwechsels, in dem wir stehen.

Quelle


Historisch:

 (1973)

 (1983]