Frankreich | Fundamental ungerecht

In diesem Land war die Rentenordnung schon während der IV. Republik (1944–1958) heftig umstritten. Gegen eine damals beabsichtigte Reform der Pensionsleistungen streikten allein 1953 heute kaum vorstellbare vier Millionen Menschen. In der 1958 ausgerufenen V. Republik gab es schließlich fünf Anläufe, das Rentensystem zu reformieren – 1995, 2003, 2007, 2010 und nun 2019, jeweils verbunden mit landesweiten, eine Gesellschaft erschütternden Streiks, die bisher viermal Erfolg hatten. Das heißt, viermal wurden die jeweiligen Regierungen zum Rückzug oder zumindest dazu gezwungen, ihre Vorhaben zu entschärfen.

Seit Emmanuel Macron Sozialreformen – zuweilen mit umstrittenen Methoden wie der verfassungsrechtlich zulässigen Umgehung des Parlaments – durchbringt, reden in Paris konservative Politiker das Ende der Gewerkschaften herbei. In diesen Kanon wollten nach dem überraschenden Erfolg für die Bewegung der „Gilets jaunes“ auch viele mediale Beobachter einstimmen. Sie verkündeten den Untergang der Gewerkschaftsverbände nicht zuletzt deshalb, weil die sich gegenüber den Gelbwesten desinteressiert zeigten, wie diese ihrerseits mit institutionell organisierter Politik nichts zu tun haben wollten. Ausschreitungen am Rand der Gelbwesten-Proteste dienten zudem dazu, die Bewegung pauschal als „antisemitisch“ und als Anhängsel von Marine Le Pens rechtsextremer Partei Rassemblement National (RN) zu etikettieren.

Angesichts des Generalstreiks vom 5. Dezember 2019 und der folgenden Streiktage erweisen sich beide Zuschreibungen als voreilig. Ostentativ und absolut unübersehbar demonstrieren seit einer Woche Gewerkschaften und Gilets jaunes gemeinsam gegen das Rentenreformprojekt aus dem Elysée. Nur so erklärt sich die massenhafte und flächendeckende Mobilisierung von rund einer Million Menschen und mehr – ein Vielfaches des Mitgliederstandes mancher Gewerkschaftsverbände. Und es streiken nicht nur Bus- und Metro-Fahrer, auch Lehrer, Anwälte, Ärzte, Angestellte in Verwaltungen sowie Feuerwehrleute.

Gebrochene Versprechen

Die Vehemenz der Aktionen erklärt sich aus der Präsentation des Reformprojekts. Macron hat offenbar geglaubt, er würde sich leichter durchsetzen und den Gewerkschaften eine Mobilisierung erschweren, wenn er die Details der Reform gar nicht erst bekanntgibt. Seit einem halben Jahr ununterbrochen wiederholt wurde stattdessen eine Zahl: 42 Rentenregelungen für fast so viele Berufsgruppen. Es sei an der Zeit, sie abzuschaffen und durch ein einheitliches Punktesystem für einbezahlte Rentenbeiträge zu ersetzen. Das hörte sich vernünftig an, war aber politisch hinterhältig und erwies sich bei genauerem Hinsehen als fundamental ungerecht. Frankreichs im internationalen Vergleich relativ hohes Rentenniveau wie auch das frühe Renteneintrittsalter für einzelne Berufssparten waren bislang in doppelter Hinsicht gerechtfertigt: mit der Belastung durch Schichtdienste und durch den oft geringen Lohn in einem Jahrzehnte verschlingenden Arbeitsleben, was nach der Pensionierung durch auskömmliche Bezüge kompensiert werden sollte. Würden nun jedoch die 42 Sonderregelungen durch ein Punktesystem ersetzt, wäre nebenher und stillschweigend auch das Kompensationsversprechen abgeräumt.

Unangemessen ist das scheinbar so einfache Punktesystem auch deshalb, weil es wie ein Rasenmäher funktioniert und ein Gerechtigkeitsprinzip missachtet, das verlangt – sachlich angemessen und logisch zwingend – Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Doch werden mit der Einführung eines vermeintlich egalitären Punktesystems nicht „Privilegien“ und „Pfründe“ beseitigt, wie es auch aus deutschen Medien seit Monaten unisono tönt, sondern Versprechen gebrochen, an denen sich Menschen mit ihrer Arbeit wie Lebensplanung orientiert haben. Die Folge sind Angst und Verunsicherung. Viele glauben, recht viel zu verlieren.

Daraus erklärt sich auch das Paradox in den Umfragen des Institut français d‘opinion publique (Ifop), wonach zwar 76 Prozent der Franzosen das Rentensystem für reformbedürftig halten, aber zugleich 70 Prozent gegen die jetzige Reform und für Streiks sind. Ebenso viele vertrauen im Übrigen Präsident Macron nicht mehr.

Annie Ernaux ist dabei

Kein Zufall, dass augenblicklich immer wieder an den dreiwöchigen Ausstand der Eisenbahner gegen eine Rentenreform im November/Dezember 1995 erinnert wird. Damals war es der Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu, der gegen konformistische Intellektuelle auftrat, die den neoliberalen Juppé-Plan begrüßten und gegen „Privilegierte“ polemisierten. Dieser Plan sah nichts Geringeres vor, als den Sozialstaat zu demontieren, um den Staatshaushalt zu sanieren und die vom Maastricht-Vertrag gesetzte Drei-Prozent-Verschuldungshürde zu meistern. Bourdieu machte den Streikenden und den Gelehrten der „pensée unique“ (frei übersetzt: Normalitätsdenkerei) in Wirtschaft und Wissenschaft klar, dass die Proteste gegen den Juppé-Plan für die Regierenden zur „Krise“, für Linke und Gewerkschaften aber zu Garantien für eine lebenswerte Zukunft führten. Bourdieu sprach 1995 vor streikenden Eisenbahnern in der Pariser Gare de Lyon und ermunterte sie, „die Demokratie gegen die Technokratie“ zurückzuerobern, die der „Staatsadel“ im Zusammenspiel mit Banken, Wirtschaftsverbänden und willigen „Doxosophen“ (Meinungsmacher, die sich als Experten aufspielen) durchsetzen wollte. Von den prominenten Intellektuellen war Bourdieu seinerzeit fast der einzige, der sich mit den „kleinen Leuten“ solidarisierte und die Mühsal anerkannte, die sie das tägliche Überleben kostete.

Wie einst Bourdieu stehen heute 180 Intellektuelle und Künstler mit einem Aufruf den Streikenden zur Seite. Zu den Unterzeichnern zählen die Schriftstellerin Annie Ernaux und die Regisseurin Arianne Mnouchkine, der Philosoph Etienne Balibar und der Ökonom Thomas Piketty. Wie Bourdieu 1995 wenden sie sich gegen jedwede Denunziation der Streikenden.



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