Wie aus einem Rand- ein Massenphänomen wurde: Leo Löwenthal analysierte bereits vor über 70 Jahren die Techniken des US-amerikanischen »Agitators« Von Jürgen Pelzer
Die turbulenten Ereignisse in der US-amerikanischen Politik während der vergangenen Wochen haben die meisten Journalisten und Kommentatorinnen gehörig ins Schwitzen gebracht. Vor allem das erratische Verhalten des Präsidenten Donald Trump, der bei der Inszenierung des Sturms auf das Kapitol eine entscheidende Rolle spielte, wirkte verstörend, da es über das übliche Maß narzisstischer Selbstinszenierung hinausging. Die Protestdemonstration am 6. Januar war von langer Hand von ihm mitorganisiert worden. In einer 70minütigen Rede schwor er seine Anhängerinnen und Anhänger darauf ein, angesichts der »gestohlenen Wahl« vom November auf Biegen und Brechen zu kämpfen (»to fight like hell«). Dies sei die letzte Chance, die Inaugurierung des neuen Präsidenten zu verhindern – ansonsten hätten sie »ihr Land verloren«.
Stunden später, nachdem sich das Ausmaß der Randale abgezeichnet hatte und die Fernsehbilder von der Stürmung des Kapitols um die Welt gegangen waren, wandte sich der Präsident an seine Anhänger und bat sie, friedlich nach Hause zu gehen, nicht ohne sie seiner »Liebe« zu versichern. Verantwortung für die Randale, die nicht nur das Leben der Abgeordneten und des eigenen Vizepräsidenten Michael Pence bedroht, sondern auch die Integrität politischer Institutionen in Frage gestellt hatte, übernahm er nicht. Auch einige Tage später lehnte er eine solche Verantwortung ausdrücklich ab. Seine Rede sei »angemessen« gewesen. Eine Woche später ließ er es sich nicht nehmen, vor jener »wunderbaren« Mauer zu posieren, die die Grenze gegen Mexiko vor Flüchtlingen sichern sollte, und lobte bei der Gelegenheit die »großartige« Polizei. Er sei bekanntermaßen vor allem ein Vorkämpfer für »law and order« und halte stets seine Versprechen.
Trotz dieses jeder Logik widersprechenden Verhaltens hat sich sein Rückhalt in der Bevölkerung kaum verringert. So glaubt das Gros der republikanischen Wähler nach wie vor, die Wahl sei tatsächlich gestohlen worden, obwohl alle bisherigen Versuche, sie anzufechten, gescheitert sind. Besonders groß ist der Rückhalt bei US-Amerikanern, die sich als patriotisch, christlich und freiheitsliebend verstehen und diese Werte nur durch den mittlerweile abgetretenen Präsidenten gewährleistet sehen. Die Vorhut dieser gewaltbereiten, zum Teil auch bizarren, grotesk ausstaffierten und zynisch sich selbst feiernden Gruppierung konnte man im Fernsehen besichtigen, doch die rechte Anhängerschaft Trumps hat eine viel größere Basis. Den Sturm auf das Kapitol haben auch einige Senatoren unterstützt, denen man Ambitionen auf das Präsidentenamt nachsagt. Solch ein Massenappeal lässt sich nicht allein durch eine bei »klassischen« Konservativen populäre Politik erklären. Worauf beruht dann aber diese unbedingte Loyalität breiter Massen, die sich durch nichts beirren lassen und die auch einen Angriff auf die in den USA als heilig geltenden Institutionen durchaus »verständlich« finden? Wie ist solch ein offener Angriff auf für selbstverständlich gehaltene Prozeduren der liberalen Demokratie wie die Präsidenteninauguration zu erklären?
Verzerrte Weltsicht Ein bereits 1949 publiziertes und dieser Tage neu aufgelegtes Buch von Leo Löwenthal und Norbert Guterman kann hier zwar keine vollständigen Antworten, doch wertvolle Fingerzeige liefern, um dieses bedingungslose, offensichtlich irrationale Loyalitätsverhältnis wie die ebenso irrationale und verzerrende Wirklichkeitssicht von Millionen Anhängern zu erklären. Unter dem Titel »False Prophets« (»Falsche Propheten«) haben die Autoren »die Techniken des amerikanischen Agitators« untersucht.¹ Das Buch ist Teil einer umfassenden Studie, Züge einer »autoritären Persönlichkeit« festzustellen – ein Projekt, das im Mai 1944 in Gang kam, um die generelle Anfälligkeit für tiefsitzende Vorurteile und Stereotype empirisch zu erfassen und sie besser bekämpfen zu können. Vorurteile und Stereotype, namentlich autoritär ausgerichtete Einstellungen, sollten identifiziert werden, da man in ihnen – ausgehend vom faschistisch dominierten Europa – eine Gefahr auch für die Zukunft der US-amerikanischen Demokratie sah. Die empirischen Studien schlugen sich in mehreren Bänden nieder, für die Vertreter der exilierten Frankfurter Schule (namentlich Theodor Adorno) sowie Soziologen und Psychologen der Universität Berkeley federführend waren.
Der von Löwenthal und Guterman vorgelegte Band stellte sich die Aufgabe, das Propagandamaterial reaktionärer »Agitatoren« zu sichten, die in den Jahren von 1932 bis 1948 in Zeitschriften, im Radio sowie auf Massenveranstaltungen aktiv waren. Der Zeitraum umfasst also eine äußerst bewegte Phase in der Geschichte der USA, die von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, von politischen Richtungskämpfen, Roosevelts keynesianisch geprägter »New Deal«-Politik sowie dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, dem Sieg über den Faschismus in Europa und Asien sowie dem beginnenden Kalten Krieg gekennzeichnet war.
Mit »Agitatoren« sind dabei jene zumeist randständigen, als wahre Tribunen des Volksinteresses auftretenden Personen gemeint, die die Unzufriedenheit über die Zustände ausnutzen, aber jegliche rationale Argumentation umgehen. Vielmehr nutzen und verstärken sie die allgemein existierende Orientierungslosigkeit. An rationaler Analyse sind sie ebenso wenig interessiert wie an reformerischer oder gar revolutionärer Aktion. Das Ziel besteht statt dessen darin, aus allen Schichten so viele Anhänger wie möglich zu gewinnen und auf einen Führer einzuschwören – sie sollen zu »widerstandslosen Aufnahmeorganen für seinen persönlichen Einfluss« werden. Konkrete Probleme wie die Arbeitslosigkeit werden weder erklärt noch bekämpft. Die Verantwortung für dieses (und jedes andere) Problem wird einer »Feindclique« angelastet, die stets im Hintergrund lauert (ohne genau benannt zu werden). Immer wieder stoßen die Autoren auf die gleichen Themen und Strategien, so dass sie idealtypisch vom US-amerikanischen Agitator sprechen. Er ist, wie gesagt, fast immer randständig. Nur das isolationistische »America First Committee«, das gegen die Teilnahme der USA am Zweiten Weltkrieg war, erreichte mit 800.000 Mitgliedern eine gewisse Breitenwirkung, die aber im Dezember 1941, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, ein abruptes Ende fand. Fast immer geht es in der Hauptsache darum, Ressentiments zu schüren, etwa gegen die Bürokraten in Washington, gegen angebliche jüdische Drahtzieher oder ausländische Kommunisten. Über diese Bestätigungs- und Frustrationsreaktionen gehen die Appelle des Agitators nicht hinaus. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst werden nicht angetastet.
Gegen Juden und Kommunisten Der Ausgangspunkt für die reaktionäre Agitation ist das, was die Autoren die »gesellschaftliche Malaise« nennen. Sie äußert sich auf verschiedene Weise, wird aber nie rational oder konkret thematisiert. Geht es um Wirtschaftskrisen, werden sie den ausländischen Nationen angelastet, die »große finanzielle Unterstützung« erhalten. Es sind Ausländer, die »unser Geld stehlen«. Politische Probleme werden der »Geißel des Internationalismus« angelastet. Eine internationale Ausrichtung führe zur Unterwerfung unter einen Weltgerichtshof, was geradewegs in ein Sowjet-Amerika führe. Obendrein seien die Medien in Händen der »Feinde der Nation«. Hollywood sei von dubiosen jüdischen oder ausländischen Feinden beherrscht, die sich durch eine provozierende moralische Laxheit auszeichneten. Empörend sei dabei vor allem die Leichtgläubigkeit und Naivität der Nichtjuden. Charakteristisch ist also die Emotionalisierung der Kritik, der Appell an Gefühle der Hilflosigkeit und Passivität und das Schüren von Angst, die US-amerikanische Lebensweise werde unterminiert. Die Reichtümer der Nation gingen an die anderen, die Fremden, das Ausland. Die von Juden und Ausländern gesteuerte angeblich demokratische Politik sei ein einziges Täuschungsmanöver (»Hoax«, »Fraud«, »Hypocrisy« usw.).
Die untersuchten Agitatoren machten sich auf diese Weise die objektive Verunsicherung weiter Kreise während der Krisenjahre zunutze. Sie setzten bei den psychologischen Folgewirkungen an. Der Agitator drückt sie aus, hat aber keinerlei Lösung parat. Doch gerade die Unfähigkeit, einen Kausalzusammenhang herzustellen, ist seine Stärke. Anders als die Liberalen spricht er die Probleme an, ja er scheint die Nöte der schlichten Bürger zu verstehen. Dieses Eingehen auf die Probleme des »einfachen Mannes« ermöglicht eine weitergehende Manipulation.
Löwenthal und Guterman listen im Folgenden jene Themen und Motive auf, die sich immer wieder im analysierten Agitationsmaterial finden, darunter die Motive der »ewig Betrogenen« und der permanenten, gegen sie gerichteten »Verschwörung«. Dem apokalyptischen Untergang lasse sich nur entgehen, wenn man dem Agitator und dessen überlegenen Einsichten folge. Diese Einsichten werden freilich nicht mitgeteilt, es genügt der Appell an die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein der Anhänger angesichts einer feindlichen, komplizierten und undurchschaubaren Umwelt, die allerdings nur deshalb feindlich, kompliziert und undurchschaubar ist, weil es Gruppen gebe, die dafür absichtlich sorgten. Der Agitator gibt sich als »Muckraker« (zu deutsch: Schmutzaufwühler), als jemand, der Mißstände benennt und beseitigen will. Er verstärkt aber in Wahrheit nur die Angst vor verborgenen Mächten. Statt die Krankheit zu diagnostizieren, führt er sie auf böse Geister zurück. Der Staat selbst wird als prinzipiell korrupt hingestellt, was der Skepsis vieler US-Amerikaner gegenüber »Washington« und dem Zentralismus entgegenkommt. Die Korruptheit sei im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Demokratie und Liberalismus unweigerlich entweder zu Anarchismus oder aber zu einem totalitären Staatskapitalismus führten. Letzteres gelte vor allem für die als »Nudeal« verballhornte und verunglimpfte Politik Roosevelts, dem man vorwirft, er habe »seine Technik von Hitler und den Juden übernommen«. Die eigene Doktrin, sofern sich davon sprechen lässt, besteht darin, dass man sich an ein nicht näher definiertes Prinzip der Gerechtigkeit hält. Dies verbiete es dann etwa, die Juden, die sich im Krieg mit Hitler befinden, zu unterstützen oder sie für die erlittenen Schäden zu entschädigen.
Die jüdische Bevölkerung stellt überhaupt das ideale Feindbild dar. Während Kommunisten oder Emigranten pauschal verunglimpft werden, geht der Agitator bei Juden differenzierter vor. Er betont einerseits seine freundlichen Gefühle für sie, macht aber andrerseits einen Unterschied zwischen »guten« und »schlechten« Juden. Letztere werden mit jenen Trends identifiziert, denen man feindlich gegenübersteht, also dem Fremden, dem Kommunismus und einem plutokratischen Kapitalismus. Anders als im faschistischen Deutschland entwickelt der US-Agitator kein vollständig antisemitisches Programm, statt dessen äußert sich der Antisemitismus eher indirekt. Dies hat den Vorteil, dass der reaktionäre Agitator nicht von vornherein als hasserfüllter Fanatiker dasteht. Dem Zusammenspiel mit den Anhängern tut dies keinen Abbruch, da sie wissen, dass die immer wieder vorgebrachten Themen der Verschwörung, des Betrugs, des Ausgeliefertseins, des korrupten Staates usw. eine antisemitische Grundierung haben. Das Judenbild des Agitators ist also widersprüchlich und doch konsistent: Juden sind sowohl stark als auch schwach (was generell vom Feind gilt), sie sind Opfer und zugleich Verfolger, sie stehen hinter dem totalitären Staatsinterventionismus und sind doch Individualisten. Vor allem sind ihre Eigenschaften unabänderlich. Es genügen bloße Andeutungen, etwa die Erwähnung eines jüdisch klingenden Namens, um Juden als Drahtzieher des (schlechten) Kapitalismus wie des Kommunismus zu suggerieren. Versteckte Angriffe dieser Art werden geradezu obsessiv vorgebracht, gelten aber nicht als Defekte haltloser Schwätzer oder Rassisten, sondern werden den Juden selbst angelastet. Der Agitator verstärkt oder weckt auf diese Weise den latenten Antisemitismus. Tritt jemand gegen den – unterschwelligen oder auch offensichtlichen – Antisemitismus auf, verdächtigt man ihn oder sie, jede legitime Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen zum Schweigen bringen zu wollen. Da die (schlechten) Juden die idealtypischen Feinde sind, hat man sich vor deren unbarmherzigen Attacken zu schützen. Sympathie oder Hilfsbereitschaft wären also fehl am Platz.
Juden werden in jedem Fall als »anders« dargestellt, eine angebliche Eigenschaft, die sie auch durch Anpassung nicht überdecken können. Hier wirken alte religiöse Vorurteile (Juden als Christusmörder) nach. Sie stecken »ferner stets zusammen«, kümmern sich also nicht um das Wohl des Gastlandes – so lautet ein weiteres Vorurteil, auf das der Agitator rechnen kann. Doch während sich die Juden selbst nicht ändern, ändern sie ihre Umwelt, betätigen sich als »Troublemakers« – angeblich, um ihre Macht auszudehnen. In der gesellschaftlichen Malaise scheinen sie sich wohlzufühlen. Sie dafür verantwortlich zu machen, dazu bedarf es nur eines weiteren Schrittes, eines Schrittes, den der Agitator gar nicht zu machen braucht. Denn hinter jeder Bedrohung der Gesellschaft steht – auch unausgesprochen – der jüdische Einfluss. Juden sind also die wahren Verfolger. Dabei sind sie »schlau« genug, schlichte US-Amerikaner in ihre rachsüchtigen Pläne einzuspannen und auch massenkulturelle Mittel zu diesem Zweck zu nutzen. Darauf beruht ihre Macht, eine Macht, die freilich nur ideell ist. Die Utopie von Harmonie, Toleranz und individuellem Glück, die sie vorleben, wird auf diese Weise denunziert, sie beruhe letztlich auf Betrug. Den US-amerikanischen Nichtjuden ist deshalb die jüdische Kultur ein ständiger Dorn im Auge, lautet das Fazit der Autoren. Juden sind zwar nicht der Hauptfeind des Agitators, doch werden sie zum »Symbol, auf das der Agitator seinen ganzen eigenen, ohnmächtigen Zorn gegen das Ungenügen der Zivilisation projiziert«.
Verbale Gefühlsentladung Generell gilt, dass die positiven Vorschläge, die der Agitator anbietet, weniger entwickelt sind. Sie bewegen sich im vagen Umfeld traditioneller US-amerikanischer Werte und Ideale und lassen sich zumeist als bloßes Gegenstück zu den kritisierten Eigenschaften und Einstellungen der Gegner beschreiben. Die Werte und Ideale werden dabei stets reichlich nebulös formuliert. So besteht das Ziel etwa daran, den »Spirit of America«, den US-amerikanischen Geist, wieder aufzurichten. Dazu gehört die Abwehr all dessen, was irgendwie an Kommunismus und andere ausländische Einflüsse erinnert. Auch die Arbeiterbewegung im eigenen Land sei nur Teil eines internationalen Komplotts.
Als absolute, durch die US-Tradition geheiligte Werte gelten statt dessen Familie und Religion. Materielle Bedürfnisse spielen nur eine untergeordnete Rolle, da sie an demokratische und soziale Bewegungen erinnern. Zwar verspricht auch der Agitator gelegentlich, den Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Doch im wesentlichen offeriert er »Verhaltensweisen, kein Brot«. Der Hauptakzent liegt in der verbalen Gefühlsentladung, die sich dann einstelle, wenn die Amerikaner endlich »erwacht« seien. Die Anhänger werden aufgefordert, »zurückzuschlagen« gegen jene, die sie übervorteilen. Der Agitator kämpft nicht für universalistische Ziele, sondern für den Schutz »zur Abwehr des Feindes«. Dazu bedarf es einer klaren Entscheidung für die richtige, das heißt, die eigene Seite. Die Welt des Agitators ist somit durch eine klare Dichotomie gekennzeichnet. Gelegentlich schmückt er sich dabei mit allgemein anerkannten Namen, etwa denen George Washingtons oder Abraham Lincolns. Seine Einstellung ist bewusst nationalistisch im Sinne eines Amerikanismus, der keine Klassenunterschiede kennen will. Dazu gehört auch die Reinheit, ein Freihalten von allen »unamerikanischen« Verhaltensweisen. Sobald dies konkreter gefasst wird, ist zumeist vom freien Unternehmertum, von Individualismus, von Schutztarifen oder sichtbar gezeigtem Nationalstolz die Rede. Das eigentliche Programm bleibt dürftig.
Gelegentlich zeigt sich ein großer Respekt für die institutionalisierte Gewalt. Zwar werden die Vertreter der Regierung – einschließlich der Rechtsprechung – regelmäßig angegriffen, doch letztlich will man diese Kräfte auf die eigene Seite ziehen. Das gleiche gilt für die Polizei. Auch ein Marsch auf Washington taucht immer wieder als Idee auf, um sich auf diese Weise Geltung zu verschaffen. Doch selbst dabei geht es keinesfalls um Machtübernahme oder gar Revolution. Das Ziel besteht eher darin, Regierung und Legislative ständig unter Druck zu setzen. Ein potentieller Aufruhr soll sich in Grenzen halten, denn die Masse ist im wesentlichen passiv und soll dies auch bleiben. Am ehesten erinnern solche Zielvorstellungen an einen Putsch. Dessen Zweck besteht nicht in der Umgestaltung der Verhältnisse, sondern im »Rauswurf«, gegebenenfalls auch in der Liquidierung des Feindes. Gewaltausbrüche sind für den Agitator unter diesen Bedingungen gerechtfertigt, sie gleichen einer Polizeiaktion. So sei es das Recht der einfachen, geradlinig denkenden und patriotischen US-Amerikaner, Vertreter des New Deals außer Gefecht zu setzen, ja sie kurzerhand einzusperren. Ihre Schuld werde sich später sicher beweisen lassen. Solche Gewaltphantasien sollen die Anhänger emotional aufstacheln.
Ablenken von sozialen Missständen Immer wieder geht es in der Studie von Löwenthal und Guterman um das zentrale Verhältnis von Agitator und Anhänger, das sich nur erschließt, wenn man den psychologischen Wechselbezug analysiert. Der Agitator kennt die Auswirkungen der sozialen Malaise und verstärkt die Vorurteile und Stereotypen, mittels derer von den wahren Problemen abgelenkt wird. Der Agitator hat zwar keine Lösung für die Probleme, auf die er pauschal Bezug nimmt, doch gibt er vor, als einziger die wahren Hintergründe zu kennen. Sein Ziel besteht in der Beherrschung der Massen. Gleichzeitig ist er sich bewusst, dass er keine wirkliche politische Macht hat. Es bleibt also nur das Gefühl persönlicher Macht, die auf dem Einfluss über die Anhänger beruht.
In der Vergangenheit wirkten diese Mechanismen zumeist reichlich bizarr, Phänomene dieser Art galten als Produkte des »Lunatic fringe«, einer psychologisch derangierten, aber letztlich ungefährlichen Randzone, die man gewähren lassen könne. Löwenthals Studie hat dagegen frühzeitig auf die Mechanismen dieser Art von randständiger Kommunikation aufmerksam gemacht. Heute, siebzig Jahre später, sind die anfangs noch gleichsam mikroskopisch erfassten Probleme ins Makroskopische gewachsen. Die Trends der letzten drei oder vier Jahrzehnte, etwa die gewandelten Kommunikationsbedingungen, das intensivere Zusammenspiel von Regierung und Medien, sowie die stärkere Verbreitung rechter Radiosender wiesen bereits in diese Richtung. Doch dann saß plötzlich der Agitator selbst im Weißen Haus, eine Situation, die sich wohl kaum einer der Vorgänger aus den 30er oder 40er Jahren vorstellen konnte. Das Randphänomen rückte ins Zentrum der Macht und wurde zum Mainstream. Die Bindung an die Anhänger, deren Zahl nun ins Millionenfache gewachsen ist, bleibt dabei entscheidend. Sie hat, so lässt sich argumentieren, ihre Intensität nicht verloren. Moderne Kommunikationsmedien haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Statt sich auf Reden im Radio oder Pamphlete und Broschüren zu beschränken, sorgen täglich versandte Kurznachrichten für einen weitaus engeren Kontakt. Sie stellen die Nabelschnur zwischen Agitator und Anhängerschaft dar.
Auf diese Weise lässt sich die eingangs erwähnte unbedingte Loyalität erklären. Die Qualität dieser Bindung besteht nicht im Politisch-Programmatischen, sondern im Emotional-Identifikatorischen. Die Kurznachrichten informieren über die emotionalen Befindlichkeiten des Präsidenten, der seinerseits ein Spiel mit den Ressentiments der Anhänger treibt. Obendrein erklären die »Nachrichten« auch die Welt (wie Trump sie sieht). Die Folgen einer solchen Emotionalisierung und Realitätsverzerrung sind auch nach dem Abgang des Agitators nicht abzusehen. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass Trump sich nicht (nur) an persönlicher Macht berauscht hat, sondern die auf breiter Einflussnahme beruhende Macht als Flankenschutz zur Durchsetzung seiner Politik genutzt hat. Und diese Politik, sei es der Versuch der Niederringung des Konkurrenten China und die Verhängung von Schutzzöllen, sei es der Migrationsstopp, sei es die aggressive Außen- und Rüstungspolitik, hat durchaus die Zustimmung der von ihm beherrschten republikanischen Partei gefunden. Es ist also kein Wunder, dass sie bis zuletzt gezögert hat, sich von ihrem Protagonisten zu distanzieren.
Anmerkung
1 Leo Löwenthal und Norbert Guterman: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator, New York 1949. Eine englische Neuausgabe erscheint im April 2021 bei Verso. Die deutsche Neuausgabe erscheint im Februar bei Suhrkamp unter dem Titel: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation.
Junge Welt