Die Methode von der Leyen: Inszenieren, emotionalisieren, die Realität ausblenden (Sascha Lobo)

Neue Chefin der EU-Kommission soll Ursula von der Leyen werden - oder, wie viele im Netz sagen: Zensursula. Diesen Spitznamen verdankt sie der Netzsperren-Debatte, die sie einst vorantrieb - mit einem verstörenden Politikstil.

Dirk Vorderstraße • CC BY 3.0

Jetzt soll Ursula von der Leyen also Präsidentin der Europäischen Kommission werden. Was sich nahtlos einfügt in das schon länger laufende, soziale Großexperiment: Wie viele merkwürdige Volten, verstörende Absurditäten und kaltschnäuzige Bosheiten kann sich die EU leisten, um auch die hartnäckigsten Europa-Fans zu entsetzen? Ungeschlagen an der Spitze natürlich das Migrantenabschrecken durch Ertrinken-Lassen, ergänzt durch die Kriminalisierung der Seenotrettung. Was zugegeben für die so Gestorbenen ein Winkelminütchen unangenehmer ist als ein schales Gefühl beim Tragen des EU-Pullovers.

Interessant jedoch, wer von der Leyen jetzt für "nicht die schlechteste Wahl" hält. Was in einer Welt mit Trump, Salvini und Boris Johnson ungefähr dem Kompliment für die Köchin entspricht, immerhin sei das Abendessen nicht radioaktiv. Ein Blick in die Vergangenheit lohnt, um Ursula von der Leyens Politikstil und ihre Methoden näher kennenzulernen - am Beispiel der Netzsperren ("Zugangserschwerungsgesetz") von 2009.

Inszenierung

Der öffentliche Teil der Geschichte beginnt im November 2008. Auf der Suche nach einem politischen Gewinnerthema für die Bundestagswahl zehn Monate später findet die damalige Familienministerin einen vermeintlichen Selbstgänger: Die Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet. Dagegen kann niemand ernsthaft sein.

Ursula von der Leyen, das steht schnell fest, ist eine PR-getriebene Ministerin mit einem Gespür für kommunikative Wirksamkeit. Nicht, dass sie keine Überzeugungen hätte. Aber Vermarktbarkeit erscheint als zentrales Kriterium, und zwar vor allem für die eigene Marke als starke, durchsetzungsfähige Ministerin. Damals wird von der Leyen als Merkel-Nachfolgerin gehandelt, und zwar hauptsächlich durch von der Leyen selbst.

Politischer Inhalt

"Ich bin der festen Überzeugung, dass der Gesetzgeber jetzt handeln muss", sagt von der Leyen und schlägt Netzsperren als Werkzeug zur Bekämpfung vor. Für die konkrete Vermarktung illustriert sie dieses Instrument mit einem Stopp-Schild. Es rächt sich, dass in Deutschland nie über Internet-Exzeptionalismus debattiert wurde, also über die Frage, welche Regeln aus der dinglichen Welt sich wie in die digitale Welt übertragen lassen. Deshalb erscheint selbst Fachleuten der Vergleich zwischen Datenverkehr und Straßenverkehr sinnvoll. Obwohl solche Metaphern politisch großen Schaden anrichten, weil dann oft nicht Digitalprobleme, sondern die Metaphern für Digitalprobleme reguliert werden.

Mit dem Thema hat von der Leyen ursprünglich wenig zu tun, sie hat es wahrscheinlich vom damaligen BKA-Präsidenten Ziercke übernommen. Der wiederum hegt schon lange den Wunsch nach einem Sperrinstrument, um problematische Inhalte aus dem Internet zu verbannen.

Emotionalisierung

Von der Leyen scheut sich dabei nicht vor drastischen Maßnahmen. In Interviews benutzt sie etwa Formulierungen wie "Kinderseelen und Kinderkörper werden zerfetzt". Bei Auftritten wird deutlich, dass sich in solchen Worten auch ihre eigene Bestürzung spiegelt. Bei diesem dramatischen Thema nicht verwunderlich, aber die Frage steht im Raum, ob so sinnvoll Politik gemacht werden sollte. Bei einer Presseveranstaltung im Januar 2009 lässt sie den Journalisten - ernsthaft! - kinderpornografische Aufnahmen vorführen. Eine deshalb erfolgte Anzeige gegen die Ministerin wegen Verbreitung von Kinderpornografie wird eingestellt. Niemand zweifelt daran, dass sexuelle Gewalt Kinder zerstört und bekämpft werden muss, aber diese Radikalität der PR-Emotionalisierung ist neu.

Kollision mit der Realität

Es wird immer deutlicher, dass Netzsperren ein ungeeignetes Mittel gegen verbotene Inhalte sind. Sie wirken in anderen Ländern sogar kontraproduktiv, was die Bekämpfung von gefilmtem Kindesmissbrauch angeht. Netzsperren hindern unbedarfte Nutzer daran, eine Seite aufzurufen, aber die Inhalte sind immer noch da. Nach dem Prinzip "Aus den Augen, aus dem Sinn" geschieht dann meist nichts mehr. Die Gegner argumentieren deshalb mit dem Slogan "Löschen statt sperren".

Außerdem lassen sich Netzsperren sehr einfach umgehen. Eine Anleitung wie das geht, kursiert auf YouTube. Der Clip ist 27 Sekunden lang. Noch dazu gehören Webseiten kaum zu den Hauptverbreitungswegen von Kinderpornografie, das Material wird eher in Tauschbörsen oder E-Mail-Zirkeln ausgetauscht, wie selbst das BKA zugibt. Von der Leyen aber hat sich des Themas mit größter Intensität angenommen, und einen einmal mit großem Inszenierungsgetöse eingeschlagenen Weg möchte sie auf keinen Fall verlassen - technische Realitäten hin oder her. Eine Fehlerkultur scheint ihr noch fremder als in der deutschen Politik ohnehin.

Konzeptlosigkeit

Im Frühjahr 2009 lässt sich nicht mehr verbergen, dass von der Leyen die Netzsperren weitgehend konzeptlos angegangen ist. Die meisten nicht-behördlichen Fachleute raten ab, der wissenschaftliche Dienst des Bundestags auch, die Netzgemeinde, die Sperrlisten über Kinderpornografie hinaus befürchtet, sowieso.

Zunächst möchte von der Leyen private Verträge mit den Providern schließen, die allerdings vom Justizministerium als möglicherweise grundgesetzwidrig betrachtet werden. Im April 2009 lässt von der Leyen in einem PR-Termin, passenderweise im Bundespresseamt, diese Verträge auch tatsächlich unterschreiben. Sie dienen allerdings nur noch als Druckmittel für eine neue Gesetzgebung.

Partnerdruck

Von der Leyen ist bei der Partnerfindung sehr geschickt und arbeitet mit Verbündeten in der Presse, in Behörden und in Unternehmen zusammen. Auf diese Weise erhöht sie den Druck, unter anderem auf den Koalitionspartner SPD. Obwohl die Sozialdemokraten dafür bekannt sind, selbst stärkstem politischen Druck standzu… - haha, nein, die SPD knickt natürlich umgehend ein. Führung und Abgeordnete haben panische Angst, dass die "Bild"-Zeitung sie im Wahlkampf als Befürworter von Kinderpornografie brandmarken könnte.

Gegnerdruck

Retrospektiv ist die größte, netzpolitische Leistung von der Leyens eine indirekte. Sie war Anlass für das bis dahin größte und wirksamste, deutsche Politik-Mem: Zensursula. Der Begriff stammt von einem Twitter-Nutzer namens @erdgeist aus dem Umfeld des Chaos Computer Club (CCC). Ohne dieses Mem wäre der Protest kaum so erfolgreich gewesen.

Mit ihren Netzsperren hat von der Leyen auch die bis dahin bedeutungslose Piratenpartei groß gemacht, die in der Folge zeitweise in vier Länderparlamenten sitzt. Von der Leyen hat das Talent, ihre Gegner zu Höchstleistungen anzuspornen. Die bis dahin größte E-Petition auf den Servern des Bundestages gegen von der Leyens Netzsperren wird von über 130.000 Menschen unterzeichnet.

Unredlichkeit

Von der Leyen provoziert auch deshalb so heftige Reaktionen, weil sie immer wieder unsauber zu kämpfen scheint. In der Debatte um die Netzsperren verbreitet sie mehrfach falsche oder komplett unbewiesene Statistiken. Ein Videomittschnitt eines Wahlkampfauftritts taucht auf, auf dem sie mit Falschbehauptungen die Gegner der Netzsperren übel diffamiert.

Intransparenz

Andre Meister, einer der Macher von Netzpolitik.org, hat seine Masterarbeit 2011 über das Zustandekommen der Netzsperren geschrieben. Darin zitiert er einen in der Anfangszeit konzeptionell Beteiligten: Das Handeln des Familienministeriums sei über längere Zeit "von einer hohen Intransparenz gekennzeichnet" gewesen. Das lässt sich aus Perspektive der interessierten Öffentlichkeit prinzipiell über von der Leyens bisherige Politik sagen: Inszenierung und Verschwiegenheit gehen auf unangenehme Art Hand in Hand.

Schädliche Nebenwirkungen

Das "Zugangserschwerungsgesetz", heute würde es "Schönes-Stoppschild-Gesetz" heißen, wird von der Großen Koalition im Sommer 2009 verabschiedet. Auch weil Horst Köhler sich lange weigert, es zu unterzeichnen, tritt es zwar im Februar 2010 in Kraft, wird aber auf Erlass umgehend ausgesetzt und schließlich 2011 aufgehoben. Der zivilgesellschaftlichen Gegenwehr wegen, des Erfolgs der Piratenpartei halber, aber auch, weil die Methode von der Leyen irgendwann selbst bei ihren Partnern Zweifel oder sogar Argwohn weckt. Den Spitznamen Zensursula, der sie sehr getroffen haben soll, wird Ursula von der Leyen nicht wieder los.

Fazit

Natürlich können Menschen sich ändern. Allerdings lassen die vielen Merkwürdigkeiten, Unzulänglichkeiten und Debakel in von der Leyens darauffolgender Amtszeit als Verteidigungsministerin eher nicht darauf schließen. Aber neues Amt, neues Glück.


Anmerkung des Autors: Ich war 2009 sowohl Teil der Gegenbewegung gegen Netzsperren wie auch Testimonial einer Werbekampagne von Vodafone. Dieses Unternehmen hat hinter den Kulissen für die Netzsperren lobbyiert. Gleichzeitig war ich, ohne je Parteimitglied gewesen zu sein, Teil des Online-Beirats der SPD, der wegen der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Netzsperren zurücktrat.



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