Der Notstand erzeugt einen eigenen Sog

Die Bundesrepublik Deutschland hat am 27. März weitreichende Möglichkeiten zur Einschränkung von Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz in Kraft gesetzt. Manche sehen darin schon den Anfang vom Ende der liberalen Demokratie. Aber der Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze kommt gerade im Fall der Krise, der Gemeingefahr und der Ausnahmelage grösste Bedeutung zu.

Thomas Fischer, Kommentar 06.04.2020, 05.30 Uhr

Seit in Deutschland das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. 3. 2020 in Kraft getreten (BGBl. I, S. 587) und dadurch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) geändert worden ist, wird über Zulässigkeit, Nützlichkeit, Angemessenheit und über weiter- und tieferreichende Konsequenzen dieser Regelungen debattiert.

Nimmt man die medialen Veröffentlichungen für die Wirklichkeit, so hat man den Eindruck eines allgemeinen Klagens ohne rechtes Mass und Ziel. Gegen eine breite, kritische Diskussion ist in der gegebenen Lage gewiss nichts einzuwenden. Freilich spricht auch nichts dafür, dass allein die vielfache Wiederholung und Steigerung von immergleichen Aufgeregtheiten das inhaltliche Niveau der Erkenntnis und die Vernünftigkeit der Kritik durchgreifend erhöhen könnten, weil die Faktenlage oft unklar, die Zusammenhänge sehr unübersichtlich und die Prognosen überaus schwierig sind.

Freiheit und Wirtschaft

Verstärkt wird die Unübersichtlichkeit durch eine Berichterstattung, die auch belangloseste Verwirrungen und inhaltleere Spekulationen zu News aufwertet und damit neue Aufgeregtheiten produziert. Als Beispiel für annähernd sinnfreie Kombination von Homestory, Endzeitstimmung und Promiklatsch können Berichte vom 1. April dienen, wonach der Schriftsteller Ferdinand von Schirach erstens gesagt habe: «Hamstern hat bei mir keinen Sinn, weil ich nicht kochen kann», und zweitens: «Für Strafverteidiger ist Weihnachten das, was für Handchirurgen Silvester ist.» Die Zitate sollten die Bevölkerung darüber informieren, der Dichter, der früher einmal Strafverteidigungen geführt haben soll, «warne vor dem Corona-Koller».

Als ein schönes Beispiel für die Klagen über angeblich schon heute unerträgliche Beschränkungen des Lebens- und Bürgerrechtsraums heisst es im «Spiegel»: «Ein Buch kaufen, auf einer Parkbank sitzen, sich mit Freunden treffen – das ist jetzt verboten, wird kontrolliert und denunziert. Die demokratischen Sicherungen scheinen durchgebrannt . . . Ob (eine) Massnahme verhältnismässig ist, danach fragt keiner mehr. Ob sie etwas im Kampf gegen Corona bewirkt, ist zweitrangig . . . Es ist die Zeit der Denunzianten . . . Eine Berliner Kollegin versteckt sich derzeit in ihrem Zweitwohnsitz in der Prignitz, wo sie (. . .) sich nicht mehr aufhalten darf, weil Menschen aus der Grossstadt jetzt als Virenträger gelten.»

Dieser Bericht aus dem Abgrund scheint mir stark überzogen. Der Landkreis Ostprignitz-Ruppin, in dem sich die erwähnte Kollegin «verstecken» soll, weil Grossstädter «als Virenträger gelten», hat nicht eine Diskriminierungsanordnung gegen Berliner erlassen, sondern darauf hingewiesen, dass in dem von besonders vielen alten Menschen bewohnten, medizinisch-infrastrukturell schlecht ausgestatteten Kreis besonders viele wohlhabende Berliner Wochenendhäuser besitzen, und angeordnet, dass diese vorübergehend nicht benutzt werden dürfen. In einer Abänderung wurde verfügt, dass solche Benutzer, die sich bereits in der Zweitwohnung aufhalten, dort bleiben können. Das scheint mir sachgerecht und ist gewiss kein überzogener Eingriff ins Eigentumsrecht. Überdies hat das Verwaltungsgericht Potsdam die Allgemeinverfügung in zwei Eilschritten für unwirksam erklärt.

Man darf in Deutschland auch «ein Buch kaufen», ebenso, wie man «eine Bratwurst essen» oder «Musik hören» darf. Man darf dies aber vorübergehend nicht in engen Läden, an gedrängten Ständen und in vollgehusteten Konzertsälen. Damit ist die Demokratie noch nicht am Ende, auch wenn der Berliner Event-Liebhaber sich vorübergehend in der Finsternis seiner Studierstube langweilt.

Ähnlich unsubstanziell sind viele der tausendfachen Anregungen zur Bewältigung des Zielkonflikts zwischen Gesundheit und Wohlstand, sprich des Spannungsverhältnisses zwischen Seuchenbekämpfung und Wirtschaftsbelebung. Die «Durchseuchungskurve» ist noch in steilem Anstieg, die Kontakte sind gerade einmal zehn Tage eingeschränkt, da durchzieht die Kommentarspalten und Internetforen schon eine Ahnung von Massenverelendung, Hungersnot, Obdachlosenheeren und Revolution.

Es ist bemerkenswert, wie viel Phantasie deutsche Einzelhändler, Handwerkerinnen, Vertriebsmitarbeiter oder Nagelstudio-Inhaberinnen aufbringen, um vom Liquiditätsengpass ihrer Ich-AG unmittelbar auf die Endzeit der Zivilisation zu schliessen. Immerhin stehen zur Abwendung des deutschen Untergangs nach den Schwüren der Regierung vorerst allein im schon bewilligten Nachtragshaushalt 156 Milliarden Euro bereit. Der weitaus grösste Teil der Weltbevölkerung würde sich überaus glücklich schätzen, hätte er solche Helfer an seiner Seite.

«I want you to panic»

Bleiben die – jedenfalls nach den veröffentlichten Statements – allerwichtigsten Güter von allen: Demokratie und Rechtsstaat. Für ihre Rettung würde, so darf man erfreut lesen, selbst die mittelständische Wirtschaft das letzte Hemd geben, und kein deutscher Freiberufler hätte, wenn ich es recht verstehe, lieber von Herrn Orban 100 000 Euro geschenkt statt von Herrn Scholz geliehen.

Aus den Winkeln und Hallen stürzen Verfassungsexperten hervor, Soziologen, Historiker und Zukunftsforscher, Erkenntnistheoretiker und Rechtskundige, und geben zu bedenken, dass einst Carl Schmitt vom Souverän des Ausnahmezustands schwärmte und mit der Kraft des Gedankens den Weg freimachte für den nationalsozialistischen Massnahmenstaat. Haudegen der 1960er Jahre steuern Erfahrungen mit dem 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 30. Mai 1968 bei – der sogenannten Notstandsgesetzgebung, die an die Feststellung des «Verteidigungsfalls» (Art. 115l GG) und des «Spannungsfalls» (Art. 80a GG) eine weitgehende Suspendierung der Gewaltenteilung und eine Zentralisierung der staatlichen Befehlsgewalt knüpft.

Nun ist zwar zwischen der Übertragung der Gesetzgebungsmacht auf einen «gemeinsamen Ausschuss» sowie der militärischen Befehlsgewalt auf den Bundeskanzler einerseits und der jederzeit rücknehmbaren Verordnungsermächtigung des IfSG andererseits ein gewisser qualitativer Unterschied – aber das Wort «Notstand» erzeugt halt einen ganz eigenen Sog.

«I want you to panic», sprach vor Jahresfrist eine kindliche Seherin zu den Grossen der Welt. Und hat recht behalten, wenngleich, wie es sich für Orakel ziemt, auf unerwartete Weise.

Ungefähr 80 Prozent der Deutschen bemängeln seit Jahr und Tag, es werde nicht genug «geführt» und nicht klar und hart genug entschieden; politische und gesellschaftliche Eliten ergingen sich in fruchtlosen Bedenken, anstatt entschlossen und zügig alle Menschen reich, alle Journalisten glücklich und alle Sorgen überflüssig zu machen. Nun, da ein weltweites Unglück von jahrhundertprägendem Gewicht eingetreten ist, mäkeln 80 Prozent über die angeblich unerträglichen Zumutungen halbwegs konsequenter und erfolgreicher Massnahmen der Exekutive zur Verhütung einer unkontrollierbaren Katastrophe.

Noch ein Zitat aus der Abteilung «Berlin bei Nacht»: «Die deutsche Bevölkerung macht gerade ihr Rendez-vous mit dem Polizeistaat. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, macht sich verdächtig . . . Wer einmal von der Polizei mit seinen Kindern vom Spielplatz vertrieben wurde, wie soll der die gleichen Polizisten nach der Krise wieder als Freund und Helfer betrachten können?», schreibt der «Spiegel». Traumatisierungen wie das Vertreiben vom Spielplatz, das Fragen nach dem Ziel der Fortbewegung oder das Verhängen einer Geldbusse wegen vorsätzlichen Begehens einer Ordnungswidrigkeit verletzen angeblich das Rechts- und Freiheitsgefühl der Deutschen. Ich habe Zweifel an der Berechtigung solcher Beschwerden.

Grundsätze des Rechtsstaats

Aus verschiedenen Gründen kommt der Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze gerade für den Fall der Krise, der Gemeingefahr und der Ausnahmelage grösste Bedeutung zu. Denn auf die Garantie von Freiheit und Gleichheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde kommt es an, wenn’s schwierig ist, und nicht, wenn alle von allem im Überfluss haben. Ebenso ist es mit den Grundsätzen und Regeln des Rechtsstaats. Und Rechtsstaat bedeutet, dass der Staat selbst sich an die Regeln des Rechts zu halten hat.

Gewaltenteilung ist eine Lebensversicherung der Gesellschaft durch (rechtlich veränderungsfeste) Einrichtung von gegenseitig unabhängigen Kontrollmöglichkeiten. Beides ist durch das Prinzip der (parlamentarischen) Demokratie verbunden und auf sie bezogen.

Auch mögen geschichtliche Analogien, Anknüpfungen und Verweisungen zwar wichtig und oft lehrreich sein, sie sind aber in der Regel auch strukturell unterkomplex. Daher ist es Unsinn, beim Thema «Infektionsschutzgesetz 2020» reflexartig «Weimarer Notverordnungsrecht» oder «Notstandsgesetze 1968» zu rufen und den Untergang des Rechtsstaats (oder gar der Demokratie) zu prophezeien. Es bringt im Übrigen auch einen unangenehmen Alarmismus zum Ausdruck, der seine Anknüpfung gerade nicht in objektiven, rational reflektierten Analysen von Risiken und Gefahren findet, sondern in einem postmodern hysterisierten Betroffenheitstheater, in welchem es vorwiegend darum geht, «Opfer»-Positionen zu besetzen oder sich als deren Sachwalter in Stellung zu bringen.

Das Gesetz vom 27. 3. 2020 hat weder die Demokratie abgeschafft noch die Gewaltenteilung; es stellt die beiden Grundsätze auch nicht infrage. Jede einzelne Massnahme staatlicher Stellen kann mit Rechtsmitteln angegriffen und von unabhängigen Gerichten geprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden (Art. 19 Abs. 4 GG); die Legislative kann die Feststellung einer Infektionslage nationaler Tragweite jederzeit zurücknehmen.

Es soll damit nicht gesagt sein, dass die Regelungen und Massnahmen, die in Deutschland zur Bekämpfung der Corona-Epidemie getroffen worden sind, allesamt zweckmässig, richtig, fehlerfrei oder gar «alternativlos» gewesen seien. Darum geht es nicht. Regierungen und Gesetzgeber sind – unter anderem – dazu da, die zur Gefahrenabwehr notwendigen Massnahmen zu treffen. Es gibt keine verfassungsrechtliche Verpflichtung oder Garantie, dass dies stets in optimaler Weise geschieht. Kritik ist zulässig, veranlasst, erwünscht und nicht selten nützlich. Einen verfassungsrechtlichen Anspruch, berücksichtigt zu werden, hat sie nicht. Wer meint, dass Parlament und Regierung zu viele Fehler machen oder in einer Krisenlage anders hätten entscheiden sollen, wählt beim nächsten Mal andere.

Für überzogen halte ich die Behauptung, Deutschland wandle sich (oder werde sich wandeln) unter dem Eindruck der Corona-Krise in raschen Schritten zu einem «totalitären» Staat, in dem wesentliche Prinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie zugunsten einer obrigkeitlichen Sicherheitsarchitektur verschwänden. Man sollte sich daran erinnern, zu welchen Massnahmen dieselben Bürger, die zur Vermeidung von vielen hunderttausend Seuchenopfern einige Monate lang an uneingeschränktem Geldverdienen, Grillfesten und Ferienreisen gehindert werden, noch vor kurzem bereit waren, wenn Terroristen in Weihnachtsmärkte fuhren oder Einreisekontrollen ausblieben.

Ein Volk von Cookie-Akzeptierern, Instagram-Postern und Werbetracking-Zustimmern, 50 Millionen Bürger, die widerspruchslos und freiwillig intimste Daten über ihr gesamtes Sozial-, Arbeits-, Reise- und Beziehungsverhalten an internationale Datenkonzerne senden, geraten in Überwachungsstaat-Panik angesichts der Frage, ob man gegen eine hochinfektiöse tödliche Lungenkrankheit möglicherweise eine (freiwillige!) Tracking-App einsetzen soll. Diese Menschen kaufen pro Jahr 25 Millionen Smartphones und Navigationsgeräte, für deren Nutzung durchweg Ortungsdienste aktiviert werden, und klicken bedenkenlos «Ja» bei jeder ungelesenen Kenntnisnahmeerklärung unter AGB und Datenschutz-Disclaimern.

Klar: Man kann das eine nicht unmittelbar mit dem anderen aufwiegen. Aber man muss die Verhältnismässigkeit allfälliger Eingriffe wie auch der panikartigen Kritik im Auge behalten.

Seit 1968 hat sich viel verändert – nicht zuletzt die soziale Kommunikation und das Verhältnis der Bevölkerung zur Obrigkeit. Dass ein Präventionsstaat mit einem Grundrecht auf Sicherheit gefordert und weithin befürwortet wird, konnte man sich vor fünfzehn Jahren kaum vorstellen; Strukturen der Aussenleitung, der Begrenzung und der sozialen Verantwortlichkeit sind einer fast vollständigen individuellen Freiheit, einem Hochgeschwindigkeitsrennen von innengeleiteten Selbstoptimierern gewichen. Das verändert (fast) alles, auch den Umgang mit Krisen und Ausnahmezuständen. Wenn denn das Unglück der Pandemie positive Lerneffekte anstösst, könnte (sollte) die Einsicht in diese Systemverschiebungen und ihre Konsequenzen dazugehören.

Thomas Fischer ist Rechtswissenschafter und Bundesrichter a. D. Zuletzt ist von ihm erschienen: «Über das Strafen. Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft». Droemer-Verlag, München 2018.