Das Ende des Stillen Weltkriegs

Das Ende des Stillen Weltkriegs

Nach der Parade zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Moskau am 9. Mai rollte nun also das chinesische Pendant in Beijing (Peking) über die Chang’an-Allee. Abordnungen von 17 ausländischen Streitkräften nahmen teil, auf der Tribüne saßen die Staatschef von 30 Nationen. Der Ehrengast war dabei selbstverständlich Russlands Präsident Wladimir Putin. Damit wurden die japanische Kapitulation vor 70 Jahren und das damit verbundene Ende des Krieges auch in Asien gefeiert. Aber war es wirklich nur das? Nein. Die Parade markiert vielmehr den Schlusspunkt einer aktuellen Entwicklung, die sich über mehr als 15 Jahre hochgeschaukelt hat. Und die auch ganz anders hätte ausgehen können.

Stell Dir vor es war Krieg...

Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 legte den Grundstein: Die NATO-Staaten beanspruchten damit für sich das Recht, die Welt nach ihren Vorstellungen zu "ordnen" und sich bei Bedarf über das Völkerrecht hinwegzusetzen. Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem daraufhin ausgerufenen "Krieg gegen den Terror" war es offiziell: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.

Doch dieser Unilateralismus untergrub das Ansehen des Westens in der Welt nachhaltig und rief Widerstände hervor, die sich zunehmend in Foren wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) organisierten. Russland war es schließlich, das eine klare Grenze zog: Putins schonungslos ehrliche Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und die Verteidigung Südossetiens gegen den Angriff der georgischen Armee 2008 waren eine unmissverständliche Botschaft an die NATO - "Bis hierher und nicht weiter!"

Nach dem Zusammenbruch des überschuldeten westlichen Finanzsystems 2008 und dessen darauf folgenden Anschluss an die "Lebensrettungssysteme" der Zentralbanken verlagerte sich das Hauptschlachtfeld auf die finanzwirtschaftliche Ebene: Da in der Realwirtschaft mangels Nachfrage keine Gewinne mehr zu realisieren waren und höhere Steuern nicht durchsetzbar waren, begann die US-Zentralbank im November 2010 mit dem "Quantitative Easing", dem Aufkauf von Staatsanleihen - sie "druckte Geld".

Staaten mit Exportüberschüssen konnte das nicht gefallen, besonders den Ölexporteuren am Golf. China hingegen verabschiedete sich zunehmend vom exportbasierten Wachstum und kurbelte die Binnennachfrage an, sein prozentualer Handelsbilanzüberschuss verringerte sich rapide. Die Golfstaaten jedoch brauchten die NATO weiterhin als Garant ihrer Sicherheit: Schon die Aufstände des "Arabischen Frühlings" hatten die dortigen autoritären Regime zittern lassen, ab 2011 kamen noch die Kriege in Libyen und Syrien hinzu.

Ukraine: Den Bogen überspannt

Im Jahr 2013 wäre es nach dem angeblichen Einsatz von Chemiewaffen durch die syrische Armee beinahe zu einer westlichen Intervention im Land gekommen, die aufgrund der Bündniskonstellationen ungeahnte Folgen hätte haben können. Moskaus erfolgreiche Vermittlung verhinderte dies jedoch - ein enormer Prestigegewinn Putins, den ihm Teile der Nato-Eliten offensichtlich übel nahmen. Sie forcierten die Konfrontation und eröffneten in der Ukraine eine neue Front, wo ihre Strohmänner eine zunächst demokratische Protestbewegung kaperten und im Februar 2014 in einen blutigen Putsch gegen den neutral zwischen Russland und dem Westen taktierenden Präsidenten Janukowitsch münden ließen.

Doch damit hatten die "Neocons" in den USA und anderswo den Bogen endgültig überspannt. Hatten sich Russland und China (und der Iran) zuvor nur scheinbar lose koordiniert, aber eigenständig gehandelt, so rückten sie nun deutlich enger zusammen. Russland stellte klar, dass es seine Verbündeten in Syrien und der Ukraine nicht im Stich lassen würde, und orientierte sich in seinen (Gas-)Handelsbeziehungen neu - und China arbeitete mit Hochdruck an neuen globalen Institutionen und Allianzen, insbesondere im Bereich der Finanzmärkte. Am bekanntesten ist wohl die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), doch ist sie nur ein Element unter vielen.

Mit diesen Entwicklungen wurde Druck auf die USA und ihre Verbündeten ausgeübt, die alle bestehenden internationalen Organisationen dominieren, auf denen die Weltwirtschaft bis dato "alternativlos" beruht: Zum ersten Mal wird eine Alternative zu IWF, Weltbank und Co. geschaffen - und damit auch zum US-Dollar als globalem Zahlungsmittel.

Zum nicht nur symbolischen Kristallisationspunkt wurden nicht zufällig die Verhandlungen mit dem Iran über ein "Atomabkommen" und das damit verbundene Ende der wirtschaftlichen Isolation des Landes: Diese wurden zwar kontinuierlich geführt, doch angesichts der großen Widerstände in der amerikanischen Rechten gab es starke Zweifel daran, ob sie jemals zu einem Ergebnis führen würden - bzw. ob das überhaupt angestrebt wurde.

Es lohnt sich ein Blick zurück: Vor etwa zehn Jahren spielte Teheran mit dem Gedanken, Öl in anderen Währungen als Dollar abzurechnen, und richtete auf der Insel Kish eine eigene Ölbörse ein. Diese kann zwar getrost als eher symbolisch bezeichnet werden, stellte aber dennoch eine klare Herausforderung der bestehenden Ordnung dar. Insofern geht es bei dem Abkommen mit dem Iran um weit mehr als nur Urananreicherung: Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die westliche Vormachtstellung mit aller Kraft verteidigt - oder ob eine Form des Nebeneinanders akzeptiert wird.

Obamas folgenschwere Entscheidung

Der BRICS/SCO-Gipfel im russischen Ufa im Juli war die Entscheidung: Mit dem Beitritt Indiens und Pakistans zur SCO wurde endgültig offensichtlich, dass ganz Asien (außer Japan) in dieser Auseinandersetzung hinter China steht. Für Lateinamerika gilt das ohnehin seit vielen Jahren - und für die NATO wird es damit einsam auf der Welt.

In dieser Situation gelang es Obama und seinem Außenminister Kerry endlich, sich gegen die Fraktion der kompromisslosen Hardliner durchzusetzen: Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen mit dem Iran kündete davon ebenso wie der zeitgleiche Stimmungswandel in der Ukraine, wo die Regierung endlich Ernst machte mit der Umsetzung des Minsker Abkommens vom Februar. Entscheidenden Anteil daran dürfte die Haltung der EU und insbesondere Deutschlands gehabt haben: Diese stellte sich zwar öffentlich klar hinter Washington, verweigerte sich aber dennoch allen Schritten, die zu einer unkalkulierbaren Eskalation hätten führen können, was besonders deutlich wurde im Fall der Ukrainekrise.

Schon jetzt zeigen sich deutlich die Auswirkungen dieser epochalen Entscheidung in allen aktuellen Konfliktregionen: In der Ukraine ebenso wie in Mittelost, Zentralasien und Südostasien gibt es deutliche Zeichen der Entspannung, werden plötzlich Wege zu einer Auflösung der kriegerischen Konflikte bzw. der extremen Anspannung sichtbar. Insbesondere in Syrien und Jemen wird der Krieg sicher nicht von einem Tag auf den anderen aufhören - aber die Strategien und (möglichen) Bündnisse haben sich grundlegend verändert, und damit auch die Kräfteverhältnisse. Und was Asien angeht, so wird sich der Rest der Welt nicht nur an Chinas neue Stützpunkte im Südchinesischen Meer gewöhnen (müssen), sondern auch an die Kontrolle der Straße von Malacca oder der Beringstraße durch die chinesische Marine. Der Ende 2011 verkündete "pivot to Asia" der USA hat nie wirklich Früchte getragen; jetzt braucht Asien ihren "Schutz" nicht mehr.

Friedensvertrag beendet den "Stillen Weltkrieg"

Die erbitterte Auseinandersetzung der letzten Jahre ist damit beigelegt, der "Stille Weltkrieg" zwischen NATO und SCO (bzw. den USA und China) beendet.

Wann hatte er angefangen? Es ist schwierig, einen genauen Zeitpunkt zu nennen, aber es spricht Einiges dafür, den Kriegsbeginn rückblickend auf November 2010 zu datieren, den Beginn von "QE2". Das Ende des Krieges lässt sich hingegen sehr viel eindeutiger terminieren - auf den Tag des Abschlusses des "Atomabkommens" mit dem Iran, den 14. Juli 2015. Gemeinsam mit dem Minsker Abkommen vom Februar, dem noch ausstehenden afghanischen Friedensvertrag und einer künftigen Klärung der Verhältnisse in Südostasien stellt das Abkommen den Friedensvertrag des "Stillen Weltkriegs" dar.

Hätte die US-Regierung länger gewartet, hätten sich nicht nur in der Causa Iran die Dinge deutlich zu ihren Ungunsten verschoben; womöglich wäre ihr am Ende dann nur noch die bedingungslose Kapitulation geblieben. So beschränkt sich die totale Niederlage auf die neokonservativen Teile der Elite in den USA und anderen Ländern, während der Rest des Landes die ihm zustehende Rolle eines gleichberechtigten Partners im neuen internationalen System sicherlich dankend annehmen wird.

Die heutige Militärparade in Beijing, genauer: die Zwillingsparaden in Moskau und Beijing, feiern somit nicht nur den damaligen, sondern viel mehr noch den genauso wichtigen und schwierigen, wenn auch glücklicherweise weit weniger blutigen aktuellen Sieg. Dass gerade gestern die entscheidende Zustimmung der demokratischen Senatorin Barbara Mikulski zum Iran-Abkommen verkündet wurde - mit 34 sicheren Stimmen kann Präsident Obamas Veto nicht mehr überstimmt werden - und am selben Tag US-Außenminister Kerry eine bewegende, ja historische Rede zur Verteidigung der Vereinbarung hielt, ist sicherlich kein Zufall, sondern vielmehr gelungene Dramaturgie. Und dass heute König Salman von Saudi-Arabien in den USA eintrifft und später im Monat Chinas Präsident Xi Obama einen Besuch abstattet,ist dies ebensowenig: Die globalen Machtstrukturen verändern sich dramatisch - und es gibt sicherlich mehr als genug zu besprechen mit den Staatschefs des wichtigsten alten und des wichtigsten neuen Partners. Saudi-Arabien tritt ab; Chinas Zeit ist gekommen.