Corona, die Triage und der „Ethikrat“: Ökonomie vor Ethik

Triage: Tödliche Ethik

Die Frage der Entscheidung darüber, wer leben darf, entwickelte sich aus der Kriegsmedizin. Über die Wiederkehr der Triage in der Pandemie (Teil 1 von 2)

Von Hans Otto Rößer

Das Covid-19-Virus hat nicht nur den vermeintlichen Gewissheiten über unser gesellschaftliches Naturverhältnis einen Schock verpasst, sondern ebenso ethische Gewissheiten in Frage gestellt. Vor allem die ethische Diskussion geriet in die Latenz, als im Sommer die Zahl der Infizierten in Deutschland zurückging und viele Politiker euphorisch wurden: Wir haben die Lage im Griff, zumindest mehr als alle anderen Nationen. Dann kam der Herbst, und die Zahl der Infizierten stieg auf eine neue Rekordhöhe. Die zweite Welle war da, und mit ihr kam am 2. November der »Lockdown light«. Damit war sie aber nicht zu brechen. Seit dem 16. Dezember gilt ein erneuter, diesmal »harter Lockdown« (der bislang nur der Hoffnung nach nachhaltiger ist). Lag die höchste gemessene Zahl der täglich Neuinfizierten in der ersten Welle bei bundesweit 6.933 am 27. März (Angabe nach WHO, Johns Hopkins University), liegt sie seit Wochen immer öfter über 20.000 und erreichte am 11. Dezember mit 29.875 den Höchststand vor dem aktuellen Shutdown (Bundesregierung mit Berufung auf RKI). Zu Beginn dieses zweiten Shutdowns am 16. Dezember wurde mit 952 Toten eine neue Tageshöchstzahl in der Pandemie erreicht.

Sich verschärfende LageNoch im Oktober schien die objektive Lage in Teilen besser auszusehen als im Frühjahr: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sprach von einer Kapazität an Intensivbetten »weit über dem Niveau anderer europäischer Länder« (8. Oktober). Es gebe 30.000 für Covid-19-Patienten geeignete, also mit einem Beatmungsgerät versehene Intensivbetten, ein knappes Drittel davon sei momentan frei. Hinzu kämen ausreichende Reserven (an Betten), die im Notfall aktiviert werden könnten. Das war ein Unterschied zur Situation im März des Jahres, wo Krankenhäuser aufgefordert wurden, ihre Lager und Keller nach Betten, EKG- und Beatmungsgeräten zu durchforsten. Das schien den Erfolg der Krisenpolitik der Bundesregierung zu bestätigen.

Doch bereits vor Mitte Oktober wurde diese gute Nachricht von der genügend großen Zahl an Intensivbetten wieder entscheidend relativiert durch Sorgen im Blick auf die Ausstattung mit geschultem Personal. Wer sich noch an die Informationen aus Norditalien im März des Jahres erinnert, weiß, dass das Problem nicht in einem Bettenmangel bestand, sondern im Mangel an Beatmungsgeräten und in einem Mangel an Personal, der durch Infektionen von Ärztinnen und Ärzten und von Angehörigen des Pflegepersonals verstärkt wurde. In Deutschland sollen nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) von Ende Oktober 3.500 bis 4.000 Fachkräfte im Bereich der Intensivpflege fehlen. Viele der im Laufe des Jahres von den Krankenhäusern gemeldeten Intensivbetten seien schlicht »nicht bepflegbar«, drückte es Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, am 2. Dezember in der SWR-Sendung »Plusminus« aus. Das bereits in den 1960er Jahren gesichtete Gespenst des »Pflegenotstands« hat sich längst als Wiedergänger entpuppt, der seine Energie aus dem System der Fallpauschalen bezieht.

Ende Oktober bewertete der Präsident des Robert-Koch-Instituts die Krisenlage als »sehr ernst«. Mittlerweile häufen sich solche Meldungen. Kliniken seien am »Limit«, sie stießen »an die Grenzen des Leistbaren«. Diese Sorgen gründen in der Entwicklung der Intensivbettenbelegung: Der Peak der wegen Covid-19 intensivmedizinisch behandelten Kranken in der ersten Welle war laut DIVI-Intensivregister am 18. April mit 2.933 Patientinnen und Patienten erreicht. Am Tag des zweiten »harten« Shutdowns befanden sich 4.826 Covid-19-»Fälle« auf den Intensivstationen, die insgesamt mit 22.530 Patientinnen und Patienten belegt sind. Ihnen stehen 4.542 freie Betten gegenüber (bei sinkender Tendenz seit August und insbesondere seit dem 20. Oktober). Das scheint alles noch nicht dramatisch zu sein. Doch ist zu fragen, wie es um die »Betreibbarkeit« dieser Betten wirklich bestellt ist. Die Klage über die »Grenzen des Leistbaren« stammt aus dem Landkreis Görlitz, bezieht sich auf das Klinikum Oberlausitzer Bergland in Zittau und wird unterstrichen mit der Behauptung, dass die Kapazität von insgesamt 100 Betten auf den eigens eingerichteten Covid-19-Intensivstationen aufgrund von Personalmangel nicht ausgeschöpft werden könne. In »Spitzenzeiten« seien »rund« 85 Betten belegt, von »rund« 600 Intensivpflegekräften des Klinikums seien »zur Zeit« mehr als 100 erkrankt oder in Quarantäne, sagte die Sprecherin des Klinikums gegenüber der FAZ (17. Dezember). Abhilfe sollen hier die je drei bis fünf bundesländerübergreifenden Planungseinheiten und die landesinternen Leitstellen schaffen, die die regionale und gegebenenfalls überregionale Verlegung von Intensivpatienten bei lokalen Engpässen organisieren sollen. Das setzt aber die Transportfähigkeit der Patienten voraus, hinreichende Transportkapazitäten und eine möglichst geringe Dichte von Infektions-»Hotspots«. Ob diese Bedingungen im Moment für Sachsen noch gegeben sind, wird bereits in Frage gestellt.

Urteil über Leben und TodAm Morgen des 18. März 2020 gingen Fotos und Videos aus Norditalien um die Welt. Sie waren in der Nacht zuvor aufgenommen worden und zeigten Lastwagenkolonnen, die Särge von Coronatoten aus Bergamo zu den Krematorien der Region transportierten, weil das Krematorium in der Stadt überlastet war. Schrecklicher als diese Bilder war das nicht Abbildbare. Man konnte darüber wenige Tage später in einem Interview mit einer Ärztin aus einem norditalienischen Krankenhaus lesen. Der Ressourcenmangel habe das medizinische Personal angesichts einer nicht mehr zu bewältigenden Zahl von Schwerkranken zu »sehr schweren Entscheidungen« gezwungen, Entscheidungen, die nicht aus dem Willen der Beteiligten resultierten, sondern »weil die Situation eben war, wie sie war«: »Es ist vorgekommen, dass ich nur ein einziges Beatmungsgerät frei habe, und dass ich dann wählen muss zwischen einem jungen Mann von dreißig Jahren ohne Vorerkrankung und einem alten Menschen über achtzig mit vielen Problemen. Dann muss ich mich leider entscheiden, dem Jüngeren zu helfen. Dann muss ich den Älteren im Stich lassen.«¹

Es folgten Schreckensnachrichten aus dem Elsass: Um die genannte Entscheidung zu vermeiden, würden über 70 Jahre alte Patienten erst gar nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, wenn zu erwarten sei, dass es in Kürze für einen jüngeren Patienten mit besseren Überlebensaussichten gebraucht würde. Das ZDF brachte einen eindrucksvollen Bericht über einen 79jährigen, schwer an Covid-19 Erkrankten, bei dem das im Elsass gelegene Krankenhaus wegen Mangel an verfügbarem Sauerstoff die Beatmung einstellen wollte – das hätte zu seinem Tod geführt. Nur der Beharrlichkeit, mit der seine Tochter eine Verlegung nach Nancy erzwungen hat, verdankt dieser Mann sein Überleben.²

Die hier deutlich werdende ärztliche Entscheidung über Leben oder Tod wurde schnell mit einem französischen Namen belegt: Triage. Das klingt weich und weniger bedrohlich als der historisch belastete Begriff der Selektion, läuft aber in der Sache genau darauf hinaus. Das Wort ist eine Nominalisierung des Verbs »trier« für sortieren, auslesen.

Es dauerte nicht lang, bis deutsche Berufsverbände und andere Gremien und Institutionen das Problem aufgriffen und bearbeiteten. Am 25. März veröffentlichen sechs medizinische Fachgesellschaften »klinisch-ethische Empfehlungen« zu »Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und in der Intensivmedizin in der Covid-19-Pandemie«³, zwei Tage später folgte die »Ad-hoc-Empfehlung« des Deutschen Ethikrates zu »Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise«⁴. Behindertenverbände und die katholische Bischofskonferenz nahmen im April Stellung, am 5. Mai veröffentlichte die Bundesärztekammer eine »Orientierungshilfe (…) zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels«.

Im Oktober fanden erneut Beiträge zur Triage den Weg in die Medien, zuerst nur vereinzelt und scheinbar unvermittelt, zum Teil auch verpackt als »Trolley-Problem«⁵, das den kritischen Kern der Triage-Frage in den Blick nimmt, nämlich dass es nur um negative Lösungen geht, das heißt um Entscheidungen, die zumindest für einen der davon Betroffenen einen tödlichen Ausgang nehmen. Große Resonanz blieb aus. Das gilt auch für die von Katja Gelinsky im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung verfasste Übersicht über Triage-Empfehlungen in neun europäischen Ländern, obwohl auch sie unmissverständlich deutlich macht, dass es bei der Triage um nicht weniger als um eine »Zuteilung von Überlebenschancen und Sterberisiken« geht. Die kleine Studie moniert mangelnde Rechtssicherheit, insbesondere ein fehlendes Triage-Gesetzgebungsverfahren, verweist aber auch auf die Ankündigung des Bundesverfassungsgerichts, die Frage staatlicher Schutzpflichten im Blick auf Triage-Entscheidungen zu überprüfen.

In dieselbe Richtung geht die Verfassungsbeschwerde, die die an Muskelatrophie erkrankte Richterin Nancy Poser Mitte November des Jahres beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat. Sie und ihr Anwalt Oliver Tolmein sehen in der Triage-Leitlinie der sechs medizinischen Fachgesellschaften mehrfach Grundrechte verletzt. Bei der dort vorgesehenen grundgesetzwidrigen Abwägung von Leben gegen Leben würden, so Posers Befürchtung, Alte, Gebrechliche und Behinderte »als erste aussortiert« werden.⁶ Mit ihrer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht will sie eine gesetzliche Regelung des Verfahrens in Mangelsituation erreichen.

Was im Frühjahr in Deutschland vermieden werden konnte, schien eingetreten zu sein, als einen Tag vor Beginn des zweiten »harten« Shutdowns ein Reporter des Deutschlandfunks berichtete, der ärztlichen Direktor der bereits oben erwähnten Klinik in Zittau habe zugegeben, dass dort schon mehrere Male »triagiert« werden musste. Das Portal T-online zitierte eine entsprechende Äußerung des Direktors, die er ihm gegenüber gemacht habe.⁷ Diese Behauptung wurde am nächsten Tag von der Sprecherin des Klinikums und in allgemeiner Weise von der Leitstelle Sachsen dementiert: Kein Krankenhaus in Sachsen habe bisher die Triage anwenden müssen, der Begriff sei dem Direktor auf einem als Videokonferenz organisierten Bürgerforum »rausgerutscht«, die Sprecherin des Klinikums sprach von einem »Missverständnis«.

Wie immer es sich verhalten mag: Konnte man zu Beginn des Jahrtausends noch annehmen, dass der Begriff der Triage kein Bestandteil der Alltagssprache und für die meisten Nichtmediziner unverständlich sei, gelangte er nunmehr auch in die populärsten Nachrichtensendungen. Dies dürfte mehr zu seiner Verbreitung beigetragen haben, als die Wahl auf den 7. Platz der Liste für das Wort des Jahres 2020 durch ein kleines Gremium der Gesellschaft für Deutsche Sprache. Die Definition, mit der die Medien aufwarteten, war allerdings verkürzt und verharmlosend: Es ging meistens um Priorisierung, um die Festlegung der Behandlungsreihenfolge, nur selten wurde hier schon deutlich, dass es um eine Entscheidung auf Leben und Tod geht.

Ursprung der TriageDie Triage ist ein Produkt der Kriegsmedizin, und da geht es nicht nur um bloße Sichtung und Priorisierung, sondern auch um eine Auslese derer, die behandelt werden (können), und derer, denen die Behandlung verweigert wird. Es gibt also nicht nur, um es in den gültigen NATO-Sichtungskategorien oder Triage-Situationen zu formulieren, die Stufen 1 bis 3: Sofortbehandlung bei akuter Bedrohung des Lebens, aufschiebbare Behandlungsdringlichkeit bei Schwerverletzten und spätere ambulante Behandlung bei Leichtverletzten, sondern es gibt eben auch die Sichtungskategorie oder Triage-Situation 4 (die makabererweise genauso abgekürzt werden kann wie die »Aktion T 4«, der Massenmord der Nazis an Behinderten): Verletzte, die »ressourcenabhängig« und »derzeit« ohne Überlebenschance sind – so die Formulierungen eines Lehrbuches über »Taktische Medizin«, dessen zweite Auflage 2015 erschienen ist.8 Die Verfasser fügen hinzu: »Die Sk IV oder T 4 wird nur bei massiv eingeschränkten Ressourcen verwendet. Dies sollte im zivilen Bereich eigentlich nur in einer Katastrophe der Fall sein.« Sollte! Es geht also um »tödliche Entscheidungen« unter extremen Knappheitsbedingungen: Der Behandlungsbedarf übersteigt bei weitem und oft unvorhergesehen die Behandlungsmöglichkeiten.

Die moderne Kriegsmedizin beginnt, ungeachtet ihrer Vorgeschichte, mit den Massen- und Wehrpflichtigenheeren des langen 19. Jahrhunderts. Sie reagiert auf das Problem der »Ressourcenbewirtschaftung«, des Soldatennachschubs, aber auch der gesamtgesellschaftlichen Ressourcenverteilung unter den Bedingungen der »totalen Mobilmachung« (Ludendorff, später der Nazistaat) und auf das Problem der Legitimation, das der Umgang mit Verwundeten unter diesen Bedingungen aufwirft. Dabei kann man beobachten, dass die Staaten mit den größten Möglichkeiten, die medizinische Versorgung verwundeter Soldaten vorzuhalten, auch die sind, die das größte Vernichtungspotential besitzen. Treffen derart annähernd gleich entwickelte Gegner aufeinander wie in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, relativieren sich die militärmedizinischen Möglichkeiten, so imposant sie für sich genommen erscheinen mögen. Die meisten Verwundeten bleiben auf den Schlachtfeldern und erreichen noch nicht einmal die Sammelstellen für Verletzte oder die Frontlazarette, geschweige denn die Lazarette in der Etappe oder im Heimatland. Selbst wenn 80 Prozent der Ärzte in den Militärdienst gestellt werden, wie es in Deutschland während des Ersten Weltkriegs der Fall gewesen sein soll, steht die Kriegsmedizin im Schatten des Destruktionspotentials der »Ausblutungsschlachten«.

Jeder medizinethische Humanitätsanspruch zerbricht an der Herabsetzung von Menschen zu »Kanonenfutter«. Die Kriegsmedizin unterliegt also nicht nur den Restriktionen durch die »Logik« des Schlachtfeldes: den hygienischen Bedingungen der Verbandsplätze auf dem Gefechtsfeld und der frontnahen Lazarette, den langen Transportwegen zu den Lazaretten in der Etappe – oft brauchte man für einen Kilometer eine Stunde, eine englische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass es an der Westfront acht bis zwölf Stunden dauerte, bis ein Verwundeter in der Evakuierungsstelle eintraf. Ihr Problem besteht auch nicht allein in der bloßen Anpassung an diese Bedingungen.

Utilitaristisches PrinzipDer Primat des Krieges über die Medizin beginnt nicht erst auf dem Schlachtfeld. Er beginnt weit vorher, mit der Entscheidung der Staaten, die Pflicht der Erhaltung der Menschenleben zu verkehren in das Recht, Menschen für Staatszwecke aufzuopfern, und er beginnt mit den Imperativen der Kriegsökonomie, die die Kriegsmedizin anderen Prinzipien unterstellt als die zivile Medizin. Im Vordergrund steht jetzt nicht mehr die Versorgung des einzelnen, die individualmedizinische Betreuung, die zumindest ideologisch geltend gemachte »Eigenrationalität des Medizinsystems« (Volker H. Schmidt), sondern das utilitaristische Prinzip der bestmöglichen Versorgung für viele und dies unter dem Vorbehalt, dass damit die Erreichung der militärischen Ziele nicht gefährdet wird. Da dieses Prinzip die Rettung der einen mit der Opferung der anderen verknüpft, also Menschenleben gegen Menschenleben aufrechnet, führt das Konzept Kriegsmedizin selbst zu einer utilitaristischen »Einebnung des Tötungsverbotes« (Weyma Lübbe). Die Kriegsmedizin ist untergeordneter Teil der militärischen »Gesamtstrategie« – oder wie es die Autoren des erwähnten militärmedizinischen Handbuchs mit Frank Butler formulieren: »Gute medizinische Versorgung kann eine schlechte taktische Entscheidung sein.« Einen Wahlverwandten haben die Autoren dabei in Theodor Billroth, einem wilhelminischen Chirurgen, der schon im 19. Jahrhundert die Ansicht vertrat, die Zurückstellung der Kriegsstrategie hinter das Wohlergehen der Soldaten sei schlicht »eine wahnsinnige Verdrehung des Humanitätsprinzips«!

Das führt zu Indikationen, die nicht medizinisch begründet sind. Komplexe Operationen wie etwa bei Bauchverletzungen, die unter »normalen« Bedingungen zwei Stunden in Anspruch nahmen, werden zugunsten einfacherer Eingriffe nicht mehr vorgenommen, die derart Verletzten werden dem Sterben überlassen. An die Stelle relativ zeitaufwendiger Operationen tritt die grausige Routine des Schneidens, Sägens, Verbindens und Wegbringens, eine Routine, die die Betroffenen über sich ergehen lassen mussten, da auch die Rettung von Gliedmaßen nicht mehr in Erwägung gezogen wurde. Wie die Ärzte unterstanden auch die verwundeten Soldaten dem Kriegsrecht. Patientenrechte waren außer Kraft gesetzt, Einsprüche gegen eine verordnete Behandlung nicht vorgesehen.

Die Autoren von »Taktische Medizin« behaupten, seit 150 Jahren werde nicht mehr erwogen, die Kampffähigkeit der Truppe durch die bevorzugte Behandlung von Leichtverletzten zu erhalten, also durch die Umkehrung der Priorisierungsstufen. Jedoch ist beispielsweise während des Nordafrika-Feldzugs der US-Armee im Zweiten Weltkrieg der Fall eingetreten, dass der Kommandeur das knappe Penicillin solchen Soldaten verabreichen ließ, deren Kampfkraft schnell wiederhergestellt werden konnte, etwa bei Geschlechtskranken, während schwerer Verwundete auf der Priorisierungsliste nach hinten geschoben wurden. Die Triage erfolgt hier also nicht nach Beeinträchtigungsgraden, sondern reagiert auf Probleme der Nachschubbeschaffung.

Die Imperative der Kriegsökonomie haben nicht nur tödliche Folgen für die unmittelbar Betroffenen oder für die unmittelbaren zivilen Opfern von Kriegshandlungen. Zu den Opfern des Krieges zählen auch die Hungertoten aus den Steckrübenwintern, vor allem aber diejenigen (kaum wahrgenommenen) Opfer, die sterben, weil zivilen Bereichen der Medizin Ressourcen entzogen wurden. So wurden zwischen 1914 und 1918 unter anderem durch Kürzung der Verpflegungssätze, also durch Unterernährung, einer Untersuchung Heinz Faulstichs zufolge 70.000 Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches zu Tode gebracht.

Die militärische Umstrukturierung der Medizin in den beiden Weltkriegen hatte für die jeweilige zivile Nachkriegsmedizin erhebliche Folgen. Sowohl im Kaiserreich als auch im Nazistaat wurde der kriegsmedizinische Utilitarismus überhöht und geriet zu einer sozialdarwinistischen Anrufung des »Volkes« bzw. des »Volkskörpers«, der den Vorrang habe vor dem Individualwohl. Feierten militante Schriftsteller, adlige Snobs und durchgeknallte Ideologen den Krieg zunächst als »Stahlbad«, als »Katharsis« des Volkskörpers, änderte sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs diese Wahrnehmung – ohne dass jedoch das sozialdarwinistische Dispositiv verlassen worden wäre. Wenn der Krieg nunmehr zu einer negativen Auslese führt, weil die Besten fallen und die »Drückeberger« überleben, sei es Aufgabe der Medizin der Nachkriegszeit, korrigierend einzugreifen. Dass sich die Kinderheilkunde nach 1918 der »Wiederaufforstung« des deutschen Volkes verpflichtet fühlte, mag zu den eher kuriosen Folgen dieser ideologischen Aufrüstung zählen. Entscheidend ist, dass das, woran man sich an den Fronten, in der Etappe und in den Psychiatrien gewöhnt hat und was ohne große Worte und Aufhebens praktiziert wurde, die tödliche Selektion im Interesse der Kriegführung, nunmehr offen propagiert und als Kompensation der Kontraauslese des Krieges und Wiederherstellung der »Volksgesundheit« legitimiert wurde.

Die expressionistische Metaphorisierung der Toten als »Menschenhülsen« auf dem Schlachtfeld wurde zur affirmativen Denunziation im 1920 publizierten Plädoyer des Strafrechtlers Karl Binding und des Arztes und Psychiaters Alfred Hoche für »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Im »Interesse der Wohlfahrt des Ganzen« seien »unheilbar Blödsinnige« als »Ballastexistenzen« zu vernichten. Zwar scheiterten in der Weimarer Republik Initiativen, solche Vernichtungsphantasien in Gesetzesform zu gießen, aber es ist bekannt, was folgte. Binding und Hoche verteidigten ihren Versuch der Umsteuerung der medizinischen Prinzipien durch Diffamierung ihrer Kritiker, denen sie einen Mangel an heroischer Gesinnung vorwarfen. Sich selbst sahen sie als Vertreter eines »höheren sittlichen Gesichtspunkts«. Das griffen die Nazis auf, die ihre tödliche Medizin der »Aufartung« mit einer angeblich »neuen ärztlichen Ethik« zu rechtfertigen suchten. Solche Praktiken hörten nach 1945 nicht schlagartig auf. Bis in die 50er Jahre kam es in psychiatrischen Anstalten zum Hungersterben, weil die Insassen in besonderem Maße den Mangelsituationen der Nachkriegszeit ausgesetzt waren (Hunger, Kälte, Infektionen) und auch keine Kompensationsmöglichkeiten hatten. Der kritische Begriff der »Verwahrpsychiatrie« ist angesichts tatsächlicher Verwahrlosung der Patienten eine Untertreibung.

Anmerkungen

1 Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22.3.2020

2 Siehe ZDF-»Heute-Journal« vom 17.12.2020

3 Siehe https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19-dokumente/covid-19-ethik-empfehlung

4 Siehe https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/solidaritaet-und-verantwortung-in-der-corona-krise/

5 Das vom englischen Wort für Straßenbahn (Trolley) abgeleitete Problem besteht darin: Ein Zug oder eine Straßenbahn rast auf eine Gruppe von fünf Bahnarbeitern zu, die ihn nicht bemerken. Auf einem anderen Gleis arbeitet eine einzige Person. Ein unbeteiligter Dritter könnte eine Weiche umstellen, so dass die fünf Menschen gerettet würden, die andere Person aber getötet würde. Was tun?

6 Vgl. SWR, 17.11.2020

7 Vgl. t-online.de, 16.12.2020

8 Christian Neitzel und Karsten Ladehof (Hrsg.): Taktische Medizin. Notfallmedizin und Einsatzmedizin. 2. Auflage, Springer-Verlag, Berlin 2015

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Corona und Triage: Absichtlich unklar

»Medizinethische« Rechtfertigungen werden gezielt verklausuliert. Über die Wiederkehr der Triage in der Pandemie (Teil 2 und Schluss)

Von Hans Otto Rößer

Als im Jahr 2003 der damalige Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, forderte, 85jährigen die Einsetzung eines künstlichen Hüftgelenkes »auf Kosten der Solidargemeinschaft« zu verweigern, und das damit begründete, dass diese Leute doch früher gut an Krücken laufen konnten, rief dies starke öffentliche Kritik hervor. Als im März 2020 sechs ärztliche Fachverbände und der Deutsche Ethikrat ihre »Empfehlungen« zu »Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und in der Intensivmedizin in der Covid-19-Pandemie« herausgaben, die in einem viel stärkeren Ausmaß die bisherigen verfassungsrechtlich gestützten Prinzipien der medizinischen Versorgung nach Maßgabe eines vermeintlich drohenden Ausnahmezustandes zur Disposition stellten, blieben ähnliche Reaktionen aus bzw. konnten in der Regel nicht bis in die Leitmedien durchdringen, die bereitwillig die Lesart von »tragischen Entscheidungen« aufgriffen. Immerhin ging es nicht nur nach den Worten der Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert um die »tragische Bettenzuteilung«, sondern um die Entscheidung, »welche Patienten sterben müssen«.¹ Stellungnahmen von Politikern fehlten gänzlich.

Für den Ausfall der kritischen Öffentlichkeit kann es mehrere Gründe geben, unter anderem trafen die Leitlinien innerhalb der Verbände auf keine Opposition, die sich öffentliches Gehör hätte verschaffen können. Keine geringe Rolle dürfte aber auch spielen, dass Mißfelder für unantastbar gehaltene Standards medizinischer Bedarfsdeckung offen mit ökonomischen Erwägungen verband, während die heutigen Stellungnahmen ihre Empfehlungen nach Maßgabe einer »neuen Ethik«² zu rechtfertigen versuchen.

Sprachtricks der FachverbändeDas Papier der Fachverbände³ geht aus von dem wahrscheinlichen Eintreten einer Situation, in der »nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen, die ihrer bedürften«. Dies führe zu »Konflikten bei Entscheidungen über intensivmedizinische Behandlungen«. Bereits zu Beginn des Papiers lassen sich relevante Sprechstrategien feststellen: Andeutungen im Blick auf die Abkehr vom Prinzip der Bedarfsorientierung und Unvollständigkeit im Blick auf die Art der zu erwartenden Konflikte. Es wird verschwiegen, dass es um Entscheidungskonflikte darüber geht, wer gerettet wird und wer nicht, also immer um eine tödliche Entscheidung. In dem ganzen Papier ist allenfalls die Rede von Behandeltwerden oder Nichtbehandeltwerden. Dass letzteres mit Sterbenlassen gleichzusetzen ist, wird nicht gesagt, sondern muss von der jeweiligen Leserin oder dem Leser ergänzt werden. Die Wörter »Tod« und »Sterben« kommen im ganzen Papier nicht vor, obwohl es gerade darum geht.

In einem nächsten Schritt wird gesagt, dass die antizipierte Krise erforderlich mache, die Orientierung am Bedarf des einzelnen Patienten (Patientenzentrierung) zu ergänzen: »Ergänzend zu dieser immer geltenden individualethischen Betrachtung kommt mit der Priorisierung bei Mittelknappheit zusätzlich eine überindividuelle Perspektive hinzu.« Bei dieser Perspektive gehe es (im Sinn der nicht explizit genannten utilitaristischen Maximierungsregel) darum, »möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen«. Möglichst viele Patienten sind nicht alle Patienten. Von einer Ergänzung der Patientenzentrierung kann also ernsthaft sowenig die Rede sein wie von einem »immer geltenden« Blick auf den individuellen Behandlungsbedarf. In einer Annäherung an den gemeinten Sachverhalt ist konsequenterweise unter Ziffer 2.2 des Papiers von der »Einschränkung« des Prinzips der Individualmedizin die Rede. Weiter geht aber die Konzession an die Realität nicht. Es wird nicht ausdrücklich gesagt, dass das Prinzip der Patientenzentrierung nicht nur einschränkt, sondern durch ein anderes ersetzt wird. Die hier beobachtbare Schreibstrategie kombiniert also die scheibchenweise Annäherung an die Realität mit einem prinzipiellen Verschweigen ihrer tödlichen Konsequenzen.

An die Stelle der Priorisierung nach Behandlungsdringlichkeit tritt in den Empfehlungen das Triage-Kriterium der »klinischen Erfolgsaussicht«. Dabei wird Unstrittiges mit Strittigem vermengt und eine irreführende Aufmerksamkeitslenkung erzeugt. Denn zuerst nennen die Autoren die Entscheidungsgrundlagen im Rahmen der patientenzentrierten Alltagsmedizin: unaufhaltsam begonnener Sterbeprozess, irreversibler Krankheitsverlauf und »dauerhafter Aufenthalt auf der Intensivstation«, also weitgehend unstrittige Kriterien. Bei Ressourcenknappheit seien aber noch andere, zusätzliche Entscheidungsgrundlagen erforderlich. Zwar schließen sie ausdrücklich das Kriterium Lebensalter oder auch soziale Kriterien aus, wohl auch um das »Vertrauen der Bevölkerung« in den Medizinapparat nicht zu gefährden, erschweren aber gerade dieser Bevölkerung, ihre positiven Kriterien für Triage-Entscheidungen bei Knappheitszuständen in ihrer ganzen Tragweite zu erkennen. Dies ist vor allem einer Schreibstrategie geschuldet, die dem sogenannten Box-in-Box- bzw. dem Matrjoschka-Prinzip folgt. Dessen Funktionsweise hat der Anwalt Oliver Tolmein am Ausschlusskriterium »Gebrechlichkeit« demonstriert. Die Autoren verweisen hierzu nämlich nur pauschal auf die »Clinical Frailty Scale«, die im Blick auf »ältere Personen« unterschiedliche Gebrechlichkeitsstufen formuliert, ausdrücklich aber nicht für Personen mit stabilen dauerhaften, also etwa frühkindlich erworbenen Behinderungen. Da das Papier auf diese Differenzierungen nicht eingeht, folgert Tolmein, »dass neben alten Menschen auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen (…) (die als ›Gebrechlichkeit‹ oder ›Komorbidität‹ gefasst werden können) im Zweifelsfall in die Gruppe der nicht zu behandelnden Patienten eingestuft werden können«.⁴ Der Algorithmus der Empfehlungen räume einem 51jährigem Familienvater ohne Beeinträchtigung den Vorzug ein vor einem jüngeren Familienvater, der an Multipler Sklerose erkrankt ist und einen hohen Unterstützungsbedarf hat, oder vor einer jungen Frau mit Down-Syndrom und einem leichten Herzfehler.

Dass dieser Befund mehr als eine Befürchtung oder Unterstellung ist, zeigen weitere Formulierungen der Empfehlungen. Denn während die individualmedizinischen Indikationen gegen eine Intensivtherapie einigermaßen klar und unstrittig sind, sprechen sie im Blick auf den Behandlungsausschluss unter Knappheitsbedingungen relativierend von einer »in der Regel (…) schlechten Erfolgsaussicht«. Schlechte Therapiechancen sind aber nicht identisch mit fehlenden Heilungschancen. Mit anderen Worten: Man überlässt durchaus heilungsfähige Patienten zum Wohle anderer Patienten der Palliativmedizin und dem Sterben. Es geht also primär nicht um medizinische Kriterien für den Behandlungsausschluss. Mehrfach wird betont, dass es um Erfolgsaussichten »im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Intensivtherapie für andere Patienten« geht und eine Priorisierung »nur bei nicht ausreichenden Ressourcen« vorgenommen werden darf. An anderer Stelle heißt es dann auch folgerichtig, dass Entscheidungen »bei verändertem Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Mittel« »angepasst«, also geändert werden können. So sind es letztlich ökonomische Imperative, die die Entscheidung auf Leben und Tod bestimmen.

Die Unvereinbarkeit einer ökonomisch determinierten Verrechnung von Menschenleben mit menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Verfassungsnormen ist den Autoren durchaus bewusst: »Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden.« Sie stellen aber diesen Normen ein anderes Normensystem gegenüber. Dies ist der pragmatische Sinn der schon am Anfang des Papiers reklamierten Dualität von medizinischen und »ethischen« Kriterien. Während individualmedizinische Kriterien menschenrechtlich geboten sind, wird die utilitaristisch-relativierende überindividuelle Behandlungsperspektive zur gleichwertigen Konkurrenznorm erhoben: »Gleichzeitig müssen Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden.« Die Entscheidung darüber soll der Staat gefälligst »den Akteuren vor Ort« überlassen und damit deren »verantwortungsbewusstem« Handeln stillschweigend operativen Vorrang vor den Verfassungsnormen einräumen, was ja nicht nur eine dystopische Forderung ist, sondern auch Beschreibung des Ist-Zustandes.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die monierte »Undeutlichkeit« dieser Empfehlungen eine direkte Folge des strategischen Umgangs mit dem Abschreckungspotential des Themas ist. Die beschriebenen Rezeptionsbarrieren des Papiers sind hoch genug, Unbefugten das Verständnis der vorgetragenen Position erheblich zu erschweren, wenn nicht sogar zu verstellen, aber niedrig genug, den Befugten das Verständnis des Gemeinten zu ermöglichen.

Der Ethikrat wird deutlicherIm Unterschied zu den privaten Akteuren der medizinischen Fachgesellschaften ist der Deutsche Ethikrat ein von der Bundesregierung eingesetztes Beratungsgremium. Beiden Akteuren fehlt die Kompetenz, ihre Empfehlungen verbindlich zu machen und durchzusetzen, sie rechnen aber beide damit, dass es Ärzte gibt, die sie unterhalb des Schirms gesetzlicher Normen und mit öffentlicher Billigung umzusetzen gewillt sind.

Befremdlich erscheint zunächst, dass für die Autorinnen und Autoren der »Ad-hoc-Empfehlung«⁵ des Ethikrates vom 27. März der Shutdown nicht primär als Mittel des Schutzes der Bevölkerung erscheint, sondern als Mittel, um eine »Überforderung« des Gesundheitssystems und in letzter Konsequenz die Anwendung der Triage als eine hier auch explizit so genannte »Entscheidung über Leben und Tod« zu vermeiden. Dieses Ziel gegen das Ziel der Aufrechterhaltung ökonomischer Funktionen abzuwägen, bilde den »ethischen Kernkonflikt«. Dementsprechend geht es um Empfehlungen zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems bzw. um Maßnahmen beim Eintreten nicht auszuschließender »katastrophaler Knappheit« intensivmedizinischer Ressourcen, zum anderen um Maßnahmen, die eine »geordnete Rückkehr« zu regulären wirtschaftlichen Aktivitäten einleiten sollen. Darauf wird im folgenden nicht eingegangen.

Hervorzuheben ist, dass das Papier die Gefahr einer »Unterversorgung behandlungsbedürftiger Personen« nicht nur durch Regeln für rücksichtsvolles Verhalten minimieren will, sondern zum Abschluss seiner Ausführungen einen Maßnahmenkatalog zur »Stärkung und Stabilisierung der Kapazitäten des Gesundheitswesens« unterbreitet. Wie ernst er zu nehmen ist, wenn gleichzeitig Verhaltensregeln im Blick auf vermeintlich »tragische Entscheidungen« aufgestellt werden, steht auf einem anderen Blatt.

Durchaus expliziter als die medizinischen Fachgesellschaften nimmt der Ethikrat den »klinischen Ernstfall« in den Blick und spricht von »Konstellationen«, in denen es »keine rechtlich und ethisch umfassend befriedigende Lösung« gibt, konstatiert »nahezu unlösbare Dilemmata«. Was hier auf der Mikroebene der Wortgruppen als Rücknahme und Relativierung von Einsichten erscheint – wobei »nahezu unlösbare Dilemmata« jedoch eben nicht unlösbar sind und auch keine Dilemmata – und den Eindruck der Vagheit erzeugt, erscheint in der Struktur des hier zu beleuchtenden dritten Abschnitts der Empfehlung als Dualismus von »Recht« und »Ethik«, deren Ansprüche je für sich gültig sein sollen, wodurch sich der Text in unaufgelöste Widersprüche verwickelt.

Ja, es geht um Grundrechte der Betroffenen und um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Staat und Recht obliegen die Garantie der Menschenwürde, der Schutz aller vor Diskriminierung, die Unterbindung der Be- und Abwertung menschlichen Lebens, der Lebensschutz und die Konkretisierung dieser Normen im Krankheitsfall durch das Postulat der »ausschließlichen Konzentration auf das Wohl jedes einzelnen Patienten«. Somit würde ein utilitaristisches Abwägen von Menschenleben und das Ziel einer überindividuellen Maximierung von Leben und Lebensjahren gegen verfassungsrechtlich garantierte Normen verstoßen, die nicht – so die Wortwahl des Papiers – überschritten werden dürfen. An dieser Beschreibung stimmt alles, nur nicht die Behauptung, es handele sich um exklusive Positionen des (Rechts-)Staates und des Verfassungsrechts. Es sind nämlich auch, was durchgehend verschwiegen wird, Positionen einer Ethik, der es um die universelle Achtung aller, um ihre Menschenwürde geht, die es verbietet, Menschen wie Dinge zu behandeln und instrumentalistisch fremden Zwecken zu unterwerfen. Für diese Ethik steht der Name Immanuel Kant, der aber weder hier noch in den Empfehlungen der Fachgesellschaften erwähnt wird. Nur so kann der Eindruck erweckt werden, Ethik sei identisch mit utilitaristischer Ethik, nur so kann scheinbar berechtigt von einer Kollision zwischen (Menschen-)Recht und Ethik gesprochen werden.

Nachdem nun der Ethikrat das Hohelied der Menschenrechte und ihrer Unantastbarkeit angestimmt hat, spricht er dennoch von einer »notwendigen Erweiterung« der auf das individuelle Wohl der Patienten abstellenden Grundorientierung »hin zur« nur utilitaristisch zu verstehenden »Berücksichtigung bestimmter Notwendigkeiten auch der öffentlichen Gesundheitsfürsorge«, also zur Überschreitung der Personengrenze. Diese geforderte »Öffnung des ärztlichen Pflichtenkreises« führt nun in der Tat zu »Kollisionen« mit der Norm des gleichen Lebensschutzes und zum Widerspruch im Text. Wer sich nur die richtigen Anmerkungen zur staatlichen Pflicht, individuelle Rechte und zumindest rechtliche Gleichheit zu schützen, heraussucht, verkennt die Konstruktion des Textes, seine Arbeit an der Abwertung des Individualschutzes.

Privatisierung der VerantwortungDer Trick, mit dem der Ethikrat dem Selbstwiderspruch zu entkommen versucht, besteht darin, den Schutz menschlichen Lebens und das Verbot seiner Verrechnung zur Aufgabe des Staates zu erklären und aus dieser Selbstbindung des Staates die Lizenz für nichtstaatliche Akteure abzuleiten, anders zu handeln als der Staat. »Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist.« Das gelte auch in »Ausnahmezeiten«. Die Möglichkeiten des Staates, »bindende Vorgaben für die Allokation knapper Ressourcen zu machen«, seien somit »begrenzt«. Er kann »kaum« eine positive Orientierung »für die konkrete Auswahlentscheidung in der Klinik bieten«, also Vorschriften aufstellen, wer im Selektionsprozess behandelt werden und leben darf und wer nicht.

Das bedeute aber nicht, dass eine entsprechende Orientierung nicht »konzipierbar« wäre, mehr noch, solche Entscheidungen auf Leben und Tod könnten auch »akzeptiert werden«. Wenn der Staat an Menschenrechte und -würde gebunden ist, dann müssen eben andere Akteure diese »Bindung«, diese »Grenze« überschreiten, wenn es sein muss oder so zu sein scheint. So verwandeln die Autoren die zuvor konstatierte Kollision in ein Nebeneinander »unterschiedlicher Ebenen normativer Konkretisierung«, mehr noch: In diesem Nebeneinander, das tatsächlich ein Gegeneinander ist, übernehme »die Medizin« »die Primärverantwortung (…) für einzelne Entscheidungen und deren Umsetzung«, das ergebe sich zwangsläufig aus den »Grenzen des staatlich Normierbaren«. Behauptet wird also nicht nur, dass es zwei parallele Normensysteme gebe, demnach Recht und Gesetz nicht immer für alle gelten, sondern auch, dass Entscheidungen über Tod und Leben gar nicht rechtlich normierbar und daher der »Primärverantwortung« der Ärzte zu überantworten seien.

Im Blick auf die Triage sei es moralisch »weniger problematisch«, wenn eine Klinik einen Patienten abweise, weil sie keine freien intensivmedizinischen Kapazitäten habe. Das wird Triage bei Ex-ante-Konkurrenz genannt. Niemand könne zu Unmöglichem verpflichtet werden. Diese Argumentation könnte sich bei einigem Wohlwollen sogar auf Kants Unterscheidung moralischer Pflichten berufen. Während negative moralische Pflichten wie Nichtmorden, Nichtbetrügen, Nichtlügen usw. von den Subjekten keine besonderen Fähigkeiten verlangen, sondern nur einen guten Willen, also unter allen Umständen absolut gelten, können positive Pflichten wie jemandem Hilfe zu leisten nur befolgt werden, wenn entsprechende Fähigkeiten oder Möglichkeiten vorhanden sind. Nichtschwimmer können keinen Ertrinkenden retten, und beatmungsbedürftige Patienten können nicht beatmet werden, wenn keine Beatmungsgeräte zu Verfügung stehen. Nicht helfen zu können ist also keine Verletzung moralischer Pflichten. Das gilt aber nur, wenn man die individuellen Handlungsmöglichkeiten in Betracht sieht. Das gilt nicht für das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Behandlungsmöglichkeiten. Sie sind nicht das Resultat von Schicksal und Zufall, sondern von volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Allokationsentscheidungen, die rechtfertigungsbedürftig und -fähig sind. Darüber aber schweigt der Ethikrat.

Es gibt Leute, die glauben, Adornos Diktum, es gibt kein richtiges Leben im falschen, sei ein Erbauungsaphorismus für beschauliche Stunden. Weit gefehlt. Das Diktum bedeutet u. a., dass es keine moralisch richtigen Entscheidung geben kann, wenn die Entscheidungssituation und ihre Voraussetzungen nur moralisch falsche Alternativen erzwingen. Wenn Ärztinnen und Ärzte in der Situation der Triage sind und nach Orientierungshilfen rufen, muss man ihnen sagen, dass es in dieser Situation keine ethisch zu rechtfertigenden Entscheidungen geben kann, weil jede Entscheidung tödliche Folgen haben wird. Handeln wäre hier eine Unterwerfung unter die Imperative einer inhumanen Situation. Dabei von Tragik zu reden ist nicht mehr als eine ideologische Überhöhung, und die Journalistenreden vom »Mut zur Verantwortung« ist ein verlogener Appell an falsches Heldentum, wo es in Wirklichkeit um Anpassung geht.

Wenn die Triage tatsächlich immanente Konsequenz der Ausrichtung des Gesundheitssystems an Kostenersparnis und Gewinnmaximierung anstatt einer Orientierung am Bedarf ist, kann der Befund nicht überraschen, dass sie schon längst zu einem Alltagsphänomen geworden ist, das wie ein Krebsgeschwür das individualmedizinische Dispositiv bisheriger Normalität chronisch zerstört und den Ausnahmezustand alltäglich macht. Dass die Alltagstriage längst kein Randphänomen mehr ist, hat der Soziologe Volker H. Schmidt 1996, also drei Jahre nach der Budgetierung des Gesundheitsetats im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes u. a. am Zugang zur Dialyse gezeigt, die seit Beginn der 1960er Jahre als Mittel der künstlichen Blutreinigung zur Verfügung steht.

Ökonomischer AusschlussWelche Patienten bzw. Patientengruppen wurden bis etwa Mitte der 1970er Jahre von dieser teuren Behandlungsmöglichkeit ausgeschlossen und mit welcher Begründung? Während in den USA unverbrämt auch der »social worth« eines Patienten als Selektionskriterium herangezogen wurde (u. a. Bildungsstand, Lebenswandel, sexuelle Neigung oder Grad der Integration in die lokale Gemeinschaft), war nationenübergreifend das Alter der Patienten der am meisten bemühte Grund für den Ausschluss von der Dialyse. Man konnte damit erhebliche Einsparungseffekte erzielen, weil chronisches Nierenversagen gehäuft in älteren Patientengruppen auftaucht. In Großbritannien sagte man den Patienten, eine Behandlung für sie komme deshalb nicht in Frage, weil sie bei Patienten ihres Alters keine Erfolgsaussichten habe. Das war eine an den Haaren herbeigezogene pseudomedizinische Indikation, denn in Ländern mit genügend großer Dialysekapazität spielt dieses Ausschlusskriterium keine Rolle. In Wirklichkeit handelt es sich um einen ökonomisch und sozial begründeten Ausschluss. Die vermeintlich medizinische Indikation war nichts anderes als eine »barmherzige Lüge«, die behandlungsbedürftigen Patienten ihren Ausschluss erträglich machen sollte, diente also der Vermeidung von Legitimationsverlusten.

Schmidt spart nicht mit solchen kritischen Einblicken in den Betrieb, plädiert aber gleichwohl dafür, »vom Ideal einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung für alle Abschied zu nehmen und sich darauf einzustellen, dass einer wachsenden Zahl von Kranken zum Teil lebenswichtige Behandlungen vorenthalten bleiben«.⁶ Die aktuellen »ethisch validen« Vorschläge für die Anwendung von Triage wären dann, unabhängig davon, ob bzw. in welchem Umfang sie in der gegenwärtigen Pandemie zur Anwendung kommen, ein Testlauf, um zu ermitteln, welche neuen Grade des Ausnahmezustands den Unteren zugemutet werden können, ohne soziale Unruhen auszulösen. Man braucht nicht lange zu raten, wer diejenigen sein werden, die aus der Solidarität, die angeblich alle eint, herauszufallen bestimmt sind. Es werden die Armen und »Unproduktiven« sein, die Kassenpatienten, die Ungebildeten, die Menschen ohne Angehörige, von denen man erwartet, dass ihr Ausschluss von lebensrettenden Maßnahmen hingenommen wird. Es werden die sein, in deren Leben der Ausnahmezustand ohnehin die Regel ist. Eine Linke, die den Namen verdient, müsste alles daran setzen, die Widerstandskraft der potentiell Betroffenen zu stärken.

Anmerkungen

1 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 31.3.2020

2 So in kritischer Distanz der Medizinethiker Stephan Sahm in der FAZ vom 11.11.2020

3 Siehe www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19-dokumente/covid-19-ethik-empfehlung

4 Vgl. Oliver Tolmein: Triage oder inklusive Intensivmedizin?, 13.4.2020, veröffentlicht auf www.tolmein.de

5 Siehe www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/solidaritaet-und-verantwortung-in-der-corona-krise

6 Volker H. Schmidt: Veralltäglichung der Triage. In: Zeitschrift für Soziologie, Jahrgang 25, Heft 6, S. 419–437, hier: S. 434