Abendland, André Heller 1975

Abendland

Späte Zeit, Dämmerung, Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt. 
Atemholen, einsam sein. 
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich. 
Abendland, Abendland. 

Ich achte und verachte dich, 
Abendland 

Abendland, nicht meine Müdigkeit, sondern die Sehnsucht nach Träumen läßt mich Schlaf suchen, die bestürzende Möglichkeit der Verwandlungen meiner Figur in andere Figuren und Schauplätze:

In den von der Vogelweide, Cervantess, Appollinaire und James Joyce; Kinderkreuzzüge, Scheiterhaufen, Guillotinen, Kolonien der Ehrlosigkeit, in Hurenböcke auf Heiligem Stuhl, Expeditionen an den Saum des Bewußtseins, Bankrott der guten Vorsätze, Kongresse der zynischen Lachmeister Marc Aurels "Astronomie der Besinnung", die Sturmtaufen Vasco da Gamas, Leonardos Spiegelschrift, Gaudis Anarchie der Gebäude, in Pablo Ruiz Picasso, der die Wünsche beim Schwanz packte; den Aufstand im Warschauer Ghetto, die großen Progrome Armeniens und Spaniens, Parsival, Hamlet, Woyzeck, Raskolnikow, die Blumen 
des Bösen, de Sade, Hanswurst und den Mann ohne Eigenschaften,

Abendland, Abendland, 
wir sind aus dir geboren, 
wir fahren auf deinem Narrenschiff dem Abschied entgegen.

Die Frau, bei der ich Kind war, lehrte mich beten.
Worte, die älter waren als die Haut an ihrem Hals.
Worte der Demut und Anmaßung.

Jetzt, mit meiner Angst, die schon von jeher so zum Lachen war, will ich diese Worte sprechen, wie damals vor vielen, vielen Jahren, als ich das erste Mal begriff, daß wir nicht an der Fähigkeit zu sterben, sondern an der Unfähigkeit zu leben zugrundegehen:

Herr gib, daß ich Liebe gebe, wo Haß ist,
daß ich verzeihe, wo Schuld ist,
vereine, wo Zwietracht herrscht,
nicht um getröstet zu werden, sondern um zu trösten,
nicht um verstanden zu werden, sondern um zu verstehen,
nicht um geliebt zu werden, sondern um zu lieben.

Nur dies ist wichtig.
Denn, da wir geben, empfangen wir,
da wir uns selbst vergessen, finden wir,
da wir verzeihen, erhalten wir Vergebung,
da wir sterben, ehen wir in das neue Leben.

Späte Zeit, Dämmerung, Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt.
Atemholen, einsam sein.
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich.
Abendland, Abendland,
ich achte und verachte dich,
Abendland.

Chor: Abendland,
we've got no dream, that bears your name.