Die Revolte des „Ultra-Volks“ [2. Update 8.12.2018: Perspektiven für uns]

Die Proteste der Gilets Jaunes sind nun deutlicher von Gewalt gezeichnet. Da die Regierung Macron erst jetzt damit anfängt, sie ernst zu nehmen, wird der politische Manövrierraum noch enger

Macron hat ein Problem, von dem nicht wirklich klar ist, wie groß es sich noch auswachsen kann. Beim "dritten Akt" der Proteste der Gilets Jaunes (Gelbe Warnwesten) nahmen zwar weniger teil als zum Auftakt - am Samstag, den 17. November, zählte man knapp 290.000, für den eben vergangenen Samstag gab das Innenministerium landesweit 136.000 Teilnehmer bekannt -, aber diese Zahlen sind nebensächlich geworden.

Innerhalb von vierzehn Tagen hat sich viel verändert. Wenn, wie am Wochenende geschehen, die Polizeigewerkschaft die "Verhängung des Ausnahmezustands" fordert - was Innenminister Castaner auch nicht ausschließen wollte - und aus der Opposition (Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon) nach der Auflösung des Parlaments und damit Neuwahlen gerufen wird, wird sichtbar, dass sich das politische Gewicht und die Dimension der Warnwesten-Proteste verändert haben.

Sie sind kein Phänomen mehr, das nicht ernst genommen wird oder, indem man es in alte Schubladen (siehe Poujadismus) stopft, minimiert werden kann. Als Adresse der Proteste wird nun öfter die Verachtung herausgestellt, die die Regierung und die angeschlossenen Machtzentren der einfachen, schlecht verdienenden Bevölkerung angedeihen lässt.


Das "andere Frankreich"

Jetzt reden alle mit, auch die Intellektuellen. Geoffroy de Lagasnerie zum Beispiel, der am Sonntag auf Twitter dazu aufrief, die Petition zum Rücktritt Macrons zu unterzeichnen oder Bernard-Henri Lévy, der sich über den Vandalismus empört und vergangene Woche seine Warnung erneuerte, dass die Republik in Gefahr sei, sollte sie sich nicht auf das Solidarische besinnen. Er spricht davon, dass sich nun ein "anderes Frankreich" zeigt.

Was nun das "andere Frankreich", das seine Wohnungen verlässt, um auf die Straße zu gehen, genau ist, dafür gibt es viele Etiketten. Zu Anfang wurde von Macron versucht, die Protest der "Gelben Warnjacken" als Erscheinung darzustellen, hinter welcher das rechtsnationale Lager Fäden zieht. Das ist nun nicht mehr in dieser Form möglich. Das jüngste Etikett für den Protest stammt vom Kriminologen - und ehemaligen Sicherheitsberater Sarkozys - Alain Bauer. Er schreibt vom "Ultrapeuple", das jetzt im Gewand der gelben Warnwesten zurück sei.


Der blinde Fleck der Wahrnehmung der Regierung

"Ultrapeuple" hieße wortwörtlich übersetzt "Ultravolk". Bauer will damit den blinden Fleck der Wahrnehmung der Regierung hervorheben. Es handle sich weder um die "Ultrarechte" noch um die "Ultralinke", sondern eben um ein "Ultravolk", dessen Situation und Befindlichkeiten die Regierung und die wirtschaftlichen Eliten hinter ihrem Schleier ignoriert haben.

Alain Bauer hängt die Relevanz der Proteste sehr hoch. Zwar habe es in den letzten Jahren mit den Rotmützen ("Bonnets rouge") und den Protesten der Landwirte, der Fischer und der Transportunternehmer immer wieder Demonstrationen und Proteste gegeben, die sich beispielsweise an der Ökosteuer erzürnten, aber: "Diese Revolte scheint von einer anderen Natur. Sie geht tiefer, ist verwurzelter. Entschlossener", schreibt er.

Das Entscheidende für die Weiterentwicklung der Proteste liegt für Bauer wesentlich darin, wie beide Seiten mit der Gewalt umgehen - ob sie es schaffen, einander zuzuhören und auf Vermittlung zu setzen. Bauer hält eine weitere Eskalation für nicht unwahrscheinlich, um es einfach und sachte wiederzugeben.

Dazu gab es am Wochenende wieder einmal aufmerksamkeitsheischende Bilder aus dem Zentrum von Paris, die weltweit vom Druck auf Macron künden. Protestierer winkten vom Triumphbogen herab, in den Luxus- und Prachtstraßen um das Wahrzeichen herum wurde geplündert, zerstört und Feuer gelegt. Die "Marianne", eine Symbolfigur Frankreichs, ausgestellt in einem Museumsshop im Triumphbogen, wurde zusammen mit anderen Gegenständen und Einrichtungen schwer beschädigt.


Gegen das reiche Paris

Die Bilder zeugen von der Wut auf das "reiche Paris", das in seiner Arroganz das "andere Frankreich übersehen und untergebuttert hat" - so der große Vorwurf der Proteste. Insgesamt seien bei den Ausschreitungen in ganz Frankreich 682 Personen am Samstag von der Polizei kontrolliert worden - allein in Paris 412 - 630 Personen wurden in Polizeigewahrsam genommen, mindestens 263 Personen wurden verletzt, darunter 81 Sicherheitskräfte, berichtet Le Monde. Am Sonntag seien laut zuständigem Staatsanwalt noch 378 Personen in Polizeigewahrsam gewesen. Das sind beachtliche Zahlen.

Macron steht tatsächlich sehr unter Druck. "Bis zu drei Viertel der Franzosen sympathisieren laut Umfragen bisher mit den Zielen der Gelbwesten. Die Werte sind stabil", beobachtet der Spiegel. Dort ist auch eine anschauliche Zusammenfassung der Situation zu lesen: "'Die Leute verlangen ja nicht viel, jetzt muss ihnen Macron endlich antworten', sagte der junge Mann."


Die Forderungen

Wenn es denn so einfach wäre. Die Forderungen, wie sie an die Medien verteilt wurden, haben es nämlich schon in sich. Sie begnügen sich längst nicht mehr mit der Senkung der Treibstoffpreise, sondern verlangen eine neue Ausrichtung der Macronschen Politik, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Unternehmer zu begünstigen auf Kosten der Arbeitnehmer.

Die Forderungen der gilets jaunes gelten der anderen Seite: Anpassung der Löhne und sozialer Leistungen an die Inflation, Beschränkung der Miete, mehr Leistungen für Behinderte, Senkung der Stromkosten, Erhöhung der Vermögenssteuer; generell sollte das Prinzip, dass die Kleineren weniger bezahlen und die Größeren mehr, steuerlich strenger berücksichtigt werden, heißt es in dem Katalog der 42 Forderungen.

Dazu kommen nun auch Forderungen wie die Einführung eines Plebiszits, wofür sich Marine Le Pen stark macht. Sie macht im Übrigen im Fall der Gewaltakte auf den Champs-Elysées und am Triumphbogen das, was sie sonst gerne den Linken vorwirft: Sie relativiert sie. Zwar gibt sie sich schockiert, aber sie hebt die Verzweiflung hervor, die erst den Anlass dafür gegeben habe und zwar schon seit Jahren.


Macron in der Zwickmühle

Macron steckt in der Klemme. Bislang hat er sich konkret und handfest nur zu den Ausschreitungen geäußert - dass Gewalt keinen Platz habe in der Republik und die Gewalttäter verfolgt würden -, aber nur vage und unverbindlich zu den politischen Forderungen. Dazu hatte er noch nichts Konkretes in petto.

Auch am Sonntag sprach er sich erneut deutlich gegen die Gewalt aus, ohne zugleich auch andere, ebenso deutliche politische Signale zu setzen. Das ist dürftig für einen Präsidenten, der sonst so viel auf Rhetorik und "Rahmung" aufpasst.

Mit der beinahe ausschließlich auf die Gewaltraten gerichteten Äußerungen verengt er seinen politischen Manövrierraum, da er nun mehr darauf achten muss, dass seine Vorschläge auf keinen Fall als Konzession an die Gewalt verstanden werden.

Dazu kommt, dass sich seine anfängliche Einschätzung, wonach vor allem Systemgegner und Populisten hauptsächlich von rechter Seite hinter den Warnwesten-Protesten stecken, sich zwar nicht unbedingt als völlig falsch - es gibt eine Menge rechtsnationaler Mitmacher -, aber auf jeden Fall als überzogen und "daneben" und somit als politscher Fehlschluss herausstellt.

Es gab von Anfang an einen Konsens, der mit wenigen Ausnahmen überall anzutreffen ist: Dass dem Protest eine tatsächliche soziale Not und ein Missverhältnis zu den oberen Schichten unterliegt. Die Wahrnehmung für diese Grundlage der Proteste hat sich innerhalb der letzten zwei Wochen verändert.


Der veränderte Blick auf der Linken und den Gewerkschaften

Auch im linken Lager läuft sie nicht mehr unter der Formatierung: Das sind nur Unzufriedene, die von Rechten instrumentalisiert werden. Mehr Gleichheit - Egalité - fordert auch das kommunistische Medium "Humanité", das sich in einem Kommentar der sozialen Wut der Proteste anschließt.

Auch bei den Gewerkschaften, die sich zu Anfang in einem Block gegen die Teilnahme an den Proteste ausgesprochen hatten, gibt es nun stärkere Unterschiede in den Haltungen. Einige Gewerkschaften marschierten in der Provinz mit. Sollte es dazu kommen, dass die Proteste sich stärker auf die Regionen ausbreiten, dann steckt Frankreich in einer schweren Krise. Man darf gespannt sein, was sich Macron für diesen Test einfallen lässt. (Thomas Pany)

Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Die-Revolte-des-Ultra-Volks-4237537.html?wt_mc=rss.tp.beitrag.atom




Update

Frankreich: Versuch der Befriedung einer unbekannten Protestbewegung

Telepolis - 04.12.18, 18:30

Paris schlägt ein Moratorium vor, Steuererhöhungen sollen ausgesetzt werden. Dafür sollen die Gelben Westen "vernünftig" werden

Die französische Regierung reagierte heute mit einer alten und bewährten Taktik auf die Proteste der gelben Westen ("gilets jaunes"). Sie nutzt die Uneinigkeit des Gegenübers aus und spielt auf Zeit, indem sie erste Maßnahmen ankündigt, die ihr selbst nicht viel kosten, und Gesprächsbereitschaft signalisiert, die ihr politisch nicht mehr abverlangt als das, was sie ohnehin praktiziert: stures Beharren auf dem Kurs, dessen Herzensangelegenheit Unternehmer sind.

Bezeichnenderweise war es nicht das Staatsoberhaupt, Präsident Emmanuel Macron, sondern sein Premierminister Edouard Philippe, der die lang erwartete Reaktion auf die Proteste der gelben Westen verkündete. Die internationale Öffentlichkeit war am Montag voller Fotos vom Protest in Paris mit Feuern am Triumphbogen, eingeschlagenen Schaufenstern auf den Prachtstraßen, Plünderungen und triumphierendem Auftreten der Frechsten und Schlagzeilen, die Macron nicht gefallen haben (vgl. Die Revolte des "Ultra-Volks"). 

In den französischen Zeitungen gab es nichts anderes als die gilets jaunes, der Druck war zu groß, um halten zu können, was Macron und Philippe noch vor kurzem betonten: Man werde nicht nachgeben und auf jeden Fall die "CO2-Abgabe" aufrechterhalten. Neulich sagte Macron noch, dass man nicht am Montag für den Umweltschutz sein kann und am Dienstag gegen die Erhöhung der Preise für Treibstoff." 

Nun hat die Regierung in Paris am Montag beschlossen, dass man sehr wohl die geplante Erhöhung der Treibstoff-Preise auszusetzen kann, weil es Dinge gibt, die erstmal wichtiger sind: "Keine Steuer rechtfertige es, die Einheit der Nation zu gefährden, sagte Premierminister Édouard Philippe am Dienstag" (FAZ). 

Philippe verkündete ein Moratorium: Für die Dauer von sechs Monaten werde die geplante Erhöhung der "Taxe carbone" (was man mit Treibstoffsteuer übersetzen kann, aber auch mit Kohlenstoffsteuer oder CO2-Abgabe) ausgesetzt wie auch die angekündigte Angleichung der Dieselpreise sowie erhöhte Steuerabgaben für den Treibstoff den Baumaschinen brauchen oder landwirtschaftliche Fahrzeuge ("gazole entrepreneur non routier, GNR"). Zudem verzichte die Regierung darauf, die Maßstäbe für die technische Kontrolle von Fahrzeugen wie geplant heraufzusetzen. Auch damit werde man warten. 

Als dritte Maßnahme verkündete der Premierminister, dass die Tarife für Elektrizität und Gas bis zum Mai nächsten Jahres nicht angehoben werden sollen. Laut Le Monde hat dies Macrons Vorgänger Hollande 2014 schon einmal versucht. Der Conseil d'Etat (Staatsrat) hat diese Entscheidung aber kassiert und die Französinnen und Franzosen mussten zwei Jahre nachbezahlen. Das muss sich nicht wiederholen, zeigt aber an, dass hier ziemlich schnell an Maßnahmen gestrickt wurde. 

Die Hauptsache für die Regierung ist der Dialog, sagt der Premierminister. Mehrere Monate wolle man in aller Transparenz reden und dann zusammen zu einer Entscheidung zu den Steuern - und den öffentlichen Ausgaben - kommen. Womit schon mal ein Druckmittel angedeutet wird. Auf vier Milliarden Euro wurden die Mehreinnahmen durch die Erhöhung im nächsten Jahr geschätzt, durch das 6-Monats-Moratorium wären es nur mehr zwei Milliarden. Solche Ausfälle gehen zu Lasten der öffentlichen Ausgaben, wie der Premierminister verstehen lässt.

Weitere Erläuterungen Philippes wie auch eine Erklärung des Innenministers Canaster vor einem Senatsausschuss machen darüber hinaus deutlich, was als Gegenleistung zu den "enormen Maßnahmen" (so die Regierungseinschätzung) erwartet wird: Dass die Proteste der Gelben Westen "vernünftig" werden. Dass sie keine Unruhe mehr stiften, dass keine Gewalt mehr von ihnen ausgeht. 

Am liebsten hätten es Philippe und Canaster, dass der für Samstag angekündigte 4.Akt der Proteste der gelben Westen ausfallen oder völlig in der Harmlosigkeit versinken würde. Da dies wenig wahrscheinlich ist, appelliert man an Ruhe und zivile Verhaltensweisen und droht, wie der Premier, damit, dass man bei Ausschreitungen hart durchgreifen werde. "Der Innenminister wird alle Mittel anwenden, damit die Ordnung respektiert wird." 

Die Forderungen der Regierung sind nachvollziehbar oder verständlich, die Rhetorik, die dies begleitet, ist pathetisch und gekünstelt. Was zum Beispiel in liveblog von Le Monde vom Auftritt Edouard Philippes - immerhin ein Schriftsteller - zur Situation und Gefühlslage der Franzosen geäußert wird, kommt einem vor wie ein schlechter Aufguss von Überlegungen, die in einem Zirkel kreisen, der frei ist von direkten Erfahrungen. Das gleich gilt für Macron, der entweder ein Theatertexte aufsagt oder wie ein arroganter Besserwisser der Leuten, die den Kalifen bei seinem Meeting mit der Bevölkerung ansprechen, Belehrungen erteilt.

Es gibt eine Forderung, die den Unterschied zwischen der Regierung und der Protestbewegung verdeutlicht. Es ist die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögenssteuer in der früheren Form. Das würde Geld in die Staatskasten spülen und ein Zeichen dafür setzen, dass Macron die Verteilungsgerechtigkeit als politisches Ziel erkennt, könnte man die eine Position umschreiben. 

Auf der Regierungsseite gibt es, anders als bei den gelben Westen genaue Positionsbestimmungen und Ansagen, etwa, dass die Erleichterungen für die Reichen dazu führen sollen, dass sie Geld investieren und damit die Wirtschaft beleben, eine Variation der alten Trickle-Down-Idee, deren Annahmen von der Wirklichkeit nicht bestätigt werden.

Sämtliche Aspekte, die mit einer anderen grundsätzlichen Auffassung von Verteilungsgerechtigkeit zu tun haben, fehlen in der Reaktion der französischen Regierung. Sie sind ausgeblendet. Entsprechend zeigen sich die Antworten, die von Teilnehmern der gilets-jaunes-Protesten übermittelt werden, enttäuscht.

Das seien "nicht die Aktionen, die auf unsere Erwartungen an das Leben heute antworten", zitiert Le Monde aus einem Schreiben einer Gruppe, die zu den gelben Westen in der Region um Bordeaux gehört. "Das sind keine Verbesserungsvorschläge, sondern nur die Aufhebung von Maßnahmen, die alles noch verschlimmern." 

Die Regierung muss das erstmal nicht kümmern. Denn symptomatisch ist bislang, dass die gilet jaunes, wie sich zeigte, keine von der Protestbewegung allgemein akzeptierten oder unterstützten Wortführer hat, sondern nur "Einzelmeinungen". Wie unterschiedlich die Lager sind, um es milde auszudrücken, zeigte sich daran, dass Abordnungen aus der Protestbewegung, die mit der Regierung reden sollten, aus den Reihen der gilets jaunes bedroht wurden und das Gespräch absagen mussten.

Somit wird es dauern, bis sich, wenn überhaupt, eine Vertretung zeigt, die für die Bewegung sprechen kann und somit politische Macht hat, umfassendere Forderungen durchzusetzen.

Mélenchon und Le Pen, die mit Vergnügen zusehen, welche Schwierigkeiten die Regierung Macron mit dem Protest der Gelben Westen haben, vermuten beide, dass sie sich für das sechsmonatige Moratorium entschieden hat, um die Probleme bis nach der Europawahl zu verschieben. Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, aber Macron hat keine wirklich guten Karten, auf die er bis zur Europawahl aufpassen könnte. (Thomas Pany)




Update 8.12.2018

Frankreich wird von den größten Sozialprotesten seit Jahren überrollt und Deutschlands Linke ist zutiefst verunsichert, wie man nun darauf reagieren sollte. Parteichef Riexinger macht sich vor allem Sorgen um das „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung“ und wittert eine Querfront, die in Deutschland „so nicht denkbar wäre“. Die Linke sollte aufpassen, dass sie vor lauter Lamentieren und Distanzieren das Demonstrieren nicht vergisst. Denn ansonsten werden die kommenden Sozialproteste ohne sie stattfinden. Von Jens Berger.

Lesen Sie zum Hintergrund auch: „Macron und sein Problem mit den „gelben Westen“ – Frankreich am Scheideweg“.

Nun muss selbst der konservative Cicero eingestehen, dass „der gelbe Protest [in Frankreich] immer roter [wird]“, und mit dem verzögerten Anschluss der Gewerkschaften an die Gelbwesten gewinnen die Sozialproteste in der Tat eine immer klarere linke Note. Was oberflächlich als Protest der abgehängten ländlichen Bevölkerung gegen eine diskriminierende Erhöhung der Dieselsteuern begann, hat sich zu einer beeindruckenden Welle von Sozialprotesten ausgeweitet, die von Tag zu Tag weiter um sich greifen. Nun schließen sich auch die Schüler, der Gewerkschaftsbund CGT und nun sogar die Polizeigewerkschaft VIGI den Protesten an. Die Polizisten wollen ab Samstag in den unbefristeten Streik gehen.

Die Forderungen der Gelbwesten-Bewegung gehen uns alle an. Es ist an der Zeit, sich legal zu organisieren und Solidarität mit ihnen zu zeigen, zum Wohle aller. Wir sind besorgt, weil wir Teil des Volkes sind. Unser Anliegen ist es, am Ende des Monats über die Runden zu kommen und nicht die Teppiche im Elysée für 300.000 Euro zu wechseln.
Pressemeldung der französischen Polizistengewerkschaft VIGI

Teile der Gelbwesten übermittelten dem Parlament währenddessen ein inoffizielles Kommuniqué mit Forderungen, die man selbst mit sehr viel Phantasie und bösem Willen nicht als wie auch immer „rechts geartet“ missverstehen kann. Es geht um Obdachlosigkeit, bessere Löhne, höhere Renten, gerechtere Steuern, eine Ende der Austeritätspolitik und eine Stärkung der ländlichen Gebiete. Man fordert auch einen korrekte Behandlung von Asylbewerbern und die Umsetzung einer tatsächlichen Integrationspolitik – auch das klingt nicht gerade rechts. 

Unser Kollege Marco Wenzel hat sich die Mühe gemacht, das Kommuniqué aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen. Die Übersetzung können Sie sich hier als PDF herunterladen und ausdrucken.

Offenbar hat Bernd Riexinger die Wirkung seiner warnenden Grußadresse an die Gelbwesten unterschätzt. Kurz nachdem erste Zitate von ihm – in der Tat verkürzt – veröffentlicht wurden, versuchte er seinen Kopf mit einer Veröffentlichung des Wortlauts seines Zitats aus der Schlinge zu ziehen, was die Sache jedoch auch nicht besser macht. Dass der Chef der deutschen Linkspartei nach einer blutleeren kurzen Solidaritätsadresse gleich auf das „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung“ abhebt und es für wichtig hält, darauf hinzuweisen, dass „in Deutschland eine solche Verbrüderung (sic!) linker und rechter Gesinnung nicht denkbar [wäre]“, ist und bleibt ein Armutszeugnis – egal ob verkürzt oder vollständig zitiert. Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Für Riexinger ist jedes Problem mit dem Kürzel AfD verbunden.

Von welcher „Verbrüderung“ spricht Riexinger eigentlich? Ein von der Liberation veröffentlichtes Video zeigt, wie diese „Verbrüderung“ auf der Straße aussieht – bekannte „Ultrarechte“, die sich dem Protest anschließen wollen, werden von linken Gelbwesten vom Hof gejagt. Aber selbst solche Szenen sind – gemessen am Umfang der Proteste – mit den Worten des französischen Philosophen Guillaume Paoli nur „Randerscheinungen in einem konfusen Meinungsmahlstrom“. Wie sollte es denn auch anders sein? Sozialproteste sind – zumal wenn sie Massenproteste sind – nun mal keine Prozession der Zufriedenen, sondern ein Aufbegehren der Unzufriedenen und Wütenden. Dass sich darunter nicht nur auf Linie gebrachte Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, sondern auch Anhänger rechter Parteien befinden, ist unumgänglich. Hätte man vor dem Sturm auf die Bastille erst einmal sämtliche Wirrköpfe aussortiert, würden die Bourbonen wahrscheinlich heute Frankreich regieren. 

Dabei zeigen doch gerade die „Gelbwesten“, wie man aus einer diffusen heterogenen Graswurzelbewegung der Unzufriedenen eine breit aufgestellte Sozialprotestbewegung machen kann. Zu Beginn der Gelbwesten-Proteste gab es auch in Frankreich derartige Debatten. Der populäre Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon sympathisierte mit den Gelbwesten, aber in der politischen Linken gab es auch kritische Stimmen. Nun muss man wissen, dass Mélenchon ein Freund von Oskar Lafontaine ist und seine Partei, die LFI , die bei den letzten Parlamentswahlen mit 11% die stärkste Partei des „linken Lagers“ wurde, eher auf Linie mit dem Wagenknecht-Flügel der deutschen Linken ist. Deren Schwesterpartei ist nämlich nicht die LFI, sondern die unbedeutende PCF, die zusammen mit dem Gewerkschaftsbund CGT zu Beginn der Gelbwesten-Bewegung dort ebenfalls „rechte Umtriebe“ ausgemacht haben will und sich eilends distanzierte. Es ist jedoch zu vermuten, dass es der CGT vor allem nicht passte, dass es sich bei den Gelbwesten um Graswurzelbewegung handelt und die Gewerkschaftsfunktionäre dort nichts zu sagen hatten. Aktivisten von LFI ließen sich davon aber nicht beeindrucken und drückten der Bewegung stattdessen ihren Stempel auf. Und da die größten Sozialproteste seit Jahren ja nicht ohne PCF und CGT stattfinden dürfen, haben die beiden Bedenkenträger sich nun auch zähneknirschend dem Protest angeschlossen und sind auf den fahrenden Zug gesprungen. Man muss nicht lange rätseln, auf welcher Seite Bernd Riexinger steht.

Dabei ist die Sache doch eigentlich gar nicht so kompliziert. Entscheidend ist nicht, wer dort demonstriert, sondern für oder gegen was demonstriert wird. Es macht doch einen Unterscheid, ob die Menschen gegen Ausländer oder gegen schlechte Löhne, miese Renten und hohe Mieten demonstrieren. Und wenn nun auch AfD-Anhänger gegen schlechte Löhne, miese Renten und hohe Mieten demonstrieren, dann diskreditiert dies doch nicht den Protest. Wenn Deutschlands Linke beim Protestieren lieber unter sich sein will, wird es schwer mit der Schlagkraft. Denn lammfromme Trillermärsche mit einer gemeinsamen, zuvor bis auf letzte Komma abgeschliffenen gemeinschaftlichen Erklärung, die dann auch garantiert niemandem wehtut, mögen ja nett sein … an den bestehenden Verhältnissen ändern sie jedoch in der Regel nichts. Die Linke muss schon wissen, ob sie lieber was erreichen oder in Schönheit sterben will. 

Wenn man dies einmal in Ruhe sacken lässt, kommt meist das Argument, dass bei den Protesten in Frankreich ja Gewalt ausgeübt wurde und man sich aus diesem Grund doch von Demonstrationen distanzieren müsse, die von Randalierern, Plünderern und Hooligans für ihr schändliches Werk genutzt werden. So einfach ist es aber nicht. Das bringt niemand anders so schön auf den Punkt, wie die in Frankreich lebende Schauspielerin Pamela Anderson:

»Ich verachte Gewalt … aber was ist die Gewalt all dieser Menschen, was sind die verbrannten Luxusautos, verglichen mit der strukturellen Gewalt der französischen und globalen Eliten? Anstatt sich von den Bildern der Brände hypnotisieren zu lassen, müssen wir fragen, wo das alles herkommt.
Und die Antwort lautet: Es kommt von der wachsenden Kluft zwischen der städtischen Elite und den ländlichen Armen, zwischen der von Macron repräsentierten Politik und den 99 Prozent, welche unter der Ungleichheit leiden – nicht nur in Frankreich, sondern überall auf der Welt.«

Diese Worte hätte man eher dem Vorsitzenden einer Linkspartei als einer Schauspielerin, die vor allem aufgrund ihrer körperlichen Attribute bekannt wurde, zugetraut. Die Schauspielerin erklärt das Phänomen der strukturellen Gewalt und der Linkenchef lamentiert über die Gefahr einer imaginären Querfront. Verrückte Welt.

Dies führt zu einem Gedankenspiel: Was wäre, wenn in Deutschland aus den Sozialen Netzwerken heraus Sozialproteste entstünden, die sich wie ein Lauffeuer ausbreiten? Da unter den Unzufriedenen ganz sicher auch hierzulande zahlreiche Menschen wären, die für linke Parteifunktionäre als „Ultrarechte“ gelten, würde sich der Riexinger- und Kipping-Flügel der Linkspartei wohl pikiert distanzieren. Die Gewerkschaften würden ohnehin keine Proteste unterstützen, bei denen sie nicht das Programm bestimmen können und SPD und Grüne haben mit Sozialprotesten ohnehin nicht viel am Hut; wer will schon gegen sich selbst auf die Straße gehen? Dreimal dürfen Sie nun raten, wer sich dann zum Sprachrohr der Unzufriedenen macht und die Proteste für seine Zwecke nutzt. 

Schon jetzt kokettiert die AfD mit den Gelbwesten und würde am liebsten in Deutschland eine gelbbewestete Pegida 2.0 starten. Wenn die Linke nicht zusammen „mit dem Pöbel“ auf die Straße gehen will, werden derartige Proteste ohne sie stattfinden. Damit beraubt sich die Linke aber auch vollkommen ohne Not ihres Einflusses auf diese Proteste. Aber dann beschwere sich niemand, dass diese Proteste nach rechts abdriften. Die Rechten sind nur so stark, wie die Linke es zulässt. Die Vorsitzenden der Linkspartei sind da sehr großzügig. Was wäre es für ein Zeichen gewesen, wenn die komplette Linksfraktion bei der nächsten Sitzung des Bundestags mit gelben Westen erscheinen würde? Man kann den Protest nur dann zum Ziel bringen und ihn vor einem Kidnapping von rechts bewahren, wenn man sich an seine Spitze stellt. So gesehen wäre es Zeit, aufzustehen und voranzugehen. 

Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock 

Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/?p=47676

)via Mr. Reader)