Demokratie: Nennt sie Faschisten

Bisher galt immer, dass die Bundesrepublik eine wehrhafte Demokratie sei. Wichtig ist deshalb die Ächtung des Rechtsextremismus und das Ende der Beschwichtigungsrhetorik.

Gewaltszenen wie in Chemnitz; rechte Politiker, die Regierung, Parteien und Medien als "System" verächtlich machen; ein sächsischer Ministerpräsident, der nicht den Anschein macht, Herr der Lage zu sein – so etwas löst das Gefühl aus, man habe das alles schon einmal erlebt, selbst wenn man nicht dabei war: Eine Demokratie staunt darüber, wie sie verfällt.

Wiederholt sich Weimar? Wenn das stimmte, dann wäre die Bundesrepublik in einer historischen Gesetzmäßigkeit gefangen und die Demokratie wäre zum Untergang verurteilt. Der Antiparlamentarismus zeigt sich wieder, die Fremdenfeindlichkeit und der Antisemitismus, auch die offene politische Gewalt samt der seltsamen Zurückhaltung, die Polizisten in manchen Regionen gegenüber Extremen üben. Das sind keine guten Zeichen.

Trotzdem bleiben die Unterschiede: In den Dreißigern traf eine hoch organisierte rechte Bewegung auf einen krisengeschwächten Staat. Am Ende hievten die ökonomischen Eliten Hitler an die Macht, weil sie glaubten, ihn benutzen zu können. Heute ist die Rechte als politische Kampforganisation schwächlich. Sie ist zwar kommunikativ gut vernetzt, aber das reicht vorderhand nur zur Mobilisierung der Straße aus. Der Staat ist keineswegs hinfällig. Die Wirtschaft prosperiert, sie ist liberal, an Weltoffenheit und Globalisierung ist ihr viel gelegen.

Die Gesellschaft der Weimarer Zeit war von schweren ökonomische Krisen zerrüttet und die Gespenster historischer Erinnerungen jagten sie: Kriegsniederlage und Versailler Vertrag. Will man heutige Entsprechungen für solche Traumata finden, muss man auf die Krisen der vergangenen Jahre, Finanz-, Euro-, Flüchtlings- oder die Wohnungskrise, verweisen. Auch sie blieben nicht ohne Wirkung.

Eine Demokratie muss dem Willen der Bürger Raum lassen

Der europäische Faschismus der Zwanziger- und Dreißigerjahre versprach Zukunft, er wollte das "System" der parlamentarischen Demokratien ablösen, das aus dem 19. Jahrhundert stammte und ermüdet aussah. Hier liegt wahrscheinlich der wichtigste Unterschied zu heute: Von einem Sprung nach vorn kann kein Rechter mehr reden, immer nur von Rückkehr, nach wohin auch immer. Alle rechten Texte sind mit geschichtlicher Erfahrung hinterlegt, was immer sie heute behaupten und fordern. Die ausbuchstabierte historische Reprise – "Nationaler Sozialismus jetzt!" riefen die Demonstranten in Chemnitz und Köthen – ist noch immer ein Tabu. Vermutlich ist es nicht ganz illusorisch, dass der Rechtsextremismus in einer großen Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor auf Ablehnung und Abscheu trifft.

Trotzdem: "Faschismus" wäre ein Wort, das sich für die Auseinandersetzung mit der heutigen Rechten eignet. Wer das "System" im Namen des "Volkes" demolieren will, den darf, den soll man einen Faschisten nennen. Die Wortwahl ist scharf, aber sie ebnet die Unterschiede zu damals nicht ein. Eher zeigt sie an, wo die Verständigung aufhört. Man darf den Begriff nur nicht auf den Nationalsozialismus verengen. "Faschismus", das wäre die Bezeichnung für jene autoritären Kräfte, die von der Selbstschwächung der Demokratien in West- und Ostmitteleuropa profitieren, für Kräfte, die innere Konflikte in diese Demokratien hineintragen oder dramatisieren oder allererst erfinden.

Die strategische Heftigkeit, mit der das geschieht, weckt den Anschein, herkömmliche Politik sei diesen Konflikten nicht mehr gewachsen. Oder sie erzwingt eine Politik, die sich auf die Bearbeitung genau dieser Konflikte verpflichtet, sich also nach rechts wendet und der rechten Agenda folgt. 

Bisher galt noch immer, dass die Bundesrepublik eine wehrhafte Demokratie sei. Sie hat die Mittel, sich ihren Feinden entgegenzustellen, sie verfügt über Sicherungen, die ihrer Selbstabschaffung vorbeugen. Ihre innere Sicherheit kann sie aber nur mit freiheitlichen Mitteln erhalten. Also muss die Demokratie dem Willen ihrer Bürger Raum lassen, muss auch krause, unliebsame oder gefährliche Meinungen ertragen. Der Idee nach soll der demokratische Staat neutral sein, das heißt, er soll sich in die weltanschaulichen, konfessionellen oder sonst wie geistigen Belange seiner Bürger nicht einmischen. Solange einer die Gesetze beachtet, darf jeder nach seiner Fasson selig werden. Diese Liberalität ist einer der Gründe, warum eine Demokratie für ihre Bürger so attraktiv ist.

Moral gibt's genug

Ein schwer zu lösendes Problem bekommt die liberale Demokratie dann, wenn ihre Liberalität von Kräften ausgenutzt wird, die das Liberale selbst abschaffen wollen. In vielen der nach 1990 am Reißbrett entworfenen Demokratien Ostmitteleuropas ist dieser Prozess weit fortgeschritten. Die langsame Aushöhlung der Demokratie in Polen, Ungarn, aber auch Tschechien kann man auch aus den Paradoxien des liberalen Neutralitätsgebots erklären: Zu lange hat der Staat sich gegenüber allen politischen Kräften neutral verhalten, auch gegenüber den faschistischen, die heute an der Macht sind und die Liberalität per Federstrich kassieren. Mag die ursprüngliche Absicht lauter gewesen sein, nach der Befreiung vom Kommunismus überhaupt ein plurales politisches Leben zu ermuntern. Das Resultat ist erschreckend.

Was auf die Frage führt, wie die Neutralität des Staates in Deutschland freiheitlich bewahrt werden kann. Anders gefragt: Woher kommt, wo sitzt der Geist des Demokratischen, und wer ist für seine Hege verantwortlich? Leider ist er so genau nicht lokalisiert, weil viele beteiligt sind, die Unterschiedliches wollen.

Wenn der Bundespräsident und der Außenminister an die Bürger appellieren, sie möchten doch anständig sein und die Rechte bekämpfen, führen sie vor, wo sie die Ressource demokratischer Überzeugung vor allem vermuten: in der Zivilgesellschaft. Das ist nicht ganz falsch, aber solche Aufrufe zur allgemeinen Moral kümmern kaum noch jemanden. Der Appell ans Gewissen, der Ordnungsruf, die Warn- und Mahnrede, der empörte Aufschrei – all das gehört inzwischen zur öffentlichen Kommunikationsroutine. Denn mit solchen Aufrufen wird natürlich auch die Verantwortung vom Staat in die Gesellschaft geschoben. Auch dagegen sperren sich die Leute. Wieso soll man als einzelner die Demokratie retten, wenn es schon gewählten Politikern nicht gelingt und zumindest die sächsischen sich nicht vor Eifer überschlagen? Moral ist hinreichend im Umlauf, doch sie beeindruckt die Meinungsbildung nicht mehr. Irgendetwas hat sich auch in der deutschen Gesellschaft verändert.

Diese Veränderungen in den politischen Haltungen vieler Menschen blieben lange Zeit unsichtbar, diskret und individuell, ganz anders übrigens als zu Weimarer Zeiten. Sie manifestierten sich nicht sofort an einer politischen Oberfläche. Es gab einen stillen Rechtsruck, rechte Haltungen sind in Jahren unter der Hand gesellschaftsfähig geworden und haben sich schleichend verbreitet. Aber sie richteten sich – wieder im Unterschied zu Weimar – nicht an einer formulierten Ideologie aus, sie hatten kein eigentliches Gravitationszentrum.

Bis heute sind sie die Resultate unendlich vieler Angebote und Gelegenheiten, die Hinterlassenschaften von emotionalen Augenblicken und lang gehegtem Protest, von echten Ängsten und schäbigen Versuchen, sich die Welt einfacher zu machen, als sie ist. Viele der neuen Wahrheiten kursierten im Netz, sie tun es bis heute, Verschwörungstheorien, Völkerpsychologie, Größenwahn, Hass. Es sind keine großen Erzählungen, sondern Lichtstreifen, die aufglühen, wenn das eigene Leben sich verdunkelt, weil man sich abgehängt wähnt oder verdrängt von anderen oder belogen von den klassischen Medien oder weswegen auch immer.

Ganz entscheidend dabei ist, dass eine Positionierung rechts von den Verhältnissen sehr viel leichter geworden ist. Wenn die erste, intuitive Haltung zur Mitwelt aus Likes und Nicht-Likes besteht, verpflichtet das sozial gesehen zu sehr wenig. Wer andere sein Ressentiment spüren lassen will, muss heute keiner SA mehr beitreten. Recht haben in den sozialen Medien genügt. Das Rechte wirkte auch deshalb lange so "zivil", weil es sich in ein Kaleidoskop kommunikativer Möglichkeiten aufgesplittert hat. Man kann seine Wut auf Einzelfälle konzentrieren und ansonsten ein guter Bürger bleiben. Vor seinem Bildschirm hat niemand Sanktionen zu fürchten, wenn er sich mal ganz weit nach außen wagt und über andere herzieht.

Demokratie lässt sich nicht erzwingen

Rechtes Denken braucht heute keinen Verbund, es ist im Ganzen gesehen zentrumslos und wenig strukturiert. Niemand muss sich dauerhaft dafür entscheiden. Es gelangt viral in die Gesellschaft, indem es die Gestalt eines politischen Kontinuums annimmt. Rechte Sympathien stuften sich in ihrer Radikalität fein ab, sie überlappten und ergänzten einander. Die meisten der Menschen, die den Rechtsruck mitgestaltet haben, würden sich wahrscheinlich noch immer nicht als rechts bezeichnen. Entsprechend sahen die meisten Liberalen Sympathien für rechtes Gedankengut als eine kurzfristige Erkrankung der Zivilgesellschaft an: Irgendwann werde die Grippe schon wieder verschwinden, wenn Strukturprogramme und Wirtschaftswachstum dafür gesorgt haben, dass sich auch im Osten die Lebensverhältnisse bessern.

Das geschah zwar, aber daraus wuchs nicht notwendigerweise Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen, jedenfalls bei vielen nicht. Zwischen Strukturpolitik und Werthaltungen besteht kein kausaler Zusammenhang. Das Gefühl, auch für die ungeschriebenen Gesetze des demokratischen Prozesses mitverantwortlich zu sein, kann demokratische Politik bei den Bürgern nicht herbeizwingen.

Die selbstverständliche Verpflichtung der deutschen Gesellschaft auf ihre demokratischen Fundamente hat sich auch deshalb ein Stück weit gelöst, weil diese Gesellschaft mittlerweile ganz anders kommuniziert, als der ideelle Grundriss der Bundesrepublik es vorsah. Die politische Willensbildung findet nicht mehr in den traditionellen dafür angebotenen Medien statt, vor allem nicht länger in den politischen Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden. 

Wer darf leugnen? Und wer darf verharmlosen?

Bis heute reagieren die Parteien und der Staat unsicher darauf. Es hat sich ja nicht nur rechtes Gedankengut festgesetzt. Zugleich hat sich die gesamte politische Geografie verändert. Das Meinungsuniversum expandiert generell, und es sieht nicht danach aus, als könnten die klassischen Parteien dieser Expansion dauerhaft gerecht werden. Strukturell, das heißt gemäß ihren Kommunikationsgewohnheiten und Verständigungsmodalitäten, wäre die deutsche Gesellschaft für neue politische Bewegungen und Bündnisse reif. Für so etwas wie ein Experiment Macron. Nur zeigt sich bisher, mit Ausnahme der AfD, keine Formation, die sich dafür anbietet.

Nach Chemnitz ist deshalb womöglich erst einmal eine Phase der Abgrenzung wichtig: die Ächtung des Rechtsextremismus als mit der Demokratie nicht vereinbar, nicht als Camouflage und auch nicht mit nachträglicher Beschwichtigungsrhetorik. Kein stillschweigendes Integrationsangebot mehr: Faschisten sind kein Teil der demokratischen Gesellschaft.

Dazu müssten die Konservativen von ihrem Vorhaben ablassen, den rechten Rand eines Tages doch noch zurückzugewinnen. Wann soll dieser Tag sein? Und wenn die AfD in Zukunft eine konservative Partei sein will, soll sie sofort rechts für Klarheit sorgen. Tatsächlich tut sie das Gegenteil. Für staatliche Organe gibt es keine Entschuldigung, rechte Gewalt gezielt zu übersehen. Ungut ist auch, wenn sich Politiker – sogar der Präsident des Verfassungsschutzes – in Machtspiele mit den Medien begeben, wer die Lage deuten und bei Bedarf verharmlosen darf.

In dieser Phase darf man "Faschismus" sagen, denn das Wort bezeichnet die Grenze des demokratischen Spektrums unmissverständlich. Wenn man auf diese Grenze zeigt, setzt man sie auch nicht willkürlich, wie die Rechten behaupten. Sie ergibt sich schon aus dem Gedanken einer möglichen historischen Wiederholung, der Pflicht, keinen Schicksalsglauben zuzulassen und sich von Mythen geschichtlicher Zwangsläufigkeit nicht einschüchtern zu lassen. Auch diese Art Hygiene gehört zum ungeschriebenen Regelwerk heutiger Demokratie. Von "Faschismus" zu reden ist nicht die Sprache der Dreißiger, sondern eine Sprache, die sich erinnert.

Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2018-09/faschismus-deutschland-chemnitz-rechtsextremismus-demokratie-essay