Mangelnde Gesundheitsversorgung, Ausgrenzung und Stimmungsmache gegen Flüchtlinge: Bürger fordern Umdenken. Gespräch mit Sylvia Brennemann
Markus Bernhardt:
Sie wohnen und arbeiten im Duisburger Stadtteil Marxloh. Wie lebt es sich in einer »No-go-Area« für Polizeibeamte und die deutsche Mittelschicht?
Sylvia Brennemann:
Ich lebe hier sehr gut. Aber Sie spielen wahrscheinlich auf die wiederaufflammenden Medienkampagnen gegen Marxloh an. Aktuell wird unserem Stadtteil ja erneut angedichtet, ein Hort von Kriminellen und Asozialen zu sein. Eingestimmt in diese Phantastereien sind wie üblich Polizei und Politik. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es gibt kein Problem mit flächendeckender Kriminalität, sondern mit zunehmender Armut, mangelnden Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und fehlender Krankenversicherung.
Markus Bernhardt:
Vor einigen Wochen hieß es, in Duisburg lebten etwa 10.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Aufgrund der anhaltenden Medienberichterstattung hatte die etablierte Politik zugesagt, schnell für Abhilfe zu sorgen. Was ist seitdem passiert?
Sylvia Brennemann:
Nicht viel. Außer warmen Worten hat sich im Grundsatz nicht wirklich etwas geändert. Wir haben immer noch das Problem, den Ansturm auf unsere ehrenamtlich angebotene Gesundheitssprechstunde kaum meistern zu können. Vor allem Menschen, die hierher geflohen sind, müssen ordentlich versorgt und geimpft werden. Nach wie vor fehlt es jedoch an einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung für die Betroffenen.
Das wichtigste Problem ist aber, dass die Verantwortlichen in der Politik offensichtlich nicht bereit sind, grundgesetzlich verbriefte Rechte durchzusetzen. Vielmehr gehört die Stadtspitze zu denjenigen, die ein Klima der Ausgrenzung und Vorurteile – beispielsweise gegen Roma-Familien – selbst angefacht haben. Das Ergebnis der rassistischen Stimmungsmache der letzten Monate können wir unter anderem an den anhaltenden »Pegida«-Aufmärschen ablesen. Mittlerweile fällt es fast schwer auseinanderzuhalten, wer in Sachen Stimmungsmache der Einpeitscher und wer der Gefolgsmann ist.
Markus Bernhardt:
Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen sind mehrheitlich klamm. Was könnte die Stadt unter diesen Voraussetzungen überhaupt besser machen?
Sylvia Brennemann:
Erinnern wir uns: Duisburg war im vergangenen Herbst die erste Kommune, die Flüchtlinge in Zeltlagern unterbringen wollte. Erst nach bundesweiten Protesten von Menschenrechtlern und Anwohnern wurde von diesen unwürdigen Plänen abgelassen. Mittlerweile muss man feststellen, dass Duisburg offensichtlich Vorreiter für derlei Pläne war. Dies ist jedoch vollkommen absurd, da wir aktuell über 40.000 freie Wohnungen haben. Geht es nach dem Willen der politischen Entscheidungsträger, sollen einige Häuser sogar abgerissen werden. Dabei würde man nicht nur den Flüchtlingen durch eine dezentrale Unterbringung ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Man könnte damit auch Integration befördern, Vorurteile abbauen helfen und vor allem Aufmärsche von Neofaschisten und Rassisten faktisch unmöglich machen. All das scheint jedoch nicht erwünscht zu sein.
Markus Bernhardt:
Warum ist das so?
Sylvia Brennemann:
Im Kern dreht sich doch alles um die soziale Frage. Sowohl für Flüchtlinge, als auch für Menschen ohne Krankenversicherung oder mit geringem Einkommen. Die Probleme könnten zumindest in Teilen behoben werden, wenn der Wille vorhanden wäre. Die Stadt setzt jedoch bewusst weiter auf Abschreckung von Flüchtlingen, weitere Deklassierung von sozial Schwachen und Ausgrenzung.
Duisburg ist unter dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister Sören Link in ganz NRW zu der Skandalkommune schlechthin geworden. Hier gehen Profite vor Menschen, langjährige Mieter sollen für Mammutprojekte wie ein »Factory Outlet Center« vertrieben werden, Roma-Familien werden Ziel von Hetze aus dem Rathaus – und die extreme Rechte versucht aus all dem Kapital zu schlagen. Von dem Skandal um die Verschleppung des Loveparade-Verfahrens will ich erst gar nicht reden.
Doch die Betroffenen tun sich zusammen. Hier gibt es bereits seit geraumer Zeit Bündnisse, an denen sich Mieter, die verdrängt werden sollen, genauso beteiligen wie Migrantinnen und Migranten und deren Unterstützer. Wenn das zukünftig weiter ausgebaut wird, sind wir auf einem guten Weg, dem herrschenden Wahnsinn genügend Widerstand entgegensetzen zu können.