Rene.kernen, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0
Eigentlich war es eine Runde, die es gar nicht geben sollte. Womöglich machte gerade das sie effektiv: Kanzlerin Merkel, SPD-Chefin Esken und mehrere Kultusminister haben sich auf ein Maßnahmenpaket für die Schule verständigt.
ES WURDE SPÄT gestern Abend, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), SPD-Chefin Saskia Esken und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sich mit einer Abordnung der Kultusminister trafen – zu einem, wie es hieß, "informellen Austausch über die Herausforderungen des Schulsystems in der Coronapandemie". Und so informell der Austausch sein sollte, so konkret waren einige der Verabredungen, die dabei herauskamen. Auch wenn es, wie alle Beteiligten betonen, natürlich noch keine (!) Beschlüsse waren – und es auch gar nicht sein konnten bei einer Runde, die von den Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern so gar nicht vorgesehen ist. Lehrerverbände sprachen in einer ersten Reaktion sogar von einem "Meilenstein".
1. Für alle Lehrer bundesweit sollen möglichst kurzfristig Laptops angeschafft werden. Dafür wird es voraussichtlich eine neue Bund-Länder-Vereinbarung geben. Bei etwa einer Millionen Lehrer beläuft sich das voraussichtliche Volumen des Plans inklusive eines noch zu beziffernden Wartungsanteils auf geschätzte 500 Millionen Euro.
2. Bund und Länder haben bereits in Gesprächen mit den Telekommunikations-Konzernen vorgearbeitet. Die sind offenbar bereit, für rund zehn Euro im Monat für alle Schüler einen Internetanschluss zur Verfügung zu stellen. Wie genau die Berechtigung für den verbilligten Anschluss festgestellt wird – ob über die Kultusministerien oder Schulträger oder ganz anders – soll Teilnehmern zufolge schnell geklärt werden. Klar ist bereits: Für Kinder aus ärmeren Familien wird die Bundesregierung die monatlichen Kosten übernehmen, voraussichtlich im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets. Dieses müsste dafür erheblich erweitert werden, denn die Kostenübernahme müsste für etwa jeden vierten Schüler erfolgen. Kostenpunkt dauerhaft: mehrere hundert Millionen Euro pro Jahr.
3. Bund und Länder wollen vergleichbar mit den Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung ein Programm zur Lehreraus- und weiterbildung und Schulentwicklung starten, konkret ist die Förderung von Verbünden (Arbeitstitel: "Deutsche Zentren für digitale Bildung") aus lehrerbildenden Hochschulen, außeruniversitären Bildungsforschungseinrichtungen und Landesinstituten für Lehrerbildung geplant. Das Signal der gestrigen Runde: Die digitale Transformationen von Schulen und Unterricht geht weit über die Bewältigung der Pandemie hinaus, damit müssten sich auch die Lehrerbildung und die Institution Schule in einem Austausch zwischen Forschung und Praxis grundsätzlich weiterentwickeln. Dieser Punkt hat bislang in der Berichterstattung noch keine Beachtung gefunden – dürfte aber für Bildungswissenschaft und Schulpraxis besonders spannend sein.
4. Auch einen Breitbandanschluss für alle Schulen wollen Bund und Länder jetzt "schnellstmöglich" realisieren. Das Geld dafür ist schon lange im Haushalt eingestellt, doch jetzt soll es wirklich mal vorangehen: KMK-Präsidentin Stefanie Hubig soll kurzfristig den Bedarf in den Ländern abfragen und an den für die digitale Infrastruktur zuständige Andreas Scheuer (CSU) weitermelden. Und dann sollen möglichst noch in diesem Jahr die Bagger rollen.
"Lose Absichtserklärungen
ohne konkreten Fahrplan?"
Konkret benannte Ziele – weitere Maßnahmen sollen sich laut Gesprächsteilnehmern in der Pipeline befinden, darunter eine Teststrategie, damit Kinder bei leichtem Schnupfen weiter in die Kitas und Schulen gehen können, und Zuschüsse an die Kommunen, damit sie mehr Schulbusse fahren lassen und die Schüler nicht so eng befördert werden müssen. All das soll und muss schnell gehen – doch wie genau, ist größtenteils noch unklar.
Von "losen Absichtserklärungen ohne konkreten Fahrplan" sprach deshalb die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Katja Suding. Die angekündigten Maßnahmen sprängen noch dazu viel zu kurz. "Ein großer Wurf für digitales Lernen sieht anders aus. Im Digitalpakt liegen schon heute fünf Milliarden Euro bereit, die aber wegen bürokratischer Hürden nicht bei den Schulen ankommen." Viel mehr als die "nun verabredeten kleinteiligen Maßnahmen" hätten Bund und Länder schon jetzt den Grundstein für eine langfristige Finanzierung des digitalen Unterrichts legen müssen, sagte Suding weiter und forderte einen Digitalpakt 2.0.
Der 1. Parlamentarische Geschäftsführer der linken Bundestagsfraktion, Jan Korte, kommentierte, die Ergebnisse des Spitzentreffens enttäuschten "auf ganzer Linie". Die Schulen hätten mit einem Investitionsstau von 44 Milliarden Euro zu kämpfen, einem verheerenden Mangel an Lehrpersonal und Unterricht unter Pandemie-Bedingungen. "Und die Verantwortlichen reagieren darauf mit unverbindlichen Verabredungen für 500 Millionen Euro, so viel wie Annegret Kramp-Karrenbauer für sechs Kampfjets ausgibt."
Wobei alle Verabredungen, wenn sie denn umgesetzt würden, dann doch deutlich teurer zu Buche schlagen würden. Hinzu kommt: Ein Grundsatz-Bekenntnis, das sich bereits gestern Abend in der von Regierungssprecher Steffen Seibert herausgegebenen Pressemitteilung wiederfand, ist womöglich bedeutsamer, als es in der zurückhaltenden Formulierung zunächst scheinen mag: "Es besteht Einigkeit über das gemeinsame Ziel, erneute komplette und flächendeckende Schließungen von Schulen und Kitas möglichst zu vermeiden. Das hohe Gut der Bildung soll auch in Zeiten der Pandemie politische und gesellschaftliche Priorität genießen."
Jetzt müssen Bund und Länder die beschworene Priorität von Bildung auch in der Pandemie konkretisieren
Das wäre in der Tat nach den Erfahrungen von Schülern, Eltern und Lehrern aus dem Frühjahr etwas Neues. Doch was bedeutet eine solche Priorisierung in der Praxis?
Die Ministerpräsidenten und Kultusminister hatten im Juni beschlossen, im neuen Schuljahr grundsätzlich einen Corona-Regelbetrieb mit möglichst viel Präsenz zu organisieren – und wenn einzelne Corona-Fälle an Schulen auftreten, möglichst nur noch einzelne Klassenstufen oder Kohorten in Quarantäne zu schicken. Zu dem Plan der Länder gehört auch, selbst in einer zweiten Welle statt bundesweiter oder landesweiter Schulschließungen den Präsenz-Unterricht nur noch dort einzuschränken, wo das Infektionsgeschehen regional tatsächlich extrem ist.
Um den Eindruck von Willkür aus den diesbezüglichen Entscheidungen der Landesregierungen zu nehmen, haben mehrere Kultusminister zuletzt Stufenpläne aufgestellt, die abhängig von Fallhäufigkeiten und der Situation einzelner Schulen die unterschiedlichen Hygienemaßnahmen und Eskalationsstufen auf Landkreisebene beschreiben. Diese Form der Transparenz, berichten Teilnehmer, hätten Merkel und Esken außerordentlich begrüßt. Man sei sich einig gewesen, dass auch die vieldiskutierte Frage von einer Maskenpflicht im Schulgebäude oder sogar im Unterricht Teil solcher auf Regionen bezogenen, aber bundesweit möglichst ähnlichen Stufenplänen werden solle.
Dem Grundrecht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung explizit politische und gesellschaftliche Priorität einzuräumen, wie es in dem offiziellen Presse-Statement steht, würde natürlich auch bedeuten, dass, wenn die Infektionszahlen weiter steigen, andere gesellschaftliche Bereiche zugunsten von offenen Kitas und Schulen zuvor eingeschränkt würden. SPD-Chefin Esken sagte heute Mittag auf meine Nachfrage: "Wir fangen an, darüber zu diskutieren, ob Großveranstaltungen akzeptabel sind, dabei haben wir die dringende Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Kitas und Schulen verlässlich offen bleiben. Und diese Aufgabe geht vor."
Zum Beispiel auch, indem es eine Öffnung von Fußballstadien für Publikum nicht geben wird, solange Schulen bei steigenden Zahlen die Schließung droht?
So wichtig die demonstrative Priorisierung von Bildung vor anderen Lebensbereichen für die Öffentlichkeit also ist, sie konkret für den Fall einer weiter steigenden Corona-Kurve auszubuchstabieren, wäre in den nächsten Tagen wünschenswert.
Nächstes Treffen ist
schon für September geplant
Schon so lobte Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), das bezahlbare Internet für alle Schüler als einen "Meilenstein". Und die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, sagte, mit den Dienstlaptops für Lehrer könne endlich "von Schreibtisch zu Schreibtisch" gelernt werden.
Das aus dem "informellen Treffen" zwischen Kultusministern und Bundes-Spitzenpolitikerinnen gestern Abend – wie von der Bundestagsopposition kritisiert – wegen der fehlenden Zuständigkeiten zunächst gar keine formalen Beschlüsse folgen konnten, war dabei laut Teilnehmern zugleich sogar eine Chance. "Zuerst kam die Frage: Was müssen wir als Gesellschaft für die Schulen erreichen, und sobald das Ziel stand, haben wir gemeinsam überlegt, wie wir es umsetzen können", sagt zum Beispiel Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU). Jeder sei sich seiner politischen Kompetenzen bewusst gewesen, doch habe es keinerlei Kompetenzgerangel gegeben, sondern die Haltung: "Wenn wir das so wollen, dann finden wir auch Wege, es gemeinsam umzusetzen."
Eine Haltung, die noch zwei langfristige Folgen des gestrigen Treffens nach sich zieht. Erstens: "Diese Form des Austauschs" (O-Ton Pressemitteilung) soll mit allen Kultusministern fortgesetzt werden, im Hintergrund heißt es: voraussichtlich schon im September. Und zweitens: Bundeskanzlerin, SPD-Chefin und BildungsministerInnen verständigten sich darauf, dass die Digitalisierung von Bildung auf Dauer eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern bleibt. Auch diese Aussage ist bedeutsam – und die Politik wird sich bei allen unterschiedlichen Zuständigkeiten in der Bildungspolitik künftig daran messen lassen müssen. Bundesbildungsministerin Karliczek lobte denn auch "die große Einigkeit" im Gespräch darüber, "wie wir die Digitalisierung der Schulen beschleunigen können". Gut so.
Auch SPD-Chefin Esken hatte bereits am Freitagmorgen in einem Statement gesagt, die Vereinbarungen für mehr Digitalisierung an den Schulen müssten "sehr schnell" Wirklichkeit werden. "Wir sind alle wild entschlossen, jetzt der Sache einen Schub zu geben." Na dann: Die Zeit läuft.
#JensSpahn hat eine #Villa gekauft?
Klar. Er kauft seine Milch ja auch in Hohental-Holzheim und nicht in Wackelrode
Die sehr komplizierten Schulöffnungen im Herbst 2020, einfach erklärt
von Bent Freiwald, 14. August 2020
Selten war ich bei einem Thema so ratlos wie bei der Frage der Schulöffnungen. Ich lese Berichte aus Schweden, die von sehr wenigen Coronainfektionen unter Schüler:innen handeln und denke: Na also, geht doch! Dann eine Nachricht aus Israel, wo ein Lehrer mehrere hundert Menschen angesteckt hat, und denke: Geht doch nicht. Jeden Tag kommt eine Studie, ein Kommentar, ein Artikel, eine engagierte Lehrerin oder ein frustrierter Vater und schmeißt meine Meinung um.
Und dann kommt der Tag, an dem Nordrhein-Westfalen, das größte Bundesland, das neue Schuljahr beginnt, der Tag, an dem die Zahl der gemeldeten Corona-Infektionen in Deutschland auf dem höchsten Stand seit Mai ist, nämlich bei 1.224. Und ich frage mich: Was tun wir hier eigentlich gerade?
Was denn?
Ich weiß es nicht. Niemand (!) kann gerade ernsthaft beantworten, ob die Schulöffnungen richtig oder falsch sind. Auch am Ende dieses Artikels wird es keine definitive Antwort geben. Aber ich nehme euch mit auf die Reise durch ein unklares wissenschaftliches Lagebild. Denn es gibt trotzdem einiges zu verstehen: Was wir wissen und was wir nicht wissen und vor allem wo auf der Skala zwischen richtig und falsch wir uns derzeit befinden.
Okay, dann leg mal los. Ich muss sagen: 30 Kinder plus Lehrkräfte in einen Raum stecken kommt mir bei einem ansteckenden Virus eher wie eine schlechte Idee vor.
Mir auch. Und trotzdem passiert in den Bundesländern, die schon wieder zurück sind aus den Sommerferien, genau das. Jetzt könnte man natürlich denken, den Kultusminister:innen (die haben das so entschieden), ist die Gesundheit der Kinder und Lehrer:innen ziemlich egal.
Könnte man. Wie gefährlich ist es denn für die Kinder?
Lange Zeit dachte man, dass sie sich so gut wie nicht mit Corona anstecken können. Davon ging zum Beispiel eine Studie der Universitätskliniken aus Heidelberg, Ulm, Tübingen und Freiburg aus. Der Tagespiegel schrieb damals: „Kinder infizieren sich deutlich seltener mit dem Coronavirus als ihre Eltern.“
Mittlerweile gibt es neue Studien, und neue Erkenntnisse.
Die Gesellschaft für Virologie, zu der auch Deutschlands berühmtester Virologe Christian Drosten gehört, schreibt in einer Stellungnahme: „Wir warnen vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und Übertragung spielen. Solche Vorstellungen stehen nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen.“ Sie schreiben aber auch: „Infektionsraten bei Kindern und deren Rolle in der Pandemie sind bisher nur unvollständig durch wissenschaftliche Studien erfasst.“
Immer noch nicht?
Immer noch nicht. Der wichtigste Satz in dem Papier ist aber vielleicht dieser hier: „Inzwischen liegt der prozentuale Anteil von Kindern an der Gesamtzahl der Neuinfektionen in Deutschland in einer Größenordnung, die dem Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung entspricht.“
Kinder können sich also doch anstecken.
Man darf zumindest nicht so tun, als würde sich niemand anstecken, wenn man Schulen öffnet. Das sehen wir auch in den Bundesländern, die schon wieder zurück sind aus den Ferien. In Mecklenburg-Vorpommern wurden zwei Schulen wieder geschlossen, in Berlin sind bisher neun Fälle in sechs Bezirken bekannt.
Ein Gymnasium in Ludwigslust zeigt gut, welche Folgen eine Infektion haben kann. Dort steckt sich eine Lehrerin mit Corona an. Seit dem Schulstart hatte sie Kontakt zu 205 Schüler:innen, die alle in Quarantäne mussten. Auch für die restlichen 600 Schüler:innen ruhte der Präsenzunterricht auch für die darauffolgenden Tage.
Moment. Welche Sicherheitsregeln gelten denn in den Schulen?
In Nordrhein-Westfalen gilt eine Maskenpflicht im Unterricht an allen weiterführenden und berufsbildenden Schulen. Grundschüler:innen müssen im Unterricht keine Masken tragen.
In Sachsen sollen Schulen nach den Ferien Ende August selbst eine Maskenpflicht anordnen können. Sie müssen es aber nicht tun. Bevor ich dir jetzt jedes Bundesland aufzähle (bei Zeit Online gibt es eine gute Übersicht), fasse ich mal zusammen: Jedes Bundesland entscheidet im Detail etwas anders, und jedes Bundesland beteuert, sich dabei ganz genau an die empfohlenen Regeln und wissenschaftlichen Erkenntnisse zu halten. Mein Tipp: Wenn alle behaupten, richtig zu liegen, liegt irgendjemand falsch. Es ist ein Experiment.
Nicht nur in Deutschland. Wie gut klappen die Schulöffnungen in anderen Ländern?
Das kommt ganz aufs Land an. Alle reden von Schweden, fangen wir also damit an. Die Schüler:innen bis zur neunten Klasse gingen dort auch im Frühjahr weiter zur Schule. Eine Studie kommt zu dem Ergebnis: „Es hat nur eine sehr niedrige Zahl von Krankheitsfällen bei Kindern gegeben – trotz der geöffneten Kitas und Schulen.“ Auch Island, Dänemark und Norwegen ähneln Schweden in dieser Hinsicht. Sie hatten mit Ausbruch der Pandemie ihre Schulen zwar geschlossen, aber schon wenige Wochen später wieder geöffnet. Die Befürchtung, das könnte eine neue Infektionswelle auslösen, hat sich in keinem dieser Länder bestätigt.
Das klingt vielversprechend.
Ja, aber nur, wenn man hier aufhört. Es gibt natürlich auch Gegenbeispiele. In Israel hat ein einzelner Lehrer mehrere Hundert Menschen angesteckt. Und eine Studie aus den USA schätzt, dass Schulschließungen in 26 Tagen 1,4 Mio. Fälle und 40.000 Todesfälle in 16 Tagen verhinderten. Schlussfolgerung: Staaten, die besonders früh Schulen geschlossen wurden, stoppten die Pandemie am besten.
Ach, mann.
Tut mir Leid. Ich habe ja gesagt, eine klare Antwort gibt es nicht.
Kann man denn nicht einfach auf Nummer sicher gehen? Und die Schulen geschlossen lassen, bis man genug über Ansteckungen dort weiß?
Es gibt ein Recht auf Bildung. Das klingt wie eine hohle Phrase, aber die letzten Monate haben gezeigt, dass ohne den Schulbesuch nicht mehr viel von Bildung übrig bleibt. Schulen sind für die Gesellschaft dreifach wichtig: Kinder lernen dort, sie treffen andere Kinder und haben einen sicheren Ort, den sie zuhause vielleicht nicht haben. Wenn man über die Schließung von Schulen entscheidet, muss man wissen: Jede geschlossene Schulen richtet großen Schaden an.
Warte mal. Lief das Homeschooling denn so schlecht?
Homeschooling trifft es nicht ganz. Denn eigentlich betrifft dieser Begriff Menschen, die ihre Kinder der staatlichen Schulpflicht entziehen wollen. Und das wollen die wenigsten. Man könnte also eher von digitalem Fernunterricht sprechen.
Klugscheißer.
Sorry. Aber zurück zu deiner Frage: Viele Kinder waren durch die Schulschließungen auf ihre Familien angewiesen, auf ihr Milieu. Kinder haben sich schlechter ernährt und weniger bewegt. Das ifo-Institut, ein Institut für Wirtschaftsforschung, hat das unter anderem in einer Befragungherausgefunden. Expert:innen gehen davon aus, dass manche Kinder kaum das Haus verlassen haben. Die Zahl der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt ging zurück. Nicht, weil sie tatsächlich abnahmen, sondern weil keine Lehrer:innen oder Erzieher:innen da waren, die normalerweise die Verletzungen bei Kindern bemerken. Ungleichheit verstärkt sich, wenn Schulen geschlossen sind.
Da hilft auch der digitale Fernunterricht nicht viel. Der ging nämlich bei vielen Schulen eher nach hinten los.
Haben die Kinder überhaupt was gelernt?
Ja, aber deutlich weniger als sie es in der Schule getan hätten. Kein Kind setzt sich alleine für mehrere Stunden am Stück vor den Rechner und lernt vor sich hin.
Stimmt.
Die Zeit, in der Schüler:innen lernen, hat sich während Corona mehr als halbiert. Auch das hat das ifo-Institut herausgefunden. Was sie stattdessen gemacht haben: ferngesehen, Handy-Spiele gespielt oder in sozialen Medien abgehangen. Pro Tag mehr als fünf Stunden.
Schlechtere Schüler:innen waren von den Schließungen besonders betroffen. Laut der Studie haben sie vier Stunden weniger als vorher mit Lernen verbracht. 45 Prozent der Schüler:innen hatten nie gemeinsamen Onlineunterricht. 67 Prozent der Eltern gaben an, dass ihr Kind weniger als einmal pro Woche persönlichen Kontakt mit einer Lehrkraft hatte. 45 Prozent hatten nie Einzelgespräche mit einem Lehrer oder einer Lehrerin.
Ok, sch***
Eine Zahl noch: Fast alle Schüler:innen (96 Prozent) erhielten mindestens einmal in der Woche Arbeitsblätter, die sie bearbeiten sollten.
Das ist dann also dieser digitale Fernunterricht, von dem alle reden?
Wenn du dich jemals mit der Digitalisierung von Schulen beschäftigt hast, weißt du: Bis Corona wurde sie vor allem verpennt. Also so richtig, da haben die Politiker:innen mindestens 100 Mal auf Snooze gedrückt, bevor sie sich langsam aus dem Bett Richtung Computer bewegt haben.
Das heißt: Als plötzlich alle zuhause bleiben mussten, fehlte fast überall fast alles. Die Lehrer:innen hatten keine Laptops oder Tablets, noch nicht einmal E-Mail-Adressen. Es gab keine Clouds, auf die man etwas hochladen hätte können. Die Schüler:innen waren sowieso nicht ausgestattet, außer ihre Eltern hatte genug Geld und haben selbst ein Tablet oder Computer gekauft. Es gab keine Programme, keine Video-Tools. Es fehlten Datenschutz-Richtlinien. Es fehlten klare Ansagen, mit welchen Programmen die Lehrkräfte arbeiten dürfen. Einige Lernplattformen, die es schon gab, sind direkt in die Knie gegangen, weil zu viele Nutzer:innen auf einmal darauf zugegriffen haben.
Und die Eltern zuhause drehen fast durch, weil nichts funktioniert.
Da kann man auch schon mal wütend werden.
Kann man. Direkt mit dem Finger auf die Lehrer:innen zeigen, ist trotzdem etwas zu simpel. Viele haben sich trotz der schlechten Umstände gut um ihre Schüler:innen gekümmert. Andere haben aber – das sollte man nicht leugnen – eine ruhige Kugel geschoben.
Okay, wie machen wir denn jetzt weiter? Bei der nächsten Infektionswelle gibt es doch wieder digitalen Fernunterricht. Na Herzlichen Glückwunsch.
Das ist vielleicht das größte Problem. Das Konzept der Kultusminister:innen würde ich so zusammenfassen: Wird schon gut gehen. Fragt man Wissenschaftler:innen, sagen die aber: Wird es eher nicht. Immer wieder werden Schulen geschlossen werden (wie die in Ludwigslust), immer wieder wird es zu Ausbrüchen kommen, weil auch außerhalb der Schulen die Menschen unvorsichtiger werden. Immer wieder werden Schüler:innen und Lehrer:innen also zuhause sitzen.
Dafür fehlt weiterhin ein einheitliches Konzept, außerdem Clouds, Laptops, Programme, Fortbildungen. Auf normalen Schulbetrieb zu setzen ist wie ein Glücksspiel, mit verbunden Augen und mit dem Rücken zum Spielfeld.
Schon klar, nach meinen bisherigen Schilderungen muss digitaler Fernunterricht wie die schlechteste Lösung klingen. Aber es gibt einen Lichtblick. Denn natürlich haben viele Lehrer:innen während der Zeit zuhause viel über digitalen Unterricht gelernt. Und bald sind sie vielleicht sogar dafür ausgestattet.
Haha. Als wenn.
Doch, ehrlich. Alle Schulen sollen an schnelles Internet angeschlossen werden. Und, halt dich fest …
Ich halte mich fest.
… jede Lehrkraft soll einen eigenen Dienstlaptop bekommen.
Nein!
Doch!
Oh!
Angela Merkel, SPD-Chefin Saskia Esken und die Bildungsminister:innen der Länder haben das Mitte August beschlossen. Oder eher: sich vorgenommen. Offiziell beschlossen werden muss das noch, und einen Zeitplan gibt es auch noch nicht. Aber immerhin.
Ja ... immerhin.
Redaktion und Schlussredaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.
Anmerkung ms:
In der oben angesprochenen Runde der Großkopferten scheint der Einen oder dem Anderen gedämmert zu haben, dass Schulöffnung und Fußballspiele mit Publikum alternativ sind und Bildung möglicherweise wichtiger ist als Circenses.