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Schon wieder geht es um eine Pipeline

US-Regierung droht mit Handelskrieg, wenn Deutschland weiter das Pipelineprojekt Nord Stream 2 mit Russland verfolgt

Wenn es um geostrategische Interessen geht, spielen trotz aller Rede von einer Klimawende, erneuerbare Energien praktisch keine Rolle. Sie sind auch vorwiegend dezentral und lokal, während fossile Energien weiterhin den primären Energie- oder Blutkreislauf der Welt speisen und daher in aller Regel eine Rolle bei geopolitischen Konflikten spielen. Man darf annehmen, dass Washington nicht zuletzt deswegen das Abkommen mit dem Iran aufgekündigt hat. Nicht zur Unterstützung Israels oder aus Angst vor der nuklearen Aufrüstung, sondern um so Iran als Öllieferant auszuschalten. Schon steigen die Preise deutlich wovon die USA als mittlerweile eines der größten Exportländer profitieren.

Im Hintergrund von Donald Trumps angedrohtem Handelskrieg gegen Deutschland stehen wie schon unter Obama ökonomische Interessen, Europa von der Energieabhängigkeit von Russland zu lösen. Dabei sollen die USA im Sinne von "Amerika wieder großen machen" sowie Alliierte profitieren, die statt Russland Europa mit Gas und Öl versorgen (Hinter dem Rücken der Öffentlichkeit sponsert die EU eine eigene Gasinfrastruktur). Die Ukraine, durch die weiter Pipelines von Russland nach Europa laufen, ist dabei ein Trojanisches Pferd, um Nord Stream 2 zu verhindern. Aber es geht Washington keineswegs darum, dass die Ukraine von den russischen Exporten weiter profitiert - 2018 sollen 3 Milliarden US-Dollar in die Kassen gespült werden (Ukraine wird zum unsicheren Gas-Transit-Land) -, denn seit dem Beginn des Frackings kämpfen die USA um Möglichkeiten, andere Staaten von amerikanischen Öl und Gas abhängig zu machen.

Bei dem letzten Treffen im April soll Donald Trump ganz offen Bundeskanzlerin Merkel, die sich heute mit Wladimir Putin in Sotschi trifft, mit einem Handelskrieg gedroht haben, wenn es die Gaspipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee unter Umgehung der Ukraine weiterverfolgt. Das haben, so berichtet das Wall Street Journal, deutsche, amerikanische und europäische Regierungsangehörige gesagt. Merkel hatte beim Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko noch erklärt, man werde die Interessen der Ukraine als Transitland berücksichtigen und dafür Garantien durchsetzen. Das war offenbar für Washington nicht überzeugend.

Nach Ansicht von Washington würde Nord Stream 2 die Abhängigkeit Europas von Russlands Gas erhöhen. Zudem werden Befürchtungen geäußert, dass Russland Unterwasser-Überwachungstechnik mit der Pipeline installiert. Das sagte zumindest Sandra Oudkirk vom US-Außenministerium, zuständig für Energiepolitik. Die Drohung kam auch zu dem Zeitpunkt, zu dem die EU erklärte hatte, europäische Unternehmen, die mit dem Iran Handel treiben, vor US-Sanktionen zu schützen. An Nord Stream 2 sind Konzerne aus mehreren europäischen Ländern neben Gazprom beteiligt: Royal Dutch Shell Plc, Wintershall, Uniper SE, OMV AG und Engie SA.

Nach Oudkirk seien Sanktionen eine Folge eines im letzten Jahr aufgrund der Intervention in der Ukraine und der Einmischung in die US-Wahlen verabschiedeten Gesetzes, das der US-Regierung erlaube, gegen russische Energieprojekte einzuschreiten: "Das bedeutet, dass jedes Pipeline-Projekt, und es gibt viele davon möglicherweise betroffene Projekte, mit einem erhöhten Sanktionsrisiko bedroht ist." Die USA seien gegen Nord Stream 2 wegen Sicherheitssorgen, wobei sie auf Überwachungstechnik hinwies, ohne das weiter auszuführen, was darauf hindeutet, dass das nur vorgeschoben ist.

Oudkirk machte klar, was von Washington statt Nord Stream 2 verlangt wird. Europa könne doch Gas vom Kaspischen Meer, dem östlichen Mittelmeer, Algerien, Australien oder eben den USA improtieren. Dass sie noch hinzufügte, Washington sei "neutral", sofern es nur kein russisches Gas ist, überzeugt nicht wirklich.

Klar ist, dass es auf eine direkte Konfrontation von Deutschland mit den USA hinausläuft. Derzeit scheint ein Kompromiss kaum möglich. Möglicherweise könnte Trump Nord Stream 2 akzeptieren, wenn Deutschland beim Iran-Abkommen einlenkt. Kaum denkbar scheint, dass sich Berlin gegen Trump im Hinblick auf den Iran durchsetzen und die Pipeline Nord Stream 2 realisieren könnte, die die Hegemonie der USA mindern und mit den gestiegenen Energiepreisen Russland bevorteilen könnte. Zudem soll unterbunden werden, dass die antirussischen Sanktionen unterlaufen und nicht von Washington kontrollierte Beziehungen von Deutschland und anderen EU-Staaten mit Russland aufgebaut werden. (Florian Rötzer)

Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Schon-wieder-geht-es-um-eine-Pipeline-4051576.html?wt_mc=rss.tp.beitrag.atom

Lug und Trug

Nato-Osterweiterung: "Das ist eine brillante Idee! Ein Geniestreich!"

Jetzt freigegebene Dokumente beweisen US-amerikanische Versprechungen an Boris Jelzin, dass Russland Teil der neuen europäischen Sicherheitsstruktur werden würde

Der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner hielt im Mai 1990 in Brüssel eine wichtige Rede über die Zielrichtung der nächsten zehn Jahre: "Das Hauptziel des nächsten Jahrzehnts wird der Aufbau einer neuen Europäischen Sicherheitsstruktur sein, die die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes umfasst. Die Sowjetunion wird bei der Konstruktion dieses Systems eine bedeutende Rolle spielen. Wenn sie die aktuelle Zwickmühle der Sowjetunion berücksichtigen, die praktisch keine Verbündeten mehr hat, dann können sie ihren begründeten Wunsch verstehen, nicht aus Europa hinausgedrängt zu werden."

Weiter betone der NATO-Generalsekretär: "Der Westen kann auf die Erosion des Warschauer Paktes nicht mit der Schwächung oder gar der Auflösung der NATO antworten; die einzige Antwort ist die Erschaffung eines Sicherheitsrahmens, der beide Allianzen umfasst: in anderen Worten, eine die die Sowjetunion in ein kooperatives Europa einbezieht." Wenig später noch eine weitere bemerkenswerte Aussage: "Gerade die Tatsache, dass wir bereit sind, NATO-Truppen nicht jenseits des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion verbindliche Sicherheitsgarantien."

Ein Jahr später beruhigte Wörner erste aufkommende Sorgen der Sowjetunion, indem er - laut einem russischen Protokoll des Gesprächs - betonte, der NATO-Rat und er seien gegen eine Ausweitung der NATO. 13 der 16 NATO-Staaten würden diese Haltung unterstützen. Wörners eigene Haltung war eindeutig: "Wir sollten (…) die Isolation der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zulassen." Worte aus der Vergangenheit, die aus heutiger Sicht zumindest sehr nachdenklich stimmen sollten.


Falsche Versprechungen an Russland haben eine lange Tradition

Ende letzten Jahres veröffentlichte das unermüdlichen National Security Archive der George Washington University Dokumente, die zeigen, dass die westlichen Regierungen immer wieder den zu naiven Michail Gorbatschow bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung mit falschen Versprechungen über eine Nichterweiterung der NATO hereingelegt haben ("Keinen Inch weiter nach Osten": Was den Russen zur Wiedervereinigung über die Nato versprochen wurde).

Vor wenigen Tagen folgte nun die Veröffentlichung neuer Dokumente aus der Zeit der Präsidentschaft von Boris Jelzin. Diese belegen, dass die USA Russland wiederholt versicherten, die zukünftige Sicherheitsstruktur in Europa würde auch Russland einschließen. Die Dokumente offenbaren prophetische Mahnungen Jelzins und zeigen, dass russische Kritik an einer NATO-Osterweiterung keine aktuellen Erscheinungen sind, sondern den gesamten Prozess seit Anbeginn der Verhandlung über die deutsche Wiedervereinigung begleitet haben.

Boris Jelzin, neuer Präsident Russlands, hatte selber im August 1993 zuerst Diskussionen über eine mögliche NATO-Erweiterung angefeuert, als er in Warschau öffentlich das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker würdigte. Sofort hiernach wurde jedoch in Russland diese Position wieder überdacht.

Jelzin brachte dies in einem Brief am 15. September 1993 an den US-Präsidenten Bill Clinton deutlich zum Ausdruck. Jelzin schrieb von seinem Unwohlsein über die Diskussion einer möglichen NATO-Erweiterung und befürwortete sehr stark "ein pan-europäisches Sicherheitssystem" anstelle des alten militärischen Blocks des Westen.

Jelzin warnte im Hinblick auf eine NATO-Erweiterung: "Nicht nur die Opposition, sondern auch moderate Kreise (in Russland) würden dies ohne Zweifel als eine neue Isolation unseres Landes wahrnehmen, die im diametralen Gegensatz zu seiner natürlichen Aufnahme in einen Euro-atlantischen Raum steht." Jelzin argumentierte hierbei auch mit dem Vertrag der deutschen Wiedervereinigung, der "die Option einer Ausweitung des NATO-Bereichs in den Osten ausschließen" würde.

In Russland gab es in allen politischen Lagern viele Kritikern einer möglichen NATO-Osterweiterung und entsprechend besorgt war die Stimmung. Im Herbst 1993 warnte James Collins, ein US-Diplomat in Russland, das Thema der NATO sei "für die Russen neuralgisch. Sie gehen davon aus, auf der falschen Seite eines neu geteilten Europas zu enden, wenn irgendeine Entscheidung schnell getroffen wird. Unabhängig wie nuanciert, wenn die NATO eine Politik annimmt, die die Erweiterung nach Zentral- und Osteuropa vorsieht, ohne eine Tür für Russland offen zu lassen, dann würde es überall in Moskau als gegen Russland - und nur gegen Russland alleine - interpretiert werden."

Anfang September 1993 hatte das US-State Department eine Planung für die Erweiterung der NATO erstellt. Diese sollte sehr schnell mit Mittel- und Osteuropa sowie den baltischen Staaten beginnen, aber auch im Jahr 2005 schließlich die Ukraine, Weißrussland und Russland beinhalten.

Aber Jelzins Brief an Clinton führte dazu, dass das US-Verteidigungsministerium diese Planung verwarf und stattdessen die Idee einer "Partnerschaft für den Frieden" befürwortete. Dies stellte auch die Grundlage für das Treffen des US-Außenministers Warren Christopher mit Boris Jelzin dar.

Am 22. Oktober 1993, wenige Monate vor einem anstehenden NATO-Gipfel, traf Christopher Boris Jelzin. Später schrieb Christopher von diesem Treffen in seinen Memoiren, dass Jelzin ihn in vermutlich falsch verstanden habe musste, vielleicht weil er betrunken war. Christopher berichtete, er habe die Nachricht übermittelt, dass die geplante "Partnerschaft für den Frieden" zu einer schrittweisen Ausweitung der NATO führen sollte. Christopher mutmaßte in seinen Memoiren zudem, ob Jelzins Außenminister Andrei Kosyrew absichtlich seinen Präsidenten nicht über diese zwangsläufige Ausweitung der NATO informiert hatte. Jelzins positive Reaktion während ihres Gespräches konnte er sich ansonsten nur dadurch erklären, dass der russische Präsident vielleicht eine noch schnellere Erweiterung der NATO befürchtet hatte. Die Darstellung des Vize-Außenministers Strobe Talbott ist nuancierter, aber teilt den Tenor.

Dank der Arbeit des National Security Archives wissen wir heute, wie das Gespräch tatsächlich verlaufen ist, was Christopher wirklich sagte und warum Jelzin vor Erleichterung jubelte. Tatsächlich erklärte Christopher dem russischen Präsidenten, nichts werde getan, um Russland von einer "vollständigen Teilnahme an der zukünftigen Sicherheit in Europa" auszuschließen. Die USA würden nämlich eine "Partnerschaft für den Frieden" initiieren. Dieses Gremium würde dem Dialog mit allen ehemaligen Staaten der Sowjetunion und des Warschauer Paktes dienen.

Christopher betonte hierbei, "es wird keine Bemühung geben, irgendjemanden auszuschließen oder jemanden zu bevorzugen." Jelzin bat seinen Gesprächspartner aus den USA um Bestätigung, dass alle Länder Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion gleichermaßen behandelt werden würden und dass es eine Partnerschaft und keine Mitgliedschaft geben werde. Christopher bestätigte dies, bevor ein begeisterter Jelzin jubelte: "Das ist eine brillante Idee. Eine Geniestreich." Dies würde alle Sorgen in seinem Land im Hinblick auf die NATO nehmen. Russland "würde keine Zweite-Klasse-Bürger" sein, sondern ein gleichwertige Partner.


"Nicht ob, sondern wann"

Im Januar 1994 legte Bill Clinton auf seiner Reise nach Moskau einen Zwischenstopp in Prag ein, um mit den politischen Spitzen der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und der Slowakei zu sprechen. Er argumentiert, dass die "Partnerschaft für den Frieden" ein "Weg sei, der zur NATO-Mitgliedschaft führe" und sie nicht "eine andere Linie ziehe, die Europa einige hundert Meilen im Osten teile".

Gegenüber dem tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Havel gestand Clinton, dass es unter den aktuellen NATO-Mitgliedsstaaten keine Einigung darüber gebe, formale Sicherheitsgarantieren auszuweiten, weil nicht klar sei, welche Länder sich heran beteiligen können und weil "die Reaktion in Russland das Gegenteil dessen sein könnte, die wir wollen". Havel antwortete laut Dokument: "Aber im Hinblick auf die Empfindlichkeit der Bevölkerung hier (in der Tschechoslowakei), müsse er (Havel) betonen, dass die 'Partnerschaft für den Frieden' der erste Schritt sei, der zu einem vollständigen NATO-Mitgliedschaft führe. Der US-Präsident drückte sein volles Einverständnis aus."

Am Tag darauf übte Polens Präsident Lech Walesa Druck auf Clinton aus. Sie müssten diese historische Gelegenheit nutzen. Russland sei schwach und er schenke Russlands Bitten und Versicherungen keinen Glauben: "Russland hat viele Vereinbarungen unterschrieben, aber sein Wort nicht immer gehalten." Walesa erklärte, er habe ein Papier mit Jelzins Unterschrift, dass Russland keinen Bedenken gegen eine NATO-Mitgliedschaft Polens habe. Dann habe aber Jelzin seine Meinung geändert. Polens Außenminister fügte hinzu, sie hätten Angst, die USA würden mit Russland einen Deal machen, um neue Einflusssphären zu etablieren. Havel hingegen äußerte seine Bedenken, dass es weder "möglich noch wünschenswert sei, Russland zu isolieren."

Alle beteiligten Gesprächspartner einigten sich schließlich darauf, der "Partnerschaft für den Frieden" unter der Bedingung beizutreten, dass sie der erste Schritt zu einer vollständigen NATO-Mitgliedschaft sei. Clinton bestätigt dies. Anschließend äußerte sich Clinton auf der Pressekonferenz: "Jetzt ist die Frage nicht mehr länger, ob die NATO neue Mitgliedsländer aufnimmt, sondern wann und wie."

Wenige Tage später trafen sich Clinton und Jelzin in Moskau. Clinton bekräftigte, die "Partnerschaft für den Frieden" sei jetzt "die zentrale Sache" ("the real thing now"). Die Sachlage war aber weit davon, so eindeutig zu sein, wie die Worte des US-Präsidenten.

Im Verlauf des Jahres 1994 versuchten die USA wiederholt Russland davon zu überzeugen, dass die NATO-Erweiterung nicht "anti-russisch" sei. Bei Jelzins Besuch in Washington betonte Clinton "Inklusion, nicht Exklusion". Aber im Herbst desselben Jahres erfuhren die Russen, dass Richard Holbrooke die Diskussion um eine NATO-Erweiterung beschleunigte und eine NATO-Studie in Auftrag gab, die das "Wie und Warum" neuer Mitgliedsländer untersuchen sollte.

Jelzin protestierte offiziell und beschwerte sich: "Die Gründe hinter dieser neuen Belebung der Diskussion und die Beschleunigung der NATO-Erweiterung sind vollkommen unverständlich." Am 1. Dezember 1994 lehnte Russland schließlich die Bestätigung seiner Mitgliedschaft bei der "Partnerschaft für den Frieden" ab und verweigerte die Unterzeichnung. Wenige Tage später konfrontierte Jelzin den US-amerikanischen Präsidenten bei einem Gipfeltreffen: "Warum säen sie die Samen des Misstrauens? … Europa läuft Gefahr, in einen kalten Frieden zu stürzen… die Geschichte zeigt, es ist eine gefährliche Illusion anzunehmen, dass das Schicksal von Kontinenten und der Weltgemeinschaft von einer einzigen Hauptstadt aus geleitet werden können."


Jelzins Prophezeiung

Die USA begannen zu verstehen, dass Russland gefolgert hatte, die USA hätten, die "Integration (Russlands) in die NATO untergeordnet, wenn nicht sogar aufgegeben". Vize-Präsident Al Gore wurde nach Moskau geschickt und betonte, dass es keine schnelle Erweiterung geben werde und sich diese "im engst möglichen Einverständnis" zwischen den USA und Russland gestalten werde.

Aber in Russland wuchsen die Zweifel an der Ehrlichkeit der US-amerikanischen Worte. In der russischen Duma fand eine parlamentarische Anhörung zu den "Russisch-US-amerikanischen-Beziehungen". Die Zusammenfassung der Sitzung spricht Bände: "Die USA weichen in ihrer Politik zu den post-sowjetischen Staaten oft von ihrer erklärten Priorität der Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte ab und stellen offen ihre geopolitischen Ziele an oberste Stelle."

Zu den Feierlichkeiten des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkrieges reiste Clinton eigens nach Moskau. Beim gemeinsamen Gespräch der Präsidenten nimmt Jelzin kein Blatt vor den Mund: "Ich sehe nichts als Erniedrigung für Russland, wenn Sie weitermachen … Warum wollen Sie das tun? Wir brauchen eine neue Struktur für eine pan-europäische Sicherheit, keine alte! … Aber wenn ich einer Expansion der Grenzen der NATO nach Russland zustimme, würde ich die russischen Menschen betrügen."

Clinton verwies auf die positiven Nebeneffekte für Russland. Wenn Jelzin mit der NATO-Osterweiterung einverstanden sei, würde Russland Gründungsmitglied bei der noch zu erschaffenden Nachfolge-Organisation des "Koordinationsausschusses für multilaterale Ausfuhrkontrollen", Russland würde in die G7 aufgenommen und hätte eine Sonderbeziehung zur NATO, aber nur wenn es "durch die Tür geht, die wir hierfür aufmachen".

Clinton betonte, dass die NATO-Erweiterung "stufenweise, stetig, wohlüberlegt" stattfinden würde und warnte: "Sie können sagen, wir sollen nicht den Prozess beschleunigen - ich habe Ihnen gesagt, dass wir das nicht tun -, aber Sie können uns auch nicht sagen, den Prozess zu verlangsamen oder wir müssen dann weiterhin 'Nein' sagen." Clintons Versicherung an Jelzin: "Ich werde keine Veränderung unterstützen, die die Sicherheit Russlands gefährdet und Europa teilt." Am Ende kamen beide Präsidenten überein, dass die NATO-Erweiterung erst nach den Präsidentschaftswahlen 1996 in beiden Ländern stattfinden solle.

Bei ihrem nächsten Treffen im Juni beglückwünschte Clinton Russland, dass sich das Land zur Mitgliedschaft in der "Partnerschaft für den Frieden" entschlossen habe. Jelzin brachte jedoch einen neuen Gedanken ins Spiel: "Es ist wichtig, dass die OSZE der grundlegende Mechanismus für die Entwicklung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa sei. Die NATO ist natürlich auch ein Faktor, aber die NATO sollte sich in eine politische Organisation entwickeln."


Primakows Sammlung

Wiederholt wird heutzutage die russische Kritik an der NATO-Osterweiterung als eine Eigenheit der aktuellen russischen Regierung dargestellt. Tatsächlich zeigen sich russische Bedenken während der gesamten 1990er Jahre. Freigegebene russische Dokumente geheimer Anhörungen in der Duma und interne Memos aus der Zeit zeigen im Detail russische Einwände gegen eine NATO-Erweiterung. Diese bedrohe Russlands Sicherheit, untergrabe die Idee einer Europäischen Sicherheitszone, die auch Russland beinhalte, und ziehe eine neue Grenze durch Europa.

Im Januar 1996 wurde Jewgeni Primakow neuer russischer Außenminister. Sofort bat er das Archiv des russischen Außenministeriums um alle Dokumente, die Versprechen westlichen Politiker zu einer Nicht-Erweiterung der NATO erwähnen. Nach der Lektüre erstellte er daraus eine Übersicht, die er wiederholt in Memos, Reden und Gesprächen nutzte. Sie beinhaltet Versprechen des damaligen US-Außenministers James Baker, des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, des damaligen britischen Premierministers John Major und des französischen Präsidenten François Mitterand. Überraschenderweise schrieb Primakow auch, Russland trage selber Mitschuld daran, dass sich Mittel- und Osteuropa dem Westen zuwenden würden.

Vielleicht war es Primakows Suche, die Beunruhigung in den USA auslöste. Auf jeden Fall berichtete der damalige Botschafter James Collins, dass sich ein höher gestellter Politiker im Kreml beschweren würde, die NATO-Erweiterung würde dem Geist des Vertrages über die Deutsche Wiedervereinigung widersprechen. Am 23. Februar 1996 versandte das US-Außenministerium daraufhin an alle europäischen Botschaften ein Memo von John Kornblum und John Herbst. Diese russische Behauptung wurde darin als "unbegründet" und "trügerisch" bezeichnet. Das Memo betonte, dass der Vertrag der Deutschen Wiedervereinigung sich nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezog, aber keine Auswirkungen auf neue NATO-Mitglieder hätte. Ganz in diesem Sinne beschrieb das Memo eine Äußerung des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher als "unilateral" und nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen.

Dem widersprechen jedoch Berichte des US-amerikanischen und des britischen Außenministerium aus dem Jahr 1990. Sie dokumentieren, dass sich Genscher wiederholt auf die DDR, Polen und Ungarn bezog, die vielleicht der NATO beizutreten wünschten. Neben dieser fehlerhaften Darstellung verzichtete das Memo bezeichnenderweise auch auf die Auseinandersetzung mit dem Herzstück der Sammlung von Primakow, mit den Versprechen westlicher Politiker, die NATO würde sich nicht ausweiten.

Das Memo diente vielen US-Botschaften in Europa als Hilfe, um zur höchst aktuellen Frage der NATO-Osterweiterung Stellung nehmen zu können.


Historische Verantwortung

Kurz vor dem NATO-Gipfel 1997 verfasste Primakow dann eine Zusammenfassung für den Sprecher der Duma. Primakow versammelte wieder eine Reihe von westlichen Versprechungen über eine Nicht-Erweiterung der NATO. Dabei präzisierte er, dass die NATO-Erweiterung im Moment nicht als eine militärische Bedrohung wahrgenommen würde, aber als die "Errichtung einer neuen Trennlinie in Europa". Sie würdezwangsläufig "in eine neue Konfrontation führen, die das Vertrauen zwischen Russland und den westlichen Ländern untergraben wird."

Er schloss mit Worten, die jedem Leser im Jahr 2018 zum Nachdenken bringen sollten: "Wir sprechen hier über eine Entscheidung, deren Konsequenzen die Europäische Gestaltung für die nächsten Jahrzehnten bestimmen werden. Politiker, die heute an der Macht sind werden hierfür die historische Verantwortung tragen."

Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurden Tschechien, Polen und Ungarn eingeladen, Beitrittsverhandlungen mit der NATO aufzunehmen. Vier Jahre später brachte der neue russische Präsident Wladimir Putin einen Beitritt Russlands in die NATO ins Gespräch. Erfolglos.

In seinem äußerst lesenswerten Artikel Osterweiterung: "Fehler von historischem Ausmaß" stellt Christoph Duwe die grundlegenden Fragen über die dargestellte historische Entwicklung, die bekanntermaßen bis heute angehalten hat: "Welche Strategie haben die Vertreter der NATO eigentlich mit dem Expansionskurs verfolgt? Glaubten die Befürworter der grenzenlosen Erweiterung, dass ein militärisch (und wirtschaftlich) weitgehend vereintes Europa - unter Ausschluss Russlands - eine Konzeption sei, die Frieden und Sicherheit in Europa befördert? Hat man die Warnungen vor den möglichen Folgen dieser Strategie einfach nur überhört? Oder wollte man sie vielleicht sogar überhören?"

Christoph Duwe zitiert anerkannte Persönlichkeiten, die bereits im Jahr 1997 ihre massive und grundlegende Kritik offen vorbrachten. Die bedenkliche Entwicklung, die wir heute erleben, kommt also nicht wirklich überraschend. Zumindest für die Menschen, die es wissen wollen. Sicherlich nicht unerwartet ist diese Entwicklung für die Politiker, die die Weichen hierfür gestellt haben. 1997 schrieb Robert McNamara, ehemaliger US-Außenminister unter John F. Kennedy, einen Brief an Bill Clinton, den mehr als 40 hochrangige Persönlichkeiten unterzeichneten. Er nannte eine mögliche NATO-Osterweiterung einen "Fehler von historischem Ausmaß". Der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan schrieb im selben Jahr in der New York Times:

Es wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten. Diese Entscheidung lässt befürchten, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland entfacht werden könnten. Sie könnte einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, wieder zu einer Atmosphäre wie im Kalten Krieges führen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken, die uns sehr missfallen wird.

Egon Bahr, Vordenker der deutschen Ostpolitik, warnte ebenfalls 1997 in der "Zeit" prophetisch:

Es gibt keine Stabilität in und für Europa ohne die Beteiligung Russlands. Entweder sind wir stabil und sicher mit Russland, oder wir müssen in überschaubarer Zeit Sicherheit vor Russland neu organisieren. … Weitere Runden von NATO-Osterweiterung bedeuten, dass wir mindestens für die nächsten zehn Jahre eine Gegnerschaft zu Russland aufbauen. … Ich halte das wirklich für einen riesigen Fehler.

Dies waren vor mehr als zwanzig Jahren weise Worte.


Die Prophezeiungen sind eingetreten

Jack Matlock, ehemaliger US-Botschafter in Moskau gab 2014 angesichts der Ukraine-Krise die eigenen Fehler zu bedenken:

Wir wussten, wenn man ein Instrument des Kalten Krieges - die NATO - in dem Moment vor bewegt, wo die Barrieren fallen, schafft man neue Barrieren in Europa. … Es war ein Fehler, die NATO in den Osten auszudehnen. … 2008 entschied die Nato, die Ukraine auf eine Spur zur Mitgliedschaft zu setzen. Ein in seinem Inneren tief gespaltenes Land, direkt vor Russlands Türe. Das alles waren sehr dumme Schachzüge des Westens. Heute haben wir die Reaktion darauf.::Jack Matlock (Andreas Westphalen )

Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Nato-Osterweiterung-Das-ist-eine-brillante-Idee-Ein-Geniestreich-4009027.html?wt_mc=rss.tp.beitrag.atom