Propagandaschrift zum El-Paso-Attentat: Kein Ruhm für Mörder

Das „Manifest“, in dem der Attentäter von El Paso seine politischen Absichten beschrieben haben soll, wird massenhaft verbreitet. Wie gefährlich das ist, konnte man schon vor 50 Jahren wissen: Twittern lernen von Adorno!

Mario Tama / AFP

El Paso: Die Opfer dürfen nicht in Vergessenheit geraten

Es ist passiert, und es wird wieder passieren. Zwei Massaker in den USA, in El Paso und Dayton, insgesamt mindestens 31 Todesopfer und viele Verletzte. Bei dem Angriff von El Paso gehen die Behörden von einem rassistischen Motiv des Täters aus. Viel ist bisher nicht bekannt - aber jeder Fetzen Information, ob bestätigt oder unbestätigt, wird über soziale Medien verbreitet.

Es gibt ein "Manifest", das der Tatverdächtige von El Paso ins Internet gestellt haben soll, in dem er seine politischen Absichten beschrieben haben soll. Ob der Text tatsächlich von ihm stammt, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Es gibt Hinweise darauf. Dennoch wurden Screenshots und Zitate von Beginn an massenhaft geteilt, von JournalistInnen, von Privatpersonen, vielleicht aus Zustimmung, vielleicht in aufklärerischer Absicht, fast immer ohne Verweis auf die Unsicherheit der Quelle. Aber immer ist dieses Teilen ein Fehler.

Wenn das "Manifest" (schon der Begriff ist zu viel der Ehre, meiner Meinung nach) tatsächlich vom Attentäter stammt, dann war es wahrscheinlich sein Ziel, dass es möglichst weit verbreitet wird und er bei Gleichgesinnten als Held gefeiert wird. Wenn es nicht von ihm stammt, freut sich irgendwo in der Welt jemand, dass ihm so viele Menschen auf den Leim gegangen sind.

Wer den Namen und Fotos des Täters verbreitet und mutmaßlich von ihm erstellte Texte teilt, verhilft einem vielfachen Mörder zu größerer Bekanntheit. Das bedeutet nicht, dass diese Informationen geheim bleiben sollten. Wenn Medien darüber berichten, dass es Hinweise auf ein rassistisches Dokument gibt, das mit der Tat zusammenhängen könnte, dann gehen sie ihrer Aufgabe nach, Menschen zu informieren. Wenn Privatpersonen diesen Text oder Auszüge daraus teilen, ist das etwas anderes: Sie tragen damit - freiwillig oder unfreiwillig - zu genau dem Plan bei, den Menschen haben, die solche Propagandaschriften erstellen.

Nicht jeden Scheiß glauben und verbreiten

Es ist verständlich, wenn Leute nach einem Massenmord nach Informationen suchen. Die Frage ist, ob sie verantwortlich mit diesen Informationen umgehen. Bei seriösen Medien gibt es verschiedene Regeln zum Umgang mit Quellen: Man verlässt sich nicht nur auf eine Quelle, man sucht weitere. Man prüft die Informationen, die man bekommt, man schaut sich an, woher sie kommen und ob sie mit weiteren Informationen zusammenpassen.

Für Privatpersonen, die Social-Media-Accounts haben, gibt es solche Regeln nicht - außer dass in den Nutzungsbedingungen oft festgeschrieben steht, dass keine Hassbotschaften verbreitet werden dürfen, aber man weiß auch, wie gut diese Regeln funktionieren. Aber man kann als einzelne Person etwas vom Umgang seriöser Medien lernen (wenn sie ihre Arbeit gut machen, und das tun sie nicht immer), und das wäre kurzgefasst die Regel: nicht jeden Scheiß glauben und verbreiten.

Warum es falsch ist, rechte Propaganda - wenn auch mit kritischem Kommentar oder zynischem Emoji - weiterzuverbreiten, kann man sehr gut in einem Vortrag von Theodor W. Adorno nachlesen, der kürzlich bei Suhrkamp erschienen ist. Der Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" ist von 1967, aber äußerst aktuell. Adorno (dessen Todestag sich heute zum 50. Mal jährt) spricht darin - ziemlich leicht verständlich und ungewohnt konkret - von Rechtsradikalen in den Sechzigerjahren und vergleicht ihre Vorgehensweisen mit denen der Nazis unter Hitler. (Eine ausführlichere Besprechung lesen Sie hier)

Mein Kollege Benjamin Moldenhauer schreibt, man finde im Vortrag Adornos "keine fundamental neuen Erkenntnisse". Das mag sein, wenn man sich schon eingehend mit Rechtsradikalen und der Forschung zu ihnen beschäftigt hat. Angesichts des Umgangs vieler Menschen mit rechtsradikaler Propaganda würde es allerdings außerordentlich helfen, wenn die Gedanken, die Adorno hier zusammenträgt, bekannter und gern auch Schulstoff werden. (Es gibt den Vortrag auch auf YouTube. Twittern lernen von Adorno, das Internet macht es möglich.)

Viele dieser Gedanken sind direkt auf die heutige Zeit übertragbar:

  • die Feststellung, dass "Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind",
  • dass die neueren Rechtsradikalen sich oft als demokratisch verkaufen und ihre GegnerInnen als "undemokratisch" bezeichnen,
  • dass es parteiinterne Machtkämpfe gibt, die aber nicht dazu führen, dass die Parteien sich selbst zerlegen,
  • dass Rechtsradikale sich von der Last der deutschen Geschichte befreien wollen oder sie gar umschreiben (Adorno spricht vom Komplex "Schluss mit dem Schuldbekenntnis") und immer wieder von angeblichen "Denk- und Sprechverboten" die Rede ist,
  • dass rechtsradikale Propaganda oft das "Gefühl einer sozialen Katastrophe" beschwört, dass darin gegen vermeintliche Eliten gehetzt wird (Adorno erwähnt die "Linksintellektuellen", heute sprechen Nazis oft von "Kulturmarxisten") und oft schlicht Lügen und falsche Zahlen verbreitet werden.

Wenn die Opfer in Vergessenheit geraten, haben die Täter gewonnen

Die inhaltlichen Fehler und Widersprüche, die rechtsradikale Propaganda oft enthält, schaden ihrer Wirkung nicht unbedingt. Die Propaganda muss gar keine "wirklich durchgebildete Theorie" enthalten, wie Adorno sagt. Die Macht und der Einflussbereich von Rechtsradikalen werden auch gesteigert, wenn sie es schaffen, intellektuell haltlose Pamphlete und plumpe Lügen professionell zu verbreiten: "Die Propaganda (...) ist wie einst bei den Nazis geradezu die Substanz der Sache selbst." Es wird darin nicht nur oft eine Masse von UnterstützerInnen halluziniert, die es tatsächlich (noch) gar nicht geben mag, sondern die Schriften (heute auch: Tweets, Postings, Plakate und so weiter) an sich sind größtenteils darauf ausgelegt, massenhaft verbreitet zu werden - ob in Zustimmung oder durch ihren Provokationscharakter, ist dabei zweitrangig:

"Diese Propaganda gilt weniger der Verbreitung einer Ideologie (...) als dem, dass die Massen eingespannt werden. Die Propaganda ist also vorwiegend eine massenpsychologische Technik."

Auch wenn es immer wieder scheint, als würden einzelne Vertreter nun wieder ein Tabu gebrochen oder eine Grenze verschoben haben, auch wenn immer wieder Menschen feststellen, dass jetzt der wahre Charakter derer zum Vorschein kommt, die sich bürgerlich geben und letztlich faschistisch denken, schadet es ihrem Erfolg dann doch immer erstaunlich wenig:

"Es ist schon seit langer Zeit meine Überzeugung (...), dass es sich um eine relativ kleine Zahl immer wiederkehrender standardisierter (...) Tricks handelt, die ganz arm und dünn sind, die aber auf der anderen Seite durch ihre permanente Wiederholung ihrerseits einen gewissen propagandistischen Wert für diese Bewegungen gewinnen."

Diese "Tricks" gilt es zu durchschauen:

"Schließlich sollte man die Tricks, von denen ich gesprochen habe, dingfest machen, ihnen drastische Namen geben, sie genau beschreiben (...) und gewissermaßen versuchen, dadurch die Massen gegen diese Tricks zu impfen (...)."

Es wird vermutlich weitere Anschläge geben, es wird ganz sicher weitere Provokationen von Rechtsradikalen geben. Wir leben in einer Zeit, in der es nicht reicht, immer wieder spontan auf diese Vorfälle zu reagieren. Wir brauchen langfristige Strategien, wir brauchen gründliche Analysen statt Retweets von menschenverachtendem Müll.

Sonst wird es weiterhin so sein, dass Menschen die Namen von Attentätern kennen, die zu Helden werden wollten, aber nicht die Namen ihrer Opfer. Wenn die Opfer in Vergessenheit geraten, haben die Täter gewonnen.



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