Die Schule ist aus – und vorbei

 

Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.

Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel  gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben - so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, ökonomisiert.

Derzeit scheint alle gesellschaftliche Hoffnung am Phänomen Schule zu hängen. Sie muss in jedem Fall "offen" bleiben, damit Kinder nicht den Anschluss verlieren. Woran? An die Schule natürlich. An den Stoff, die nächste Prüfung, den Abschluss. Sie muss offen bleiben, damit Eltern zur Arbeit können oder ihre Kinder nicht quälen. Manchmal sogar, damit sie was zu essen haben. Medien verbreiten die Hiobsbotschaft: "Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro".

Schule erscheint als letztes Refugium eines Humanismus, der nicht wirklich einer war, wie dieses Diagnose-Feuerwerk zu beschreiben weiß:

Diejenigen Merkmale, die in der Zeit um 1900 nur eine schmale Oberschicht  kennzeichneten, charakterisieren heute grosse Bevölkerungsanteile  Europas (und Deutschlands ganz besonders ...): Mangel an Tatkraft,  geringer Glaube an sich selbst, Reflexionsüberhang,  Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Orientierungsverlust,  Vergnügungssucht, Überempfindlichkeit, Weichlichkeit bei latenter  Grausamkeit, Narzissmus, Haltlosigkeit, Depressivität und  Handlungslähmung, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Egozentrik, Mangel an  Gemeinsinn, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität,  Hypochondrie, Alkoholismus, Fress- und Magersucht, Historismus,  Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Manierismus,  Zitatverliebtheit an Stelle von Eigenschöpfung, Schein statt Sein,  Dezisionismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch  auftrumpfender Willenskraft. (Hermann Kurzke: Elend, Glanz und Komik  der Dekadenz. Tagesanzeiger 6.8.2005, S. 37).

Auf mich macht Schule den Eindruck einer ultimativen kulturellen  Projektionsleinwand. Eine Art Rettungsboot für alle. Das verleiht ihr in den hitzigen Debatten über sie den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An ihr herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn es sein muss. Aber sie selbst darf nicht zur Disposition stehen.

Schule ist vorbei

Doch diese Situation ist eingetreten. Schule als System ist zu Ende. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche und ökonomische Stabilität zu garantieren, und die dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt wurden. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von Kultur verloren hat und in wirklich jeder Hinsicht dysfunktional  geworden ist.

37 Sekunden Ausschnitt aus dem Trailer zum Film "School Circles"

Schule garantiert nicht mehr "gesellschaftlichen Fortbestand" und ermöglicht nicht mehr "kulturelle Teilhabe", weil sie sich in ihren Strukturen und Prozessen auf eine Kultur und auf eine Gesellschaft bezieht, die nicht mehr existieren. Auch auf die fundamentalen ökonomischen Herausforderungen bereitet sie in keiner Weise vor. Dennoch halten sich ganz viele Akteure (Lehrende, Eltern,  Bildungspolitiker:innen und auch Lernende) an der Idee fest, dass all die Probleme, die Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen seien. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt (zum x-ten Mal) braucht. Lehrende hoffen auf andere Schüler und Eltern, Eltern und Lernende auf andere Lehrer, und natürlich: digitale Infrastruktur muss her. Doch da liegt ein fundamentaler Irrtum.

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Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.

Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Kontrastmittel. Wir beklagen zwar vor allem fehlende digitale Infrastruktur und Kompetenz. Doch tiefer scheint ein anderes Problem zu liegen: Autoritäre Strukturen und Menschenbilder; ein großes Misstrauen und eine uralte Inkompetenz-Vermutung gegenüber Schüler:innen, die mit Adultismus mittlerweile auf den Begriff gebracht ist. Eine im Obrigkeitsdenken und im autoritären Menschenbild verwurzelte Überzeugung, dass der Mensch nur funktioniert, wenn er/sie direkt und ununterbrochen kontrolliert wird und vor allem: wenn er und sie sich lückenlos einpasst in das  System: "Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren." (Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150)

Nur ist es heute nicht mehr die Gesellschaft oder die Kultur, die sich mit Hilfe von Schule reproduziert. Schule reproduziert nur noch sich selbst.

Ein Beispiel: Der Einsatz heilpädagogischer Berufe und der Ruf nach ihnen nimmt stetig zu. Entsprechende Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen. Tatsächlich geht es aber um eine Illusion von "Reibungslosigkeit" nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe: Wer sich nicht von sich aus in das Belehrungssystem einpassen kann, wird hineinunterstützt. Maike Plath spricht metaphorisch von der Untertanenproduktionsmaschine, und auch Andreas Schleicher stellt fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit,  Ritalin und Nachhilfe werden als Überlebensstrategien des Schulsystems  eingesetzt. Es geht um die Rettung einer anachronistischen Vorstellung von Normalität.

Dieses Mindset bringt die Problematik mitsamt den Kindern, die "Probleme  machen", also womöglich erst hervor. Darauf verweisen z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug,  wie die Lerntherapeutin und Ex-Lehrerin Corinna Milinskiexemplarisch beschreibt und auffängt.

Wir sind an einem Punkt angekommen, wo – wenn überhaupt – nurmehr die  Kinder und Jugendlichen "unauffällig" (!) bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt.

Wir nehmen nicht wirkmächtige Zusammenhänge in den Blick, sondern operieren an den Folgen herum. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles mögliche getan haben, was Wirt- und Wählerschaft zuzumuten ist. Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit und Zustimmung. Dass es selbst Verursacher eines Problems ist (z.B. in dem es "lernschwache Schüler" hervorbringt), zu dessen Lösung es dann großzügig antritt (indem es dann lernschwache Schüler entsprechend beschult), diese erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.

Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt

Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen ja ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen. Sie (re-)produziert mit dem Benotungs- und Bewertungsunsinn den Leistungsdruck auf junge Menschen. Wo sie nicht selber aktiv diskriminiert, reicht Schule Diskrimierung durch bzw. verstärkt bestehende Formen.

Dabei ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Menschen niemals sind: lernschwach oder bildungsfern etwa. Wir verhalten uns: so oder anders. Auch und gerade Schüler:innen. Die Situation, in die Schule junge Menschen steckt, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich diese Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an den Kindern und an ihrem kulturellen bzw. familiären Hintergrund festgemacht wird, an den Medien und den Eltern, gedeihen ja vor allem in bestimmten schulischen Kontexten.

Wer (Cyber-)Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Kinder schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule als ein Kontext, in dem das passiert. Die Tatsache, dass sich Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht durchsetzt, hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich die Schule wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen  Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur  des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.

Ganz zu schweigen davon, dass auch Kinder und Jugendliche, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereitet werden, was die Gegenwart an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: "Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben." Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören,  Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung – oder eine andere Schule.

Schule als System kann schlicht und einfach nicht mehr die kulturelle Vielfalt und Heterogenität bewältigen, die sich in unseren Lebens- und Arbeitswelten heute abbildet. Dafür wurde sie nicht erfunden. Deshalb erfinden sich im Moment ja auch vielerorts ganz neue Konzepte von Lernen und Bildung.

Foto: Aus dem Video Ninnoc von Niki Padidar

Wir brauchen keine andere Schule sondern eine Alternative

Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die Bildung und Lernen auf viele kulturelle Schultern nehmen; nicht verteilen sondern in Angriff nehmen, selber in die Hand nehmen; die die Anliegen von Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu praktizieren. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es  nicht mehr anders geht – wie es zunehmend in Ländern geschieht, die keine Schulpflicht kennen. Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir für Kinder und Jugendliche völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen – und das passiert ja bereits, gegen den hartnäckigen Widerstand der staatlichen Bildungsmonopolist:innen.

Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist deshalb sinnlos, wie im Kontext der Pandemie gerade deutlich wird, denn die sind weder bereit noch fähig, sich auf innovative Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Bildungspolitiker und Hochschulen schon länger zu solchen Initiativen unternehmen, enden so, wie die Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, "dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann" – aus Gründen.

Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da rumschrauben und reformieren, digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Frontalunterricht, Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal digitalisiert? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Erkennbar daran, dass sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, indem sie pausenlos  mehr desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die Lösung ist.

Die großen Institutionen, die dem Umfang nach immer noch das ganze  Bühnenbild und den Szenenaufbau dessen beherrschen, was wir unsere  Gesellschaft zu nennen fortfahren, obwohl sie mehr und mehr in einer  Inszenierung aufgeht, die mit jedem Tag an Plausibilität verliert,  nachdem sie sich sogar der Mühe enthoben glaubt, das aufgeführte  Schauspiel zu erneuern, und ein ganzes gescheites Volk durch ihre  Mediokrität hinabzieht – die großen Institutionen also gleichen jenen  Sternen, deren Licht uns erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns  lehrt, seit langem schon erloschen sind. (Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, S. 62.)

Das neue Lernen ist in den Nischen

Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Expeditionen, Gespräche und  Recherchen vermute ich, dass vor allem jene Initiativen stark an  gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im alten Europa, wo Staaten wie Deutschland ihre  Bürger:innen mit einer rigorosen Schulplicht drangsalieren und ausschließlich traditionelle Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Fatal ist, dass wir alle im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus hängen, der jedoch zum Glück nicht verhindern kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen nach Schweizer Vorbild, die jährlich Zigtausende von Euro dafür kassieren, um junge Leute durch's Abitur zu bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.

Ich meine jene Initiativen, die selber ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten, als staatliche Schule. An dieser Stelle seien einige genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, aufgegriffen und weiterentwickelt in den Demokratischen Schulen, die School Circles in den Niederlanden bzw. ganz aktuell dort die Agora-Schulen, die Grundi in der Schweiz, und für mich besonders beeindruckend, weil sie gerade ein internationales Netzwerk aufbauen: die Learnlife-Comunity.

Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten  Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen  Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen. Das alte Europa, und darin ganz besonders Deutschland, ist kraft- und mutlos geworden. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung.

Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen das gute alte "panem et circenses" (Brot und Spiele) im neuen Gewand.

Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung unseres Schulsystems mit "menschlichem  Nachschub". Entweder wir gehen dieses Risiko ein und praktizieren Bildung und Lernen jetzt neu – die Alternativen sind ja weltweit bereits vorhanden, oder wir gehen vor die Hunde. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

Die Herausforderung, die es für die nächsten Generation bedeutet, aus dem heruntergewirtschafteten Ort, den wir ihnen hinterlassen, wieder einen Lebensraum zu machen, sind riesig. Und es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen erstens alles aus dem Weg zu räumen, was es ihnen erschwert, diese Zukunft zu gestalten und ihnen zweitens alle Unterstützung zu geben, die sie fordern, um das zu leisten.

Abschließen möchte ich mit (m)einer Zusammenfassung eines Interviews,  das Luisa Neubauer vor einigen Wochen dem Schweizer Tagesanzeiger gegeben hat, wobei ich ihre Worte zitiere. Für mich ist das ein wunderbarer 13-Punkt-Plan für den politischen, den kulturellen und den gesellschaftlichen Neuanfang; für eine neue Gesellschaft,

die Bildung und Lernen nicht mehr an ein totes System delegiert, sondern das selber in die Hand nimmt.
Foto: Hermann Bredehorst (Polaris, Laif). Quelle: Tagesanzeiger
  1. Hoffnung hat man nicht. Sie entsteht, wenn sich etwas bewegt. Im besten Fall ist man selbst daran beteiligt. Für mich entsteht Hoffnung aus Menschen, die sich organisieren.
  2. Bei der Überwindung der Klimakrise geht es auch darum, wie eine klimagerechte Welt, wie eine Welt, in der alle glücklich sein können, aussehen wird.
  3. Die Realitäten, mit denen wir uns befassen, sind da. Ob wir darüber sprechen oder nicht. Wir müssen auf die Heftigkeit, auf die Wucht, auf die Gewalt der realen Klimaveränderungen eine Antwort finden.
  4. Wir müssen dem eine Handlungsebene entgegenstellen, eine Ebene, auf der wir selbst aktiv werden können: Viele Möglichkeitsfenster aufstoßen. Solange ich mich mit den Lösungen beschäftigen kann, halte ich auch die krasse Realität aus. Und bleibe fröhlich!
  5. Wenn wir einer Sache gerecht werden wollen, dann braucht es ganz viele Menschen, die sich einer Sache gemeinsam anschließen.
  6. Menschen sind zu unglaublichen Unbequemlichkeiten bereit, wenn sie verstehen, warum es nötig ist.
  7. Es muss ein überparteiliches Selbstverständnis geben, dass jede Partei ein Programm benötigt, das es ermöglicht, die Versprechen des Pariser Abkommens zu erfüllen. (Stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn wir nicht nur ein Parteiprogramm hätten, das halbwegs klimakrisentauglich ist, sondern fünf! Dann hätten wir auf einmal einen Ideenpool, aus dem wir ganz anders schöpfen könnten.)
  8. Ich finde es richtig, zu überlegen, wie man Menschen noch einmal anders zu Wort kommen lassen kann. In anderen Ländern haben repräsentative Bürgerräte bereits erstaunlich radikale Lösungen vorgeschlagen.
  9. Wir haben kein Hauptquartier, keine juristisch verbindlichen Strukturen – wir sind, was wir tun.
  10. Gespräche drehen sich um die Frage, was alles geht, nicht um das, was nicht geht.
  11. ... von der Straße her die Parteien derart unter Druck zu setzen, dass sie tun, was nötig ist. Unsere Aufgabe ist es, an diesem System so lange herumzuschrauben, bis wir drei wesentliche Defizite behoben haben: das Emissions-, das Zeit- und das Gerechtigkeitsproblem unseres gesellschaftlichen Systems.
  12. Die Bedeutung von Erfahrungswissen und Zukunftswissen verschiebt sich. Die Lebensperspektive von jungen Leuten wird immer wichtiger, während das angesammelte Wissen und die Erfahrung der älteren Generation an Übermacht verliert.
  13. Wenn bereits drei junge Frauen sichtbar sind, dann kommen eher weitere dazu.

Quelle


Kindeswohl: Schule als Ort der Glückseligkeit

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): In Zeiten, in denen #Schulen i.d. Öffentlichkeit weitgehend zu einem Ort kindlicher+jugendlicher Glückseligkeit verklärt werden, möchte ich mit diesem Thread  daran erinnern, dass diese Vorstellung als "umstritten" gelten kann, gelinde gesagt. 1/15

https://www.prosoz.de/fileadmin/dokumente/service-downloads/Elefanten-Kindergesundheitsstudie_2012.pdf

https://twitter.com/Andrejnalin77/status/1355622232647741440/photo/1

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Die linke o.a. Grafik stammt aus "Über die Gefährdung des Kindeswohls durch die Schule. Ein unmögliches Essay zur Therapie einer krankmachenden Institution" des Erziehungswissenschaftlers+Sonderpädagogen Hans Wocken, das ich zur Lektüre empfehle. 2/15

https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/21/21

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Dort heißt es u.a.: "Schule ist eine pädagogische und eine gesellschaftliche Einrichtung; [...] Aber dieser Auftrag, auf das Leben vorzubereiten, wird von der heutigen Schule einseitig interpretiert als Vorbereitung auf eine neoliberale Konkurrenzgesellschaft." 3/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Das muss man nicht so sehen, aber es zeigt, dass es keineswegs einfach gegeben ist, dass Schule dem Kindeswohl per se förderlich ist. Und es gibt zahlreiche Befunde, die belegen, dass es zB für viele Mädchen/junge Frauen, Minderheiten und Behinderte überhaupt nicht so ist. 4/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): "Geschlecht, Migrationsstatus+Sozialstatus haben einen durchgängigen Einfluss auf die Prävalenzraten von psychosozialen Auffälligkeiten. Kinder mit Migrationsstatus zeigen mehr Auffälligkeiten. Der deutlichste Einfluss geht von dem Sozialstatus aus."

https://www.kiggs-studie.de/deutsch/studie.html 5/15 https://twitter.com/Andrejnalin77/status/1355622240088416262/photo/1

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Auch im angloamerikanischen Raum werden Schul-Traumata längst lang und breit diskutiert: Da es hier um Deutschland geht, verlinke ich nur einen Artikel, der sich speziell um Minderheiten dreht, das grundsätzliche Thema Bullying käme noch dazu. 6/15

https://www.tolerance.org/magazine/summer-2019/when-schools-cause-trauma

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Erinnern wir uns, wie voll Popkultur mit Inhalten ist, die Schule als Ort der Rebellion dagegen beschreiben, von Morrisseys "Belligerent ghouls", die die "Manchester schools" betreiben, über "Hurra, hurra, die Schule brennt" bis Bart Simpson. 7/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Wenn ich im #Corona-Kontext Meldungen wie diese lese, die v.a. anekdotische Behauptungen von Kinderärzten enthalten, und als altbekanntes und scheinbar offensichtlichtes Allheilmittel Schulöffnungen empfehlen, werde ich daher ziemlich skeptisch. 8/15

https://www.tagesschau.de/inland/kinder-corona-109.html

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Weil: Es könnte ja sein, dass die Kids schlicht in einer Albtraumwelt leben, die aus lernen, essen, schlafen besteht, kaum Freunde, keine Hobbys, kein Sport, keine Kultur, dafür Existenzängste, Gesundheitsängste usw. Social Media+Games erscheinen mir da noch als das Geilste. 9/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Zudem wird geflissentlich übergangen, dass nach wie vor je nach Bundesland ca. 1/3 der Grundschüler im Präsenzunterricht, in Hamburger Kitas gar 50% der Kinder anwesend sind. Man darf annehmen, dass es sich überproportional um Kinder handelt, deren Eltern... 10/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): ... jene "systemrelevanten" Jobs haben, die sich nicht im Home Office machen lassen - also genau die Klientel, um die man sich angeblich so sorgt. Natürlich kümmert es sonst im Sommer kaum wen, dass arme Familien nicht verreisen können und Kinder vernachlässigt rumhängen. 11/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Zweitens erscheint es mir im Lichte jahrzentealter Pisa- und Inklusions-Debatten nicht besonders glaubwürdig, wenn eine diskursprägende akademische Mittel- und Oberschicht ausgerechnet in der Pandemie auf einmal "Bildungsgerechtigkeit" als Herzensthema entdeckt. 12/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Wem es wirklich um Kinder+Jugendliche, ihre Verletzungen+Traumata während dieser ganzen Scheiße hier geht, kann sich deshalb nicht im Ruf nach offenen Schulen erschöpfen. Diese Eindimensionalität existiert nur i.d. Vorstellung von Schulsenatoren+Kultusministern. 13/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Zumal wenn diese auch noch kund tun, i.d. Schule sei alles super, aber das Privatleben sei das Problem. Nein, das Problem ist, dass Kindheit+Jugend i.d. pandemischen Gesellschaft (er-)lebbar sein müssen. Dass volle Schulklassen dafür notwendig sind, ist nicht erwiesen. 14/15

Andrej Reisin (@Andrejnalin77): Meine Frage ans Publikum lautet daher: Welche Studien gibt es, die die #Corona- und #Lockdown-Auswirkungen auf Kinder+Jugendliche in Deutschland fundiert untersuchen? Und sich dabei genau um die o.a. Indikatoren kümmern? 15/15 @PatrickGensing @DieVilla4 @elvira_rosert @ciffi


Die wichtigsten Fragen zum Gamestop-Chaos an den Börsen, erklärt von einer Kuh

Gezielte Absprachen von Kleinanlegern treiben derzeit die Aktienkurse angeschlagener Unternehmen wie GameStop in die Höhe und Hedgefonds in den Ruin. Weil die Postillon-Redaktion bei derart komplexen Themen selbst nicht wirklich durchblickt, haben wir uns externe Hilfe geholt. Hier sind die wichtigsten Fragen und Antworten zum GameStop-Chaos an den Börsen, erklärt von einer Kuh:


Was ist GameStop?
Muuuuuuh!

Was geschah im Reddit Wallstreetbets?

Mmmmmmmu!

Wer ist von den steigenden GameStop-Aktien betroffen?

*Schmatzgeräusch*

Was sind Leerverkäufe?

Muuuh!

Was sind Hedgefonds?

*Pflatsch*

Was treibt die Kleinanleger an?

Muh!

Warum haben die Tradingplattformen RobinHood und TradeRepublic den Kauf bestimmter Aktien untersagt?

Muuuuh!

Wie haben die User darauf reagiert?

Muuuuuuuuuuuuuuuh!

Sollte das nicht eigentlich die "freie Hand des Marktes" regeln?

Mmmuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh!

Was sagen die Börsenaufsicht und Wirtschaftspolitiker zu dem Vorfall?

Muuuuh! Muuuuuh!

Wie ist die Lage aus juristischer Sicht?

Muuuuuuh!

Wie reagieren die Hedgefonds?

*Schnaubgeräusch*

Aber haben die Hedgefonds nicht vorher auch ständig den Markt manipuliert?

Mmmmmmmmuuuu!

Können Kleinanleger inzwischen wieder mit GameStop-Aktien handeln?

Muuuh!

Sollte ich auch in GameStop-Aktien investieren?

*Schmatzgeräusch*

Besteht durch den GameStop-Vorfall die Gefahr eines Dominoeffekts?

Muuuuh!

Ist das kapitalistische System an sich ein Problem?

*PflatschPflatschPflatsch*

Gäbe es derartige Probleme überhaupt, wenn man aus der Finanzkrise 2008 die richtigen Konsequenzen wie etwa einen Verbot von Leerverkäufen, eine Finanztransaktionssteuer oder die Zerschlagung von Hedgefonds gezogen hätte?

Muuuuuuh!

Wie wird sich der Börsenkurs von GameStop weiter entwickeln?

Bauer, mit Mistgabel wedelnd: "Heee! Sie da! Was haben Sie auf meiner Weide zu suchen? Weg hier, aber zackig! Ich glaub, es hackt! Und wehe, Sie schicken keine Abschrift des Interviews zur Freigabe!"

tla, ssi, dan; Fotos: Shutterstock

https://www.der-postillon.com/2021/01/FAKuh.html



Wissenschaft und faule Kompromisse und Neutralität und Daten

Mela Eckenfels (@Felicea): Ich wollte noch etwas zu Neutralität schreiben, da der Begriff meinem Empfinden nach derzeit mal wieder massiv mißverstanden oder gezielt mißbraucht wird. 

Allgemein, im Bezug auf Wissenschaft und im Bezug auf das Wissenschaftsverständnis von Hendrik Streeck.

Mela Eckenfels (@Felicea): Denn seine Position wird anscheinend sehr oft als die neutrale Position empfunden, während Positionen wie die von Viola Priesemann als 'extrem' empfunden werden. Meinem Eindruck nach, ist das auch, wie Streeck sich selbst zu verkaufen versucht.

Mela Eckenfels (@Felicea): Als neutrale, wissenschaftliche Instanz. Allerdings ist er anything but.

Erst mal vielleicht die weniger wissenschafts-theoretischen Aspekte von "Neutralität": 

Wir haben unsere Gesellschaft unsere Kultur eingerichtet, dass wir Extreme verachten und Kompromisse schätzen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Besonders in der Politik. Statt Heiß und Kalt ziehen wir das Lauwarme vor. Der Unsicherheit ziehen wir die Balance, die Stabilität vor. 

Das ist nicht prinzipiell schlecht.

Es ist auch nicht prinzipiell gut. 

Aber in der Legende der westlichen Kulturen wird exakt das behauptet.

Mela Eckenfels (@Felicea): Ausgleich und Kompromisse über alles. Die Mitte ist immer gut. Extreme sind immer schlecht. Kompromisse sind das Ziel. 

Das bedeutet aber auch: Stasis, selbst wenn rasches und konsequentes Handeln notwendig wäre.

Kompromisse, selbst, wenn diese für alle Beteiligten schlecht sind.

Mela Eckenfels (@Felicea): "Mitte", Ausgewogenheit, Kompromisse sind als Selbstzweck von dem eigentlichen Ziel, eine sichere, zuverlässige und gerechte Kultur zu schaffen, die Blüte, Wachstum und Zufriedenheit ermöglicht, völlig entkoppelt. Sie werden zur Gefahr der Kultur, die sie schaffen sollen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Auch politisch müsste abgewogen werden, wann Kompromisse der beste Weg sind, wann Ausgewogenheit angestrebt werden muss und wann beides nicht sein darf.

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber "Kompromisse" sind derartig zum Mantra der Politik geworden, dass Politiker gar nicht mehr außerhalb dieses Musters denken können. 

Das hat sich über die Jahrzehnte so extrem verstärkt, dass die heutige Politik absolut unfähig ist, sich den Problemen der Zukunft zu stellen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Kompromisse um jeden Preis, statt zu versuchen, den besten Weg für die Gesellschaft zu finden, mit einem Problem umzugehen, waren führten u.a. auch zur Piratenpartei, die zumindest zeitweise versuchte, Politik wieder sach- und evidenzbasiert zu gestalten.

Mela Eckenfels (@Felicea): Jedenfalls führt dieses Dogma dazu, dass Ansätze mit der Pandemie umzugehen, die alles andere als neutral sind, weil sie sich nämlich weder um die Evidenz scheren, noch darum, was wirklich das beste Ergebnis für alle wäre, als neutral wahrgenommen werden.

Mela Eckenfels (@Felicea): Und Ansätze zu vertreten, die auf der Evidenz basieren, die wir haben und die wir aus Erfahrungen früherer Pandemien ziehen, die ein konsequentes Vorgehen verlangen, wird als extrem wahrgenommen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Dabei sind sie es, die quasi am "neutralsten" enstanden sind, weil sie nicht willkürlich Erkenntnisse ignorieren. 

Manchmal ist konsequentes Handeln nötig, aber der Politik und auch der Gesellschaft ist durch das Kompromiss-Mantra das Gefühl verloren gegangen, wann.

Mela Eckenfels (@Felicea): Niemand würde den Feuerwehrmeister, der einen brennenden Bahnhof löscht, bis keine sichtbaren Flammen mehr zu sehen sind und ihn dann sofort freigibt, damit der Verkehr nicht zu lange behindert wird, als "neutral handelnd" empfinden.

Mela Eckenfels (@Felicea): Genau dieses Vorgehen wird aber in der Pandemie als "neutrale Position" gehandelt. 

Löschen, bis die Fallzahlen sinken, freigeben. Huch sagen, löschen, bis die Fallzahlen sinken, freigeben. 

Das ist nicht neutral. Das ist eine Katastrophe mit Ansage.

Mela Eckenfels (@Felicea): Was wir auch und gerade wissenschaftlich als "Neutralität" sehen, ist ebenfalls genau das nicht. 

Sehr lange Zeit war das, was man wissenschaftlich als neutral empfand, das, was _normal_ war.

Mela Eckenfels (@Felicea): Und das bedeutet eben: der Zustand der westlichen Kulturen und ihrer Abbildung in akademischen Welt.

So galt der Gedanke, dass alle Menschen gleich sind, durchaus als radikal. Kürzlich postete jemand etwas über eine historische wissenschaftliche Debatte, ob Frauen Menschen seien.

Mela Eckenfels (@Felicea): (Habs leider gerade nicht wiedergefunden,  Link gerne in die Kommentare.)

Was wissenschaftlich als Neutralität empfunden wird, ist ebenso abhängig von der Kultur, in der wir leben und ihren Veränderungen, wie alles andere das wir als "naturgegeben" empfinden.

Mela Eckenfels (@Felicea): Irgendwann kam man dann auch auf den Trichter, dass Emotionen, Empathie nicht neutral sind, deswegen muss Wissenschaft möglichst emotionsfrei sein. 

Aber: kann etwas neutral sein, das einen wichtigen Teil der menschlichen Erfahrung ausgrenzt, ablehnt und abwertet?

Mela Eckenfels (@Felicea): Dann wurden Daten als neutral gesehen und, in einer gewissen Weise sind sie das auch. Allerdings sind weder die Fragen, auf deren Basis die Daten erhoben werden neutral noch kann die Auswertung der Daten je neutral sein.

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber, kulturell sehen wir sie immer noch als Goldstandard der neutralen Wissenschaft. (Und dem würde ich nicht mal widersprechen wollen. Wenn gewisse Grenzen eingehalten werden, hohe Standards gesetzt und kontrolliert werden und man sich immer wieder hinterfragt.)

Mela Eckenfels (@Felicea): Nur genau da ist der Knackpunkt und genau da sieht man in der Wissenschaft oft noch Nachholbedarf. 

Kann ich natürlich hingehen und den IQ von weißen Menschen und schwarzen Menschen messen und vergleichen. Aber die dabei gewonnenen Daten sind nicht neutral.

Mela Eckenfels (@Felicea): Die Grundannahme, dass es einen Unterschied geben könnte ist nicht neutral. Auch der Versuch des Beweises, das kein Unterschied vorliegt, ist nicht neutral. 

Das eine versucht destruktiv-wissenschaftlich die Dominanz der weißen Rasse zu begründen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Das Zweite versucht dem Ersten mit den Methoden der Wissenschaft aufs Maul zu geben. 

Die gesamte Idee, dass der Phänotyp einen Unterschied bei der akademischen Leistungsfähigkeit innerhalb der Spezies Homo Sapiens Sapiens macht, ist nicht neutral.

Mela Eckenfels (@Felicea): Ebenso ist das Lieblingsthema eines Teils der "rational Denken"-Subgruppe, die Frage, ob Menschen mit Behinderungen ein Lebensrecht haben und falls ja, ab wann, niemals neutral.

Mela Eckenfels (@Felicea): Sehr gut erkennt man Scheinneutralität daran, wenn man sich ansieht, welche Art der Wissenschaft auf einmal nicht mehr neutral wäre. 

Eine Diskussion über das Lebensrecht von Männern, würde kaum von irgendjemandem als neutral empfunden werden.

Mela Eckenfels (@Felicea): Dennoch haben wir, auch durch die massiven wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gelernt, auf Daten zu vertrauen und Daten für etwas Zuverlässiges, Richtungweisendes zu halten.

Mela Eckenfels (@Felicea): Und das lässt uns, denke ich, oft übersehen, dass Daten nicht immer sinnvoll sind.

In der IT gibt es die Aussage: wer mißt mißt Mist. 

Damit wird das Problem geschrieben, dass uns Computer eigentlich über jeden Aspekt ihrer Arbeit Auskunft geben können.

Mela Eckenfels (@Felicea): Man kann die Prozessorlast protokollieren, Speicherverbrauch, Auslastung einzelner Interfaces, Lüfterdrehzahl, Temperatur. Aber auch die Interaktion mit der Außenwelt. Benutzerverhalten, Suchbegriffe, Ort des Zugriffs.

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber wenn man nicht im Vorfeld weiß, was man mit den Daten tun möchte, sind sie wertlos. (Been there. Done that.)

Man braucht erst eine Vorstellung davon, was man wissen will. Dann eine Vorstellung, welche Daten helfen, das Wissen zu erlangen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Dann eine Vorstellung davon, wie man diese Daten auswerten will und wiederum eine Vorstellung davon, wie und mit welchen statistischen Mitteln, man das Ergebnis interpretiert. 

Das sind ziemlich viele Schritte, um das Endergebnis zu versauen. ;)

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber was ich eigentlich sagen will: Mehr Daten helfen nicht, mehr zu verstehen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Genau dieser Punkt macht die Idee, doch mal zwei Schulen in Bezug auf die Beteiligung am Infektionsgeschehen zu erforschen, so ärgerlich.

Wir brauchen diese Daten nicht.

Mela Eckenfels (@Felicea): Wir haben grundlegendes ärztliches Wissen: Kinder sind bei Atemwegsinfektionskrankheiten immer auch Überträger. 

Das eine geringe Beteiligung von Kindern und Schulen am Infektionsgeschehen überhaupt angenommen werden konnte, lag daran, dass Schulen früh geschlossen wurden.

Mela Eckenfels (@Felicea): Sie fielen als Infektionsvektoren temporär aus. Das ist etwas anderes, als "sie sind kein Faktor". Dennoch wird diese (teils ideologische) Fehlinterpretation weiterhin als 'neutrale Evidenz' gewertet.

Mela Eckenfels (@Felicea): Wir haben Daten von Schulausbrüchen. Wir haben Daten der Krankenstände von Erziehern und Lehrern. Wir haben den Vergleich zwischen Phasen der Schulöffnung und Phasen der Schulschließungen. Wir haben Daten aus dem Ausland.

Mela Eckenfels (@Felicea): Alle zusammen sagen: Ja, Schulen sind Pandemietreiber. 

Eine Studie, wie exakt Schulen nun Pandemietreiber sind, würde keinen signifikanten Wissensgewinn bringen, bei hohen Risiken für die Schüler und Lehrer. 

Demnach kann diese Forderung auch nicht neutral sein.

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber die Schein-Neutralität soll helfen, das Dogma des Ausgleichs, des Kompromisses zu stützen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Den Glauben, dass man mit nur genug Daten, die Pandemie so feinkörnig beherrschen kann, um genau das richtige Maß an Öffnung und Eindämmung zu finden, mit dem man durch den Rest der Pandemie kommt.

Mela Eckenfels (@Felicea): Die Pandemie als beherrschbare Naturgewalt, mit der man eben doch einen Kompromiss finden kann. Zwischen akzeptablen Verlusten und dabei maximaler Freiheit.

Mela Eckenfels (@Felicea): Dass die so gewonnenen Daten auch noch nur für den Teilbereich der Pandemie aussagekräftig wären und vermutlich nicht mal für zukünftige Pandemien nutzbar, weil andere Bedingungen das gleiche feinkörnige Management unmöglich machen würden ... es wird ignoriert.

Mela Eckenfels (@Felicea): Sobald die Mutanten ins Spiel kommen, wäre die Strategie spätestens hinfällig. Mit jeder neuen Mutation würde man sich weiter vom Nutzen der erhobenen Daten entfernen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Zu forschen, Daten zu erheben, nur weil man kann, war noch nie eine wirklich gute Idee. Grenzenlose Wissenschaft führt nicht zu besserer Wissenschaft, nur zu mehr nutzlosen Daten.

Mela Eckenfels (@Felicea): Das Nazi-Deutschland, trotz intensiver "Forschung" in einigen Bereichen nicht zum leuchtenden Stern der Wissenschaft wurde - mal vielleicht abgesehen von der Raketentechnologie - hängt auch damit zusammen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Menschen, die ohne Ziel und Verstand forschen, weil sie können, ohne Rücksicht auf Verluste und mit einem hohen Maß an Grausamkeit ... 

Die einzig wirklich solide Erkenntnis, die dabei entstanden ist, ist die, zu was Menschen fähig sind.

(Eugen Kogon hat darüber ein Buch geschrieben. ms.)

Mela Eckenfels (@Felicea): Aber zurück in die Gegenwart. 

Auch der Spin, dass die aktuelle Situation auf den Intensivstationen ein eigentlich positiver "Stresstest" sei, aus dem man viel lernen könne, zeigt ein fragwürdiges, nicht neutrales Verständnis von Wissenschaft.

Mela Eckenfels (@Felicea): Der aktuelle "Stresstest" kostet täglich Menschen das Leben. Er verbrennt das Personal. Er lässt keinen Raum für die Dokumentation oder Reflexion, um anschließend wirklich hilfreiche Lehren ziehen zu können.

Mela Eckenfels (@Felicea): Er führt zu einem Brain-Drain, einem Abfließen von Personal und Know How, die selbst die wenigen gewonnenen Erkenntnisse versickern lassen dürfte, weil nicht genug Leute da sind, sie umzusetzen.

Mela Eckenfels (@Felicea): Um den langen Thread langsam abzuschließen: 

Es wäre gut, genau hinzuschauen, wenn etwas als neutrale Position verkauft werden soll, ob sie das auch wirklich ist. 

Das beste Mittel dagegen, Ideologie als Wissenschaft zu verkaufen, ist ständige Selbstreflexion.

Mela Eckenfels (@Felicea): Das bedingt einen offenen Umgang mit den eigenen Vorurteilen, den eigenen Überzeugungen.

Strahlt die Persona eines Wissenschaftlers nur "Neutralität" aus und lässt den offenen Umgang mit den eigenen Biases vermissen, ist die Person meist exakt nicht neutral.

Mela Eckenfels (@Felicea): Sondern es handelt sich dann um eine Scheinneutralität, die lediglich andere Positionen, die in Wirklichkeit neutraler, weil näher an der Evidenz sind, als 'hysterisch' oder 'unsachlich' framed.

Mela Eckenfels (@Felicea): Der Ruf nach mehr Daten, wenn tatsächlich bereits genug Daten vorliegen, um einen Aspekt eines Problems zu verstehen, ist nicht neutral. Der Wissensgewinn wäre nur ein Anschein. Tatsächlich handelt es sich um eine Verzögerungstaktik.

Mela Eckenfels (@Felicea): Beispiele dafür findet man, nicht nur in der derzeitigen Situation, sondern z.B. auch beim Klimawandel beschrieben.

Aber auch hier wird scheinbar sachlich argumentiert. Die Forderung nach mehr Daten klingt besser als "ich will das so nicht", aber eigentlich ist genau das damit gemeint.

Mela Eckenfels (@Felicea): Und als Schlußwort:

Wissenschaft wird besser, wenn sie sich selbst beschränkt. 

Grenzenlose Wissenschaft führt nicht zu grenzenlosem Wissensgewinn, sondern zu grenzenlosen Schrott-Daten.